1993: Aufbrechende Erinnerung 50 Jahre nach Auflösung des Rigaer Ghettos (Reiseberichte)

Von: Nachtwei amDo, 27 Juni 2013 16:16:39 +01:00

Erste Gruppen-Erinnerungsreise nach Riga, erste Kranzniederlegung für Verschleppte, erstes Welttreffen der lettischen Juden, erste politische Initiative für die Holocaust-Überlebenden im Baltikum - 1993 kam einiges in Bewegung.



Vor zwanzig Jahren:

Erste Erinnerungsreise nach Riga, Beginn der

Solidarität mit Holocaust-Überlebenden im Baltikum

Reisenotizen und Bericht von W. Nachtwei (1993)

 

Im Frühjahr 1993 führte eine erste Gruppen-Erinnerungsreise mit Teilnehmern aus Westfalen und Niedersachsen zu den Stätten des NS-Terrors nach Riga.

Am 29. März 1993 berichtete das NDR-Fernsehmagazin „Panorama", dass 138 kriegsversehrte ehemalige Angehörige der lettischen Waffen-SS aus der Bundesrepublik eine Kriegsversehrtenrente bekamen - und ehemalige Ghetto- und KZ-Häftlinge demgegenüber keinen Pfennig „Entschädigung". Der TV-Bericht veranlasste BürgerInnen in Hamburg, Göttingen, Münster, Freiburg, Berlin und Leipzig, in ihrem Umfeld Spendensammlungen für eine „überbrückende Soforthilfe" zu organisieren.

Im Juni 1993 nahm ich am 1. Welttreffen der lettischen Juden in Riga teil.

Am 2. November 1993, dem 50. Jahrestag der Auflösung des Rigaer Ghettos, wurde der von der Journalistin Marianna Butenschön und mir initiierte Aufruf „Verfolgt, vergessen, gedemütigt: Holocaust-Überlebende im Baltikum" veröffentlicht. Bundesregierung und Bundestag wurden aufgefordert, „schnellstmöglich für Entschädigungsleistungen an die ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlinge in Estland, Lettland und Litauen zu sorgen (...)". Erstunterzeichner waren Ignatz Bubis, Michael Degen, Hans-Joachim Friedrichs, Ralph Giordano, Eberhard Jäckeln, Gabriel Laub, Siegfried Lenz, Jobst Plog, Lea Rosh, Friedrich Schorlemmer, Antje Vollmer. Den Aufruf unterschrieben dann Vereine von Ghetto-Überlebenden, zehn Oberbürgermeister, 26 Ratsfraktionen und über 1000 BürgerInnen aus Städten, von denen aus 1941/42 jüdische Menschen nach Riga deportiert worden waren.

 

Erste Gruppen-Erinnerungsreise nach Riga 28.3.- 4.4.1993

Mittwoch, 31.3.:

(...) Da gestern das Mahnmal an er Gogolstr. Z.T. unter Wasser stand und halb von Steinen übersät, insgesamt wenig begehbar war, haben wir uns entschlossen, selbst Hand anzulegen mit der AG Reinemachen.

Auf unserer 6. Etage im Hotel erhalten wir Eimer und Besen und fahren mit dem Bus vor zur Gogolstr.  Dort sind schon zwei Männer beim Aufräumen. Unsere Hilfe ist aber sehr willkommen.

Ich schreibe noch zwischen Tür und Angel den Rest meiner kleinen Rede fertig. Das Wissen um die Erstmaligkeit der kommenden Zeremonie beschleicht mich.

Vielleicht 25 Leute sind wir zwischen den Fundamenten der alten Synagoge, Vertreter der jüdischen Gemeinde, der ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlinge, eine Diena-Journalistin, niemand von ARD und Botschaft.

Meine kurze Rede:

„Wir sind 15 Bürgerinnen und Bürger aus der Bundesrepublik, aus Niedersachsen, Westfalen, Berlin. Wir sind in Riga auf Erinnerungsreise: nicht zu den Orten unserer Kindheit oder Kriegsjahre, sondern auf den Spuren unserer früheren Nachbarn - jüdischer Menschen, die 1941/42 von der Gestapo und funktionierenden Beamten und unter den wegsehenden Augen ihrer nichtjüdischen Nachbarn in das Ghetto Riga verschleppt wurden. (Die bisherigen Stationen der Reise) Warum? Es ist doch 50 Jahre her! Über Jahrzehnte war in Deutschland vergessen, was unter nationalsozialistischer Herrschaft in Lettland geschehen war. Unbekannt war, dass hier und in Minsk der Holocaust an den deutschen Juden seinen Anfang nahm. Unbekannt war der „Rigaer Blutsonntag".

Die Ermordeten zu vergessen, heißt, sie ein zweites Mal zu töten.

Vergessen und einseitige Erinnerung sind zugleich gefährlich. Die Wiederholung vergangener Verbrechen wird möglich.

Wir legen hier Blumen und Kränze nieder nicht nur als Privatmenschen. Wir sind zugleich Bürger-Botschafter für acht deutsche Städte, aus denen tausende Menschen nach Riga deportiert worden sind.

Als Zeichen gegen das Vergessen und die Gleichgültigkeit, gegen das Umschminken der deutschen Besatzungszeit, gegen Gruppenhass und Nationalismus, für ein Europa, in dem die Menschenrechte an erster Stelle stehen."

Wir legen Kränze und Gebinde für Fürstenau, Lingen, Lengerich, Münster, Hannover, Rheine, Warendorf und Berlin nieder. Dabei werden Gedenkworte gesprochen, z.T. die Verschollenen, Ermordeten mit Namen genannt. Mir versagt dabei die Stimme; viele haben Tränen in den Augen; alle sind aufgewühlt. Zum Abschluss spricht Margers Vestermanis.

Anschließend treffen wir im Jüdischen Zentrum in der Skolas iela (erstmalig) mit Vertretern der Vereinigung der ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlinge zusammen: mit Rafail Barkan, stellv. Vorsitzender, Dr. Eva Water, Dr. Alexander Bergmann, Esfira Rapina, eine der beiden Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde

 

Tageszeitung „Diena"/Riga am 1. April 1993, S. 8

Deutsche erinnern sich und gedenken der umgekommenen Juden

von Linda Jagodkina

 

Schon einige Tage hält sich in Riga eine deutsche Touristengruppe auf, deren Reiseziel es ist, den Stellen nachzuspüren und zu besuchen, die mit der massenhaften Ermordung er Juden in Zusammenhang stehen. Wie heute bei einem Gedenken beim Denkmal an er Gogolstr. Ein Vorsteher dieser Gruppe sagte - er ist Politiker und Historiker aus Münster, Winfried Nachtwei -, sie möchten dadurch, dass sie die Spuren der umgekommenen Juden suchen, beweisen, dass - obwohl schon mehr als 50 Jahre vergangen sind - die Erinnerung an die Vernichtung der Juden nicht schwindet. ER unterstrich dabei, dass die Geschichte nicht vergessen werden darf und dass man mit aller Kraft dafür kämpfen müsse, dass die Gleichgültigkeit bei en Menschen nicht Oberhand nehme.

Diese Gruppe von 16 Deutschen, die aus Personen verschiedener Berufe bestehen (Historiker, Lehrer, Journalisten) kommen aus den Städten, aus denen Ende 1941/Anfang 1942 große Massen an Juden nach Riga deportiert wurden.

Die Vertreter jeder Stadt legten Kränze nieder und sprachen Gedächtnisworte.

Es ist vorgesehen, dass sie sich nach dem Besuch der Vernichtungsorte mit den Juden Lettlands treffen, die die grausamen Tage jener Jahre überlebt haben. Die Gäste haben schon Salaspils, Bikernieki und Rumbula besucht. Morgen werden sie sich nach Kaiserwald begeben.

 

Begegnung mit Serafina Parasa, 72 Jahre, die Marianne K. zufällig im Jüdischen Zentrum kennengelernt hatte. Mit ihrer Tochter war sie 1941 im Ghetto, wurde aber von ihrem Mann herausgeholt. Untergetaucht lebte sie in ihrer alten Wohnung. Ihr nichtjüdischer Vater war mit der Mutter zusammen ins Ghetto gegangen. Sie wurde in Rumbula umgebracht. Ihr Vater war voller Gram, wurde zweieinhalb Jahre später umgebracht. Schließlich musste sie die Wohnung verlassen und fand Unterschlupf in einer Scheune. Diese wurde einen Tag nach Verlassen von einer Bombe getroffen. Ihre Retter leben in Münster.

In hohen Tönen spricht sie von ihrem Mann, der wie sie Röntgenarzt war. In den letzten Jahren erkrankte er immer schlimmer an Alzheimer. Zuletzt war sie so erschöpft, dass sie bneben seinem Bett zusammenbrach und sich einen Unterschenkel brach. Auf einer Bahre neben seinem Sarg wurde sie nach Riga transportiert.

Nach Aussage ihrer Tochter, einer Musiklehrerin, war sie monatelang völlig zurückgezogen - bis sie uns getroffen hat. Immer wieder bricht aus ihr das absolute Glücksgefühl hervor - in ihrer allseits deprimierenden Lage sind wir ihr wie eine plötzlich erscheinende Sonne, von Gott geschickt, wie sie tatsächlich meint.

Fassungslos berichtet sie von der momentanen Zerrüttung: Als jahrelang tätige Ärztin bekommen sie genauso 3000 Rubel als Rente wie eine Familie, die nichts geleistet habe. 6500 Rubel betrage die Miete dieser Wohnung, 40 Rubel koste ein Brief oder eine Busfahrt. Alle Ersparnisse seien weg. Seit 1989 hätten sich die Preise verhundertfacht, die Löhne nur verzehnfacht. Besonders schmerzhaft und deprimierend sei für sie der Aufstieg der Skrupellosen, der Gewinnler.

Völlig unbegreiflich ist ihr, warum sich Nichtjuden mit dem Schicksal der hiesigen Juden beschäftigen. Für sie ist es jedenfalls ein unfaßbares Wunder, wie eine Erlösung aus tiefster Finsternis.

 

„Ein Häufchen Geretteter in einem Meer von Blut"

Bericht vom 1. Welttreffen der lettischen Juden in Riga (10.-17. Juni 1993)

von Winni Nachtwei/Münster (1993)

 

In den ersten Julitagen des Jahres 1941 besetzte die deutsche Wehrmacht Lettland. Damit begann  ein beispielloses Morden, dem fast die gesamte jüdische Bevölkerung Lettlands zum Opfer fiel. 1939 lebten in dem baltischen Staat 93.000 Juden. Innerhalb weniger Monate ermordeten das deutsche „Einsatzkommando A" und seine einheimischen Helfer 75.000 Menschen. In stalinistischen Lagern starben darüberhinaus 2000 lettische Juden (in Folge der Massendeportation vom 14.. Juni 1941), auf Seiten der Roten Armee im Krieg ca. 300. 52 Jahre danach kamen 260 Überlebende aus den USA, aus Israel, Kanada, Schweden, Australien, Deutschland zum ersten Welttreffen der lettischen Juden vom 10. bis 14. Juni  in Riga zusammen. Veranstalter waren die „Jewish Survivors of Latvia"/New York, die Jüdische Gemeinde Riga und der Verein der ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettlands. Auf Einladung der beiden Rigaer Vereinigungen nahm ich als einziger nichtjüdischer Deutscher an dem Treffen teil, wozu mich meine vorgesetzte Schulbehörde dankenswerterweise beurlaubte.

Ziel des Treffens war, Wiedersehen und Begegnung mit der alten Heimat, mit Leidensgefährten, mit den Gräbern der Angehörigen zu ermöglichen. „Die Leute hatten das Bedürfnis zurückzukommen, nochmal zu sehen, wo ihre Familien gestorben sind. Viele Leute fühlten, dass in ihrem Leben irgendwas gefehlt hat von der Vergangenheit. Dieses Stück wollten sie einfügen", so Steven Springfield, Präsident der „Jewish Survivors of Latvia" aus New York. Zugleich wollte man auch die heutige jüdische Gemeinde kennenlernen und sie unterstützen.

Das Treffen begann am Freitag, 11. Juni, mit einem großen Dinner im Hotel Latvia und Ansprachen von Steven Springfield, Gregory Krupnikovs (Ko-Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde), den Leitern der verschiedenen nationalen Delegationen. Im Folgenden berichte ich nur von den Ereignissen des Treffens, die ich selbst miterlebt habe. Das Konzert des bekannten Jüdischen Kinderchores, die Wiedereröffnung des Bikur Cholim Hospitals (mit Hilfe der Partnergemeinde von St. Louis/USA), der Besuch der Jüdischen Schule in Jugla, Fahrten nach Liepaja, Daugavpils - all das konnte ich nicht mitmachen.

 

Sonntag, 13. Juni

Bei strahlender Sommersonne hat sich am Holocaust-Mahnmal an der Gogolstraße eine größere Menschenmenge eingefunden: Hier stand früher die größte und schönste Synagoge Rigas, die am 4. Juli 1941 mitsamt mindestens 500 Menschen niedergebrannt wurde. Das Mahnmal für die 1941 bis 1945 in Lettland ermordeten Juden wurde durch private Großspender und die Jewish Survivors of Latvia/USA, durch Spenden aus Lettland und von Einzelpersonen aus Israel, Schweden, Deutschland und Kanada ermöglicht und am 29. November 1992 eingeweiht. Die freigelegten und restaurierten Grundmauern der alten Synagoge bilden das Mahnmal.

Die Innenmauern sind mit zahllosen Blumen belegt. Nach Gebeten und Gesängen folgen sehr viele Redebeiträge, auch von Vertretern der „zweiten Generation". Für einen Großteil der Versammelten ist die unmittelbare Begegnung offenbar wichtiger als diese Zeremonie. Offizielle politische Repräsentanten sind nicht anwesend, ausdrücklich aber auch nicht eingeladen.

Mit Bussen fahren wir dann über Straßen, die am 30. November und 8. Dezember 1941 für tausende Angehörige zum letzten Weg wurden: die Ludzas iela, die Längsachse des früheren Ghettos, später Grenze zwischen kleinem lettischen und dem größeren „Reichsjudenghetto" (rechts ab gehen die damalige „Berliner", "Prager", „Bielefelder Straße"); vorbei am kleinen Park des Alten Jüdischen Friedhofs, wo die ersten Opfer der „Ghettoräumung" verscharrt wurden, wo der Kommandant fast täglich Menschen erschoss (hier soll der Stein, der bisher an der Gogolstr. stand, aufgestellt werden); die Moskauer Straße, über die an beiden Wintertagen des Jahres 1941 alle halbe Stunde Kolonnen von jeweils 1000 Menschen acht Kilometer weiter in ein Wäldchen bei der Bahnstation Rumbula getrieben wurden, um dort in großen Gruben von 12 deutschen SS-Männern erschossen zu werden - vor den Augen hunderter Uniformierter. 27.500 lettische Juden ließ Friedrich Jeckeln, Höherer SS-und Polizeiführer Ostland und Rußland Nord (vormals Düsseldorf), erschießen, um im Ghetto „Platz zu schaffen" für die angekündigten Deportationszüge aus dem „Großdeutschen Reich". Der erste Zug aus Berlin war schon am Morgen des 30. November eingetroffen. Alle Insassen wurden noch vor den lettischen Juden in Rumbula erschossen.

Fiel an der Gogolstraße das Erinnern noch schwer, so drängt es jetzt nach vorne. Mitfahrende, die ich bisher nicht kannte, sprechen mich auf Deutsch an, berichten, dass sie hier Angehörige, ihre ganze Familie verloren haben, nun zum ersten Mal hierher kommen. Einer ist am Leben geblieben, „weil" er vorher nach Sibirien deportiert worden war.

Jedes Jahr im November wird hier der Ermordeten gedacht. Zur sowjetischen Zeit wurden die Trauernden immer vom KGB gestört und schikaniert.

Am östlichen Stadtrand dann in den Wald von Bikernieki: Über einen breiten, geraden Waldweg geht es nach einigen hundert Metern einen Hang hinauf. Vor uns eine Senke mit mehreren Gevierten aus normalen Bordsteinen - Massengräber, dazwischen niedere Büsche. Das wellige Gelände scheint wenig verändert seit damals. Ein verlorener und vergessener Ort, dessen Dimension wahrzunehmen allerdings den meisten erspart bleibt. Denn diesseits und jenseits der Straße sind mindestens 55 Massengräber deutlich zu identifizieren, alles in verwahrlostem Zustand.

Während die Busse zurückfahren, bleibe ich mit Ehepaar Springfield jun. und den stern-Journalisten Katja Gloger und Hans-Jürgen Burkard (beide Moskau) zurück. Was die Zeitungen vor zwei Tagen meldeten und wofür sich der Parlamentspräsident bei der Jüdischen Gemeinde entschuldigt hatte, ist unverändert: Zwei Gedenksteine sind mit „judenfrei" und zwei Hakenkreuzen beschmiert - der zentrale, auf dem der 46.500 hier erschossenen Menschen (darunter viele aus dem „Reichsjudenghetto") gedacht wird, und der Stein der Rigaer antifaschistischen Untergrundgruppe, deren einziger Überlebender Sergejs Svilpis ist (unser Führer bei so mancher Spurensuche in Riga). Oberhalb des Gedenksteins sitzen vier junge Leute im Gras und spielen Karten. Spaziergänger kommen vorbei, auch ein Polizist. Es kümmert nicht weiter. Über die Täter kann man nur spekulieren, sie können aus antisemitischer wie aus sowjettreuer Ecke stammen.

1991 begann man hier mit dem Bau einer Gedenkstätte. Die Arbeiten sind mangels Geld längst eingestellt. Jetzt sieht alles noch verlorener als vorher aus.

Am Abend das helle Gegenteil zu den düsteren Orten von Rumbula und Bikernieki: Im Prachtsaal des alten Jüdischen Theaters (im Jüdischen Zentrum) feierliche Ehrung der Judenretter. Das Fernsehen überträgt. Nun sind auch politische Repräsentanten (u.a. der deutsche Botschafter) dabei. Zu getragener Hintergrundmusik und unter starkem Beifall kommen die Retter bzw. stellvertretend die Angehörigen einzeln herein. 200 Namen von Judenrettern wurden ermittelt, 33 werden heute vom stellvertretenen Parlamentsvorsitzenden Vaudis Birkavs (inzwischen lettischer Regierungschef) ausgezeichnet. Nach Gesangsdarbietungen, Rezitationen, einem Video über einzelne Judenretter spricht Margers Vestermanis, Ghetto-Überlebender und Leiter der Dokumentationsstelle „Juden in Lettland", über die Schwierigkeiten, die Judenretter überhaupt zu ermitteln. Sie kamen aus allen Volksgruppen und Schichten, auch aus den Spitzen der lettischen Intelligenz und den Baltendeutschen (z.B. Paul Schiemann, 1920-33 Vorsitzender der dt. Fraktion im lettischen Parlament). Am berühmtesten Janis Lipke, der allein 55 Menschen das Leben rettete (bei den Filmdreharbeiten im Herbst 1991 besuchten wir sein Haus auf dem anderen Ufer der Daugava, sprachen mit seinem Sohn). Oder Seraphina Parasa, die - obwohl selbst untergetaucht - Ella Medailje bei sich aufnahm, eine der beiden einzigen Frauen, die Rumbula überlebt hatten.

Menschlichkeit unter höchstem Risiko: Sieben verloren deshalb nachweislich ihr Leben.

Geehrt wird schließlich auch der ehemalige schwedische Ministerpräsident Per Almark wegen seines Einsatzes gegen den Antisemitismus. Er hält eine längere politische Rede, für die er starken Beifall erhält.

Die große Rigaer Tageszeitung „Diena" berichtet ausführlich über dieses in den baltischen Staaten bisher einmalige Ereignis.

 

Montag, 14. Juni

Heute ist der Jahrestag der großen Deportation am 14. Juni 1941 nach Sibirien. An vielen Häusern wehen lettische Fahnen, auch am Jüdischen Zentrum. Am Spätnachmittag Kundgebung am Freiheitsdenkmal: einige hundert Menschen, manche tragen Schilder und Transparente (Dunstkreis des Bürgerkongresses, der auch das neu gewählte Parlament als von der Sowjetmacht beherrscht ansieht). Ein Zug sehr alter Semizargi-Kämpen nimmt Aufstellung und stellt die Absperrungen. (Vorher waren mir die Veteranen schon im Kriegsmuseum aufgefallen, wo seit Monaten eine verharmlosende Ausstellung über die „Lettische Legion" zu sehen ist) Ein alter Mann in Sträflingskluft, Kinder in Volkstracht, Männer und Frauen mit Armbinden „Charta 77" schreiten zum Denkmal. Engagierte Redner aus dem rechteren Spektrum ernten z. T. begeisterten Beifall. Der ehemalige Häftling lebt seit fünf Jahren in Münster, ich spreche ihn an und drücke ihm mein Mitgefühl aus. Er: „So kämpfen wir gegen den Bolschewismus."

 

Gespräche mit JournalistΙnnen:

- Ainārs Dimants, Kommentator der Diena, vorher einige Jahre Korrespondent in Moskau: Mit ihm längeres Gespräch in der neuen Diena-Kantine, wo der Musikpegel reichlich hoch ist. Dass Sozialdemokraten wie Grüne an der 4%-Hürde gescheitert seien, sei nicht von Dauer. Mittelfristig hätten sie sehr wohl Chancen (Organisationsgrad, inhaltliche Festigkeit, z. T. Jugendorganisationen). Nachdem im lettischen Parlament bisher ein Durcheinander der Einzelpersonen geherrscht habe, werde nun versucht, straffe Fraktionsdisziplin zu etablieren. Die LNNK habe z. B. beschlossen, dass Mehrheitsentscheidungen von allen nach außen zu vertreten seien - ansonsten Ausschluss aus der Fraktion. Um diesen Punkt sei es dann auch direkt zum Konflikt mit dem rechtsextremen Polit-Import Joachim Siegerist gekommen, dem nun auch vorgeworfen wird, die LNNK etliche Prozentpunkte gekostet zu haben. Nach seiner Beobachtung sei S. ein nicht besonders kluger Ideologe; denn auch bei der fraktionsinternen Auseinandersetzung habe er nur mit Phrasen agiert. (Überhaupt ist S. - wie schon im März - ein Spektakelthema: Mit massivem Hilfsengagement und Pressearbeit hat er sich Bekanntheit und auch viel Dankbarkeit erworben. In seinem Wahlkreis Jelgava holte er mehr als 40% der Stimmen - und viele Wähler vorher mit Freibier, Schnaps, Brötchen und Bananen in Bussen aus Riga dorthin. Der religiösen Jüdischen Gemeinde (sie hat einen orthodoxen Rabbi aus Israel) machte er eine Schenkung über 2000 DM und präsentiert nun im TV ein Papier, wo sich beide Seiten Zusammenarbeit versprechen. Die große Jüdische Gemeinde, vormals Jüdischer Kulturverein, distanziert sich eindeutig von dieser naiven Unterstützung für einen Rechtsradikalen. Im Spiegel (24/93) ist dennoch nur von „der" Jüdischen Gemeinde die Rede. Dass er bisher kein Lettisch spricht, also im Parlament gar nicht sprechen darf, dass seine Geburtsurkunde, damit seine lettische Herkunft angezweifelt wird, sind weitere Skurrilitäten.)

Tags drauf interviewt mich A. Dimans wegen meiner ziemlich ungewöhnlich erscheinenden Erinnerungsarbeit und des Maikovskis-Prozesses. Er betont, Diena habe ein starkes Interesse an der Aufarbeitung auch der Nazizeit in Lettland. Allein die Diena-Ausgaben, die ich zufällig mitbekomme, scheinen mir das zu bestätigen.

- Dr. Marianna Butenschön, langjährige Osteuropa-Journalistin, 17 Jahre für die ZEIT, zuletzt Autorin eines vorzüglichen Piper-Bandes über´s Baltikum und eines „Marco-Polo"-Reiseführers, jetzt für „Die Woche", den Saarländischen Rundfunk, den WDR usw. unterwegs, nach zwei Wochen Georgien nun zum x-ten Mal in Riga:

Den bei uns so angesehenen Schewardnadse hat sie vor Ort ganz anders erfahren. Er regiere wie vor 10 Jahren, habe sich jetzt vom Patriarchen taufen lassen. Zu seiner „Begrüßung" erschien ihr Artikel in „Der Woche" vom 24. Juni. (Ein anderes Beispiel für Spitzen-Opportunismus der bisherige Parlamentspräsident Gorbunov: Der ehemalige Ideologie-Sekretär des ZK ist nun katholisch geworden. Auf seine Initiative soll der Papst Lettland besuchen, was den Staat 40 Mio. lett. Rubel kostet) Gorbatschow habe von den Tschernobyl-Folgen recht früh gewusst - und mitvertuscht. Und nun sei er Oberhaupt einer europäischen „grünen" Stiftung!

Deutliche Kritik an Westmedien, die sich jahrzehntelang nicht für das Los der Menschen im Baltikum interessiert hätten, jetzt aber auf die Behandlung der Russen fixiert seien und dabei - z. T. absichtsvoll - Menschen- und Bürgerrechte miteinander verwechselten. Die Menschenrechte der Russisch-Sprachigen würden nicht verletzt. (Dieselbe Einschätzung begegnete uns bei unseren kompetent kritischen Gesprächspartnern im März, die ergänzten, das nur vieles getan werde, diese große Minderheit politisch zu verprellen - angefangen bei der Tilgung der kyrillischen Zeichen auf den zweisprachigen Straßenschildern) Auf russischer Seite stehe fast niemand zu den Untaten des Sowjetregimes, alle sähen sich nur als Opfer, wollten ein zweites Belgien mit zwei Volksgemeinschaften. Wladlen Dosorzew, der als russischer Lette in der Volksfront eine wichtige Rolle spielte, ist da eine Ausnahme.

Man müsse nur mal die Zahlen auf die Bundesrepublik umrechnen. Durch dieses Land mit seinen 2,7 Mio. Einwohnern  seien nach dem Krieg 7 Mio. sowjetische Migranten gezogen. Heute wohnen 600.000 Russisch-Sprachige hier mit einem relativ hohen Anteil Minderqualifizierter.

Beim „Lettische Weg" (Stärkste Fraktion mit 36 von 100 Sitzen) sei von kompetenter Seite erklärt worden, 400.000 bekämen bald die Staatsbürgerschaft, nur die restlichen 200.000, die im Zusammenhang mit der alten sowj. Armee (z. B. viele pensionierte Offiziere) stünden, müssten raus. Dabei werde Hilfe vom Westen erwartet.

Ihr Beitrag „Okkupanten? Migranten? Mitbewohner? Was wird aus den Russen in Lettland?" lief am 15.7. im WDR.

(Im März machte Mavriks Vulfsons uns gegenüber die desillusionierende Feststellung, dass entgegen dem verbreiteten Eindruck die Unabhängigkeit der baltischen Staaten keineswegs gesichert sei. Denn für die erstarkenden nationalistischen Kräfte in Rußland, aber auch für die Mehrheit der Russen gelte das Baltikum weiter als zu Rußland gehörig. „Wenn sich in Rußland die demokratischen Kräfte nicht durchsetzen, gibt es Krieg", so Vulfsons, der keineswegs zu Alarmismus neigte und durch seine klare und differenzierte Analyse bestach.)

- Katja Gogler, stern-Korrespondentin in Moskau, und Hans-Jürgen Burkard, stern-Fotograf auch dort, sind beide für eine „Farbe" über´s Baltikum unterwegs und zum Höhepunkt des Welttreffens in Riga. Vielleicht Ende 20, zu Schülerzeiten Juso bzw. Anarcho, angenehm locker und keineswegs eingebildet, obwohl der materielle Hintergrund (Wagen mit Chauffeur, Spitzenhotel „De Rome") offenkundig ist. Ab und zu schimmert „Skandal-Hunger" durch: Ob ich was von Willi Daumes SS-Vergangenheit wisse. Nein, nur dass meine Mutter mal Kindermädchen in seinem Haushalt war!

 

Ãœbergabe von Spendengeldern

Beim Verein der ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettlands: Bei unserem Zusammentreffen im März im Rahmen der „Erinnerungsreise" hatte ich spontan versprochen, bis zum Welttreffen die 2-3.000 DM zusammenzubekommen, die für die Aufstellung des Steins auf dem Alten Jüdischen Friedhof gebraucht werden. Auf meinen Rundbrief an ca. 100 Personen meldeten sich 35 SpenderInnen. 2.700 DM darunter wieder mehr als 700 DM aus Lingen, kann ich nun überreichen. Nach Aufstellung dieses Steines ist ein weiterer vorgesehen an der Stelle des ehemaligen KZ Kaiserwald, der Leidensstation nach der Auflösung des Ghettos am 2. November 1943. Darüberhinaus darf ich eine 800 DM-Spende der Friedensgruppe der Altstädter Nicolaigemeinde/Bielefeld für Bedürftige überreichen.

Die drei Vorstandsmitglieder Barkan, Bergmann und Vestermanis danken ausdrücklich für das Vorhaben der Städte Osnabrück, Bielefeld und Münster, in Riga zur Erinnerung an die aus ihren Regionen hierher deportierten Juden eine Gedenktafel anzubringen. Es ist das erste Erinnerungszeichen dieser Art aus der Bundesrepublik (ein deutscher Soldatenfriedhof wurde 1990 eingeweiht). Aus konzeptionellen und Sicherheitsgründen votiert der Vorstand einstimmig dafür, die Tafel am ehemalige „Bielefelder Haus" in der Vilanu iela anzubringen.

 

Dienstag, 15. Juni

Im Jüdischen Zentrum gibt G. Krupnikovs, einen Abriss der Probleme der Jüdischen Gemeinden in Lettland:

- Es sei an der Zeit, die wirkliche Geschichte des Holocaust angemessen in den Schulbüchern zu behandeln. Völlig inakzeptabel sei, dass beim 50. Jahrestag der Gründung der Lettischen Legion (Waffen-SS) im März die Mitgliedschaft von V. Arajs und anderer Massenmörder unterschlagen worden sei. In demselben Sinne äußert sich auch S. Springfield: „Die Lehrer müssen die Wahrheit über die Kriegszeit erzählen und „zugeben, dass - leider Gottes - tausende von Letten der SS und den Nazis geholfen haben, freiwillig die Juden zu ermorden, nicht nur Juden von Lettland, sondern auch von Deutschland, Österreich, Tschechoslowakei usw.. Die lettische Regierung kann das nicht verschieben."

- Nachdem viele nur noch dem Namen nach Juden waren, waren in den letzten fünf Jahren ein Hauptproblem, wie Juden wieder „jüdisch" werden können.

- Das physische Ãœberleben der Alten. (s.u.)

- Die junge Generation: Frau Rapina (76), Vorsitzende der Jüdischen  Gemeinde, früher 19 Jahre Direktorin der Lettischen Philharmonie, beklagt, die jungen Leute blieben dem Gemeindeleben - abgesehen von Schule und Disco - völlig fern.

 

Fortsetzung der Spurensuche auch bei diesem 6. Riga-Besuch:

- Das Zentralgefängnis im Gleisdreieck nur einige hundert Meter östlich vom ehemaligen Ghetto war einer der Hauptorte des Naziterrors von Anfang an. Verrottete Bauten, hinter den Gittern und Sichtblenden scheinen regelrechte „Löcher" zu sein.

- Suche nach weiteren „weißen Flecken" im ehemaligen Ghetto: auf der Ludzas iela, östlich vom Lazarett muss das große „Dortmunder-Haus" gestanden haben. Das existiert offensichtlich nicht mehr. Südlich des Blechplatzes auf der Jersikas iela, die damals fälschlicherweise Moskauer Str. genannt wurde, Häuser, in denen HannoveranerInnen und WienerInnen lebten. Nr. 31 hieß „Herrenhausen", weil hier junge Männer aus Berlin und Wien einquartiert waren. (Diese Angaben alle nach Prof. Gertrude Schneider, Ghetto-Überlebende aus Wien und Autorin von drei grundlegenden Büchern über das Rigaer Ghetto, der ich den von Angela und mir gezeichneten Ghetto-Plan zur Korrektur gebe.)

 

Treffen der ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlinge am Nachmittag im Jüdischen Zentrum:

Dicht an dicht sitzen an langen Tischen die alten Menschen. Geschirr, Kuchen, Gebäck und Kaffee haben Mitglieder der Gemeinde mitgebracht. Ein großes Familientreffen. Manche sehen sich zum ersten Mal seit dem Krieg wieder; damals jung, jetzt in hohem Alter. Auf der Bühne das Komitee der Jewish Survivors of Latvia, Rafael Barkan und Alexander Bergmann vom Vorstand des Vereins der ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettlands. Vorstellung des Komitees; Gertrude Schneider erinnert an die Taktik der Nazis, lettische und deutsche Juden zu spalten. Ihr Wunsch, dass alle Juden zusammenfinden.

R. Barkan fordert auf: „Wer was sagen will, kann nach vorne kommen". Und das tun auch ziemlich viele: Ein alter Mann trägt mit zitternder Stimme ein Gedicht vor. Ein heute in Südafrika Lebender rühmt in einem Jiddisch, das sogar ich verstehe, den Juden Storch aus Daugavpils, der wesentlich zur Rettung tausender Juden bei Kriegsende beigetragen hätte.

Zwischendurch beginnt die Ausgabe von Umschlägen mit 100 US-$ nach dem Alphabet an ehemalige Ghetto und KZ-Häftlinge durch die „Jewish Survivors of Latvia".

Weiter reden Leonid Koval, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Jurmala; Prof. Schwab aus New York, der im Ghetto Libau seinen Vater verlor; der Stellvertretende der Kriegsveteranen Ginsburg „Wenn die Nazis gesiegt hätten, säße hier niemand".

Schließlich stellt R. Barkan mich den Versammelten vor, als Lehrer und auch als Grüner, laut Eva Vestermane sehr rühmend. Ich verstehe nichts, „antworte" dann aber aus dem Stegreif und ziemlich engagiert. Eine Übersetzung ist gar nicht nötig, schon der Zwischenbeifall zeigt es. Ausgehend von unserem Film „Verschollen in Riga", dem ersten in Deutschland über das Ghetto überhaupt, spreche ich den jüngsten NDR-Panorama-Bericht an: Viele in Deutschland seien darüber entrüstet und beschämt, dass einerseits ehemalige Angehörige der lettischen Waffen-SS ansehnliche Kriegsversehrtenrenten bekämen, unter ihnen auch mutmaßliche Massenmörder, dass andererseits die wenigen Holocaust-Überlebenden keinen einzigen Pfennig „Wiedergutmachung" aus der Bundesrepublik erhalten. Ich verspreche, zusammen mit Journalisten, örtlichen Politikern und Bundestagsabgeordneten eine Kampagne zu initiieren, „damit Sie zu Ihrem Recht kommen!"

Schließlich spreche ich auch noch den Maikovskis-Prozess in Münster an, den meine Frau Angela und ich seit Januar 1990 beobachten. Alle kennen den Fall, mehrfach schon wurde ich nach dem Fortgang des Verfahrens gefragt - von Menschen aus Lettland, USA, Israel, Australien. Ich überreiche eine Videokassette mit dem Panorama-Beitrag und TV-Sendungen zu Prozess und Ghetto Riga. Herzlicher Beifall, Ansturm von Leuten, die danken, was fragen oder mitteilen wollen, eine Flut wärmster und strahlendster Begegnungen!

 

Begegnungen

- D.G. aus Tel Aviv, Anwalt, Rechtsberater der „Association of Invalids-Survivors of Nazi Persecution", 1965 Zuschauer beim großen Rigaer Prozess (u.a. gegen Maikovskis in Abwesenheit), gemeinsame Bekannte bei der Ludwigsburger Zentralstellle;

- A.Shpungin, Autor eines Buches über den Holocaust in Lettland, bittet um Besuch in Israel;

- Mr. I. aus Australien bietet sich als Kontakt bez. A. an;

- J. R., der mit 13 Jahren ins Ghetto kam und dort seine Jugend verlor, trifft hier erstmalig seit der Befreiung seinen Leidenskameraden A. S. wieder;

- N. Weinberg aus Valmiera möchte gern wissen, wo sein guter Stabsfeldwebel Rattai (aus Bielefeld) stecken könnte, unter dem er 1941/42 in Riga bei der Luftwaffe arbeitete;

- Dr. Valentina Freimane, Filmexpertin, war die ganze deutsche Zeit versteckt, eineinhalb Jahre bei Paul Schiemann.

- E. K. aus Long Island möchte ebenfalls einen „guten Deutschen" wiedersehen: Hans Erkensberger, Leutnant und Reporter der Feldzeitung „Die Front", der sich 1941/42 phantastisch für ihn eingesetzt habe. Einmal habe er SS-Leute mit gezogener Waffe vertrieben „Das sind unsere Juden! Haut ab, ihr Schweine!"

- Einer begrüßt mich strahlend per Handschlag: Er war im März einer der „Aufräumer" an der Gogolstraße, als wir dort vor unserer Kranzniederlegung mit unserem Besenkommando „Hand anlegen". Beim Abschied kann er die Faust nicht verbergen.

- Andere fragen nach Angehörigen.

Bei anderen Gelegenheiten kommt mehrfach „Solingen" zur Sprache. Gefragt wird traurig und ratlos, keineswegs vorwurfsvoll und mit viel Verständnis für die deutschen Probleme. Im Gegensatz zum letzten November, als die - wenn auch späten - Gegenbewegungen Mut machten, bleibt mir jetzt die Antwort im Hals stecken. Die Gewalt kommt aus der Mitte der deutschen Gesellschaft und ist kurzfristig offenbar nicht zu stoppen.

 

„Wiedergutmachung"

Schon im März hatte uns Herr Barkan das Schicksal seiner noch 120 in Lettland lebenden Leidensgenossen geschildert: Die allermeisten sind krank, bitterarm und viele ohne Angehörige. Bei Mieten von 4-5.000 lettischen Rubel und Renten von 3.000 Rubel können die meist über Siebzigjährigen ohne private Hilfen nicht leben und nicht sterben. Ihre Lage ist „verzweifelt", so Frau Rapina.

Steven Springfield:

„Das Verhalten der Bundesregierung ist ein Skandal. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie das heute möglich ist. Ich habe darüber viele Male gesprochen, auch im amerikanischen Fernsehen, über den Fakt, dass die lettischen SS-Leute, die in der deutschen Armee gekämpft haben, eine Pension kriegen und die paar nachgebliebenen 116 oder 120 Juden, die im KZ waren, nicht genug Geld haben, um die nötigsten Sachen zu kaufen.

Ich hoffe, dass die deutsche Regierung ihre Meinung darüber ändert und diese Ungerechtigkeit verbessert. Denn warum sollen die armen Leute nicht das kriegen, was alle KZ´ler in verschiedenen Ländern in der ganzen Welt kriegen. Warum bloß diese 120 armen Leute, die es so nötig brauchen? Wir in Amerika sind natürlich in einer anderen Lage. Aber hier brauchen die das zum Leben!! Damit ihnen das Leben gerettet wird. Wir hoffen, dass es nicht lange dauert, dass die deutsche Regierung das einsieht, diese Ungerechtigkeit. Denn die Leute sind alle im Alter von 70, 80 Jahren und jede sechs Monate, wo ich wieder her komme, sind wieder 5, 6 Leute gestorben. Wir haben keine Zeit dazu, es muss jetzt gemacht werden! Man kann nicht warten, bis alle aussterben!" (Interview mit mir am 15.6.1993) In diesem Sinne äußerte sich Springfield bei der Eröffnungs- und Abschlussveranstaltung des Treffens; genauso G. Krupnikovs.

Margers Vestermanis:

„Wir sind ein Häufchen Geretteter in einem Meer von Blut".

Er erinnert daran, wie sich der deutsche Staat ab 1941 an den lettischen Juden bereicherte. Lt. Verordnung des Reichskommissariats Ostland wurde alles jüdische Vermögen beschlagnahmt; jüdische Wohnungseinrichtungen, die von der Wehrmacht übernommen wurden, mussten gemeldet werden. Hierüber sind die entsprechenden Dokumente erhalten. Genauso über die von 6.000 „Arbeitsjuden" erbrachten Arbeitsleistungen. Bis Mai 1942 waren der deutschen Staatskasse 4,5 Mio. Reichsmark aus jüdischem Eigentum und 5,5 Mio. RM aus jüdischer Arbeitskraft in Lettland und Litauen zugeflossen.

„Die Bundesgesetzgebung von 1965, die den neuen Verhältnissen nicht gerecht wird, ist erniedrigend für Deutschland. Die Bundestagspräsidentin gewährte Audienz, bot - wenn auch gut gemeint - Almosen. Mildtätigkeit ist gut gemeint, herzlichen Dank. Aber hier ist der Staat in der Pflicht.

Ich habe im Bahnhofkommando, im Truppenwirtschaftslager der Waffen-SS, beim Torfstechen (Libau) gearbeitet ohne jeden Lohn, froh über Brot, gelegentliche Pferdekadaver. Von dort nach Kaiserwald, ins SS-Seelager Dundangen (Wegrodungen, Barackenbau). Schwerstarbeit vom Herbst 1941 bis Juli 1944. Deshalb habe ich ein moralisches Recht zur Klage.

Aus menschlicher Sicht ist es beschämend für einen Staat, wenn er den Opfern nicht das zahlen kann, was er ihnen abgezwungen hat. Es ist überhaupt eine unwürdige Diskussion für einen Staat, der sich rühmt, viel für Wiedergutmachung getan zu haben. (...)

Ich bin mit 68 einer der jüngsten, die anderen sind über 70 und 80 Jahre. Unsere Hauptbeschäftigung ist, dass wir unsere Kameraden beerdigen. Das Sterben ist heute teurer als das Leben. Die Ersparnisse sind verloren. Ohne unsere Hilfe bekämen sie gar keine anständige Beerdigung; obwohl schon jüdische Beerdigungen besonders einfach sind."

Hilfe leisten vor allem nichtjüdische Spender in Lettland.

„Wir sind für jede Hilfe dankbar. Aber wir wollen keine Almosenempfänger sein". „Wir werden den deutschen Staat nicht sehr lange belasten". (12.6.93)

Im Mai besuchte der Vorsitzende der Deutsch-Baltischen Parlamentariergruppe, der Bundestagsabgeordnete Prof. von Stetten, Riga und übergab für jeden der ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlinge einen Brief mit 30 DM. Er versprach, sich mit seinen Kollegen intensiv zu bemühen, „dass solche kleinere Zahlungen häufiger geleistet werden können, um die Zeit bis zu einer offiziellen Regelung für die in Litauen, Lettland und Estland lebenden Opfer nationalsozialistischer Herrschaft zu überbrücken".

Wie Marianna Butenschön in „Der Woche" vom 7. April berichtet, befinden sich die ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlinge Litauens in einer ähnlich verzweifelten Situation.

 

Mittwoch, 16. Juni

Die letzten Male erlebte ich Riga zu graueren Jahreszeiten. Jetzt ist es der erste Sommeraufenthalt im postsowjetischen Riga.

In der engen Innenstadt, vor allem in der Altstadt kann´s auch Wessis inzwischen prächtig gefallen angesichts der vielen Straßenlokale, des vielfältigen Angebots, der herrlichen Kulissen und langen Abende. Und schön überschaubar ist es auch noch: Bei einem Rundgang am ersten Abend begegnen mir sechs bekannte Gesichter.

Viele neue Fast-Food-Lokale gibt´s ausschließlich mit Westwaren und bald schon auf Westpreisniveau. Überhaupt fällt das bei allen Kiosken auf, wo praktisch nie einheimische Waren zu sehen sind. Angebote für eine ganz schmale Schicht. Denn ca. 90% der Bevölkerung leben am bzw. unterm statistischen Existenzminimum! Können nur deshalb irgendwie durchkommen, weil z.B. die Mieten nicht bezahlt werden - oder alles Entbehrliche verkauft wird.

Hinterm Bahnhof der Markt mit riesigem und buntem Angebot. Auf den Freiflächen endlose Schlangen, z.T. doppelt, von Frauen und Männern, die irgendwas anbieten, Kleinigkeiten oft. Ganz offenkundig sind das Armutsverkäufe. An die Stelle der Käuferschlangen in realsozialistischer Zeit sind nun die Schlangen der Kleinsthändler getreten. Warten, warten für ein paar Rubel. An einer Kreuzung fällt mir ein ca. 10-jähriges Mädchen auf, die während der Rotphase Scheiben und Scheinwerfer der Pkw´s mit einem Lappen putzt. Manche verjagen sie, manche zahlen, einzelne prellen sie um den Lohn. Sie macht weiter.

Einige Stunden später präsentiert der Pilot Riga beim Startflug noch mal von seiner schönsten Seite. Wehmütig lasse ich diese Stadt mit unseren vielen lieben Leuten und ihrem schweren Alltag zurück. Die Halbinsel von Jurmala, Majori, wo wir unsere ersten lettischen Tage verbrachten. Eine Wolkendecke macht den Schnitt.

Nachbemerkungen

- Ein Aufruf mit der Forderung, den ehemaligen Ghetto und KZ-Häftlingen des Baltikums endlich eine „Wiedergutmachung" zukommen zu lassen, ist in Vorbereitung. Ebenfalls ein Aufruf zur direkten Unterstützung.

- Der Bundestagsausschuss für Arbeit und Sozialordnung beschloss am 30. Juni  auf Antrag von Bündnis 90/Grüne, dass ehemalige Angehörige der Waffen-SS im Ausland auf Beteiligung an Kriegsverbrechen überprüft werden, wenn sie eine deutsche Kriegsversehrtenrente beziehen (wollen). (s. taz vom 13.7.93)