An der Grenze: Claudia Roth und Winfried Nachtwei in Diyarbakir und Sirnak

Von: Webmaster amMo, 29 November 2004 15:06:38 +02:00
Als im Oktober in einer Sendung des ZDF behauptet wurde, dass Schützenpanzer aus den Beständen der NVA in der Provinz Sirnak gegen die kurdische Bevölkerung eingesetzt würden, alarmierte das auch die Bundestagsfraktion. Wir wollten uns deshalb im Rahmen der Delegationsreise auch ein Bild von der aktuellen Lage in den kurdischen Gebieten machen. Claudia Roth und ich reisten nach Diyarbakir und Sirnak und sprachen dort mit Provinzgouverneuren, Bürgermeistern, Rechtsanwälten und Journalisten.

Seit Juni ist es wohl zu mehreren Anschlägen gekommen und die Präsenz von Gendarmerie und Militär auf den Straßen wurde verstärkt. Keiner unserer Gesprächspartner konnte aber die Behauptung der ZDF-Reportage bestätigen, niemand hatte von einem Einsatz gegen Kurden gehört. Vermutet wurde, dass mit dem Bericht gezielt Stimmung gegen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen gemacht werden sollte. Wir sprachen natürlich nicht nur über Panzer, sondern vor allem über die Lage der kurdischen Bevölkerung im Allgemeinen und die Menschenrechtssituation im Besonderen. Alle Gesprächspartner machten deutlich, dass zwar große Fortschritte erkennbar seien, aber die konkrete Umsetzung zum Teil noch auf sich warten lasse. Notwendig sei zudem ein Mentalitätswechsel bei Polizei und Militär, der noch seine Zeit brauche. Die Rückkehr der Vertriebenen in ihre Dörfer steht weiterhin aus, da ihre Sicherheit nicht gewährleistet werden kann. Zudem besteht das Problem der ausstehenden Entschädigungszahlungen und wie mit den so genannten Dorfwächtern umgegangen werden soll, die heute in den Häusern der Vertriebenen leben. Die prekäre wirtschaftliche Lage im Südosten der Türkei und das niedrige Bildungsniveau machen die Lösung dieser Probleme nicht eben leichter. Neben solch eher materiellen Herausforderungen sollte aber ein besonders wichtiger Punkt nicht übersehen werden: Das gesellschaftliche Klima in dieser Region ist immer noch von Angst und Unsicherheit geprägt. Es wird große Anstrengungen erfordern, die Wunden im kollektiven Gedächtnis der kurdischen Bevölkerung zu heilen und eine Aussöhnung mit dem türkischen Staat zu erreichen. Und umgekehrt steht ebenso die Aussöhnung des Staates mit seiner kurdischen Bevölkerung ganz oben auf der Tagesordnung und somit die Anerkennung von Differenz in der türkischen Gesellschaft. Beeindruckend war auch unsere Fahrt an die irakische Grenze. Lange LKW-Staus zeigen den sich wieder belebenden Warenaustausch mit dem Irak, die Gespräche mit den LKW-Fahrern aber sind ernüchternd. Zwar ist die Lage im kurdisch kontrollierten Nordirak relativ sicher, die Fahrer haben aber große Angst, wenn sie in den Rest des Landes müssen. Viele ihrer Kollegen sind dort schon überfallen und ermordet worden. Die meisten Fahrer wissen nicht, wohin ihr Auftrag sie führen wird. Erst hinter der irakischen Grenze werden die Lieferungsrouten aufgeteilt und die Fahrer eingewiesen. Nur für Fahrten nach Bagdad erhalten sie eine Sondervergütung, nicht aber für die restlichen gefährlichen Gebiete im Irak. Aber die wirtschaftliche Not lässt ihnen keine Wahl: Um ihre Familie zu versorgen, müssen sie auch diese gefährlichen Touren auf sich nehmen und verdienen dabei gerade einmal umgerechnet 300 €. in: profil:GRÜN, 12/2004