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Wehrpflicht- vs. Freiwilligenarmee
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Redebeitrag von MdB Winfried Nachtwei zur Wehrpflicht aus Sicht eines Kritikers

Veröffentlicht von: Webmaster am 23. September 2008 10:07:27 +01:00 (53530 Aufrufe)

Mit folgendem Redebeitrag stellte Winfried Nachtwei seine Position bezüglich Wehrpflicht dar:

Redebeitrag von MdB Winfried Nachtwei, sicherheitspolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen, zur Wehrpflicht aus Sicht eines Kritikers

beim Forum WEHRPFLICHT

von Beirat für Fragen der Inneren Führung, Verband der Reservisten, Deutscher Bundeswehrverband am 23.9.2008 in Berlin

 

Guten Morgen meine Damen und Herren,

ich bin von den Grünen und deshalb stehe ich natürlich in dem Verdacht, dass ich von dem Thema keine Ahnung habe.

Ich erinnere mich daran immer noch sehr deutlich. Vor mehr als 40 Jahren war ich beim Bund und habe einiges von dem dort mitbekommen, was jetzt einzelne Wehrpflichtige, heutige Wehrpflichtige als Pluspunkte genannt haben.

Mir hat es damals auch Spaß gemacht. Ich will da jetzt nicht in Einzelheiten gehen. Ich kann Ihnen aber versichern: Als Ausbilder habe ich damals ein lautes Organ entwickelt, das hat mir hinterher in den 70er Jahren bei Demonstrationen sehr geholfen, das hat mir im Bundestag bei Zwischenrufen geholfen. Persönlich möchte ich diese Zeit gar nicht missen. Nichtsdestoweniger mache ich heute einige kritische Anmerkungen zur Wehrpflicht.

Seit 1994 bin ich im Bundestag, 1995 stellte ich meinen ersten Antrag zur Abschaffung der Wehrpflicht. Damals meinte ich, die Wehrpflicht bröckelt, na ja, das tut sie bis heute. In den letzten Jahren erfahre ich den Streit um die Wehrpflicht als einen Schlagabtausch, wo die Wiederholungen ermüden. Deshalb möchte ich jetzt nur ein paar Denkanstöße dazu bringen. Zugleich bekenne ich, dass auch für mich einige Fragen offen sind, auch bei meinen Vorschlägen und Kritiken. Herr Schmelzer, bei den Erfahrungen mit uns Berufspolitikern, bitte achten Sie auf die Zeit, geben Sie mir rechtzeitig Zeichen, wenn ich überziehen sollte. Ich möchte folgenden Punkten nachgehen. Erstens eine Klarstellung zu den Zielen und Anforderungen, um die es geht. Andernfalls redet man immer wieder erfolgreich aneinander vorbei. Zweitens, inwieweit die Allgemeine Wehrpflicht heute sicherheitspolitisch notwendig und unverzichtbar ist. Drittens: Ist der Grundrechtseingriff durch die Wehrpflicht noch legitimierbar, ist er verhältnismäßig? Viertens die verschiedenen nützlichen Seiten der Wehrpflicht und schließlich Gedanken zu möglichen Alternativen.

Zunächst zu den Ziele und Anforderungen. Wir haben alle mitbekommen, dass sich in den letzten 15 Jahren der Auftrag der Bundeswehr verschoben hat, auch wenn im Grundgesetz weiterhin die Landesverteidigung als Grundaufgabe festgeschrieben ist. Aber der reale Auftrag hat sich verschoben in Richtung Teilnahme an internationaler Krisenbewältigung und Kriegseindämmung im Auftrag der Vereinten Nationen. Um diesen Auftrag wirksam wahrnehmen zu können, braucht die Bundeswehr quantitativ und qualitativ guten und ausreichenden Nachwuchs. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Anforderungen im Rahmen  dieses neuen Auftrages erheblich höher und komplexer sind, als, sag ich mal, zu meiner Zeit. Dabei muss zureichende Nachwuchsgewinnung mit dem geringst möglichen Grundrechtseingriff einhergehen. Schließlich geht es darum, die Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft zu erhalten. Sie ist eine demokratische Errungenschaft, die nicht auf`s Spiel gesetzt werden darf. Das sind die Grundanforderungen, über die hier wohl auch Einigkeit besteht.

Und nun zu der nächsten Frage, der nach der sicherheitspolitischen Notwendigkeit und Unverzichtbarkeit. Wir sollten uns daran erinnern, wie das so vor Jahrzehnten aussah, welchen Stellenwert da die Wehrpflicht hatte. 1989, also vor 19 Jahren, hatte die Bundeswehr noch 490.000 Soldaten, davon 218.000 Wehrpflichtige, also 44 %. Inzwischen umfasst die Bundeswehr 250.000 Soldaten, von denen nur noch ein Fünftel Wehrpflichtige sind und nur 12% Grundwehrdienstleistende. Andersherum: 88 % der jetzigen Soldaten sind Freiwillige. Vor dem Hintergrund von Rest- oder Pseudowehrpflicht zu sprechen, ist naheliegend.

Die Wehrpflicht ist grundsätzlich begründbar, gerade auch verfassungsrechtlich legitimierbar mit Landesverteidigung. Konkret leitet sie sich ab aus der Notwendigkeit einer sehr großen Massenarmee mit großer Aufwuchsstärke, also mit großen Reservekräften. Heute wird angesichts des neuen Auftrages eine Massenarmee mit großer Aufwuchsstärke nicht mehr gebraucht. Darüber hinaus wäre es auch nicht verantwortbar, Grundwehrdienstleistende im Ausland einzusetzen. Auch ein Soldat, der nur im Feldlager Dienst tut, erlebt in Kunduz Raketenbedrohungen, kann in eine Evakuierungssituation kommen. In solche unberechenbaren Lagen unzureichend ausgebildete Soldaten zu schicken, wäre verantwortungslos. Zusammengefasst: Eine zwingende sicherheitspolitische Notwendigkeit für die Wehrpflicht besteht nicht mehr.

Für die betroffenen Wehrpflichtigen bleibt die Wehrpflicht ein massiver Eingriff in ihre Grundrechte, in ihre Lebensplanung. Das hat sich nicht damit erledigt, dass es heute für junge Männer eine ziemliche Wahlfreiheit gibt. Ein tauglich gemusterter Wehrpflichtiger entscheidet, ob er zum Bund gehen oder verweigern will. Das ist nicht mehr so strapaziös wie früher. Dieser besondere Grundrechtseingriff zeigt sich schon in der Verzögerung von Ausbildung und Studium. In nicht wenigen Einzelfällen werden Ausbildungs- und Arbeitsplätze gefährdet. Vor allem die Zentralstelle für die Beratung von Kriegsdienstverweigerern hat immer wieder Irritierendes über die Benachteiligungen von Wehrpflichtigen zu berichten. Im Klartext bedeutet die Wehrpflicht für Grundwehrdienstleistende, dass sie eine Art Naturalsteuer an den Staat errichten, die der Mehrzahl der Gleichaltrigen erspart bleibt. Die Wehrpflicht heißt mit vollem Namen Allgemeine Wehrpflicht. Und wie sieht es damit aus? Von den ca. 400.000 jungen Männern pro Geburtsjahrgang werden de facto in den Bereichen Grundwehrdienst und freiwillig Längerdienende ungefähr 60.000 gebraucht. 340.000 werden von der Bundeswehr faktisch nicht gebraucht. Von einer gleich belastenden Pflicht, die die Allgemeine Wehrpflicht laut Urteil des Bundeswehrfassungsgerichts sein soll, kann man da ja wohl nicht mehr reden. Und dieses wird auch nicht dadurch verändert, dass die Tauglichkeitsregelungen in den Jahren verschärft wurden, auch schon unter Rot-Grün. Damit werden nur die formalrechtlichen Voraussetzungen eingehalten. Es bleibt dabei, dass eine solche Realität gegen jedes Rechtsempfinden von Gleichbehandlung verstößt.

Nächster Punkt: der Nutzen der Wehrpflicht. Wenn es so ist, dass Wehrpflichtige nach einigen Monaten Ausbildung für Funktionsstellen nur wenige Monate zur Verfügung stehen, dann ist das schlicht gesagt ein sehr ineffizienter Einsatz von Personal. Und viele Zeit- und Berufssoldaten kommen zu der Schlussfolgerung, dass die Bundeswehr mit den Wehrpflichtigen insgesamt mehr Last als Nutzen hat. Behauptet wird, die Wehrpflicht sei „billiger". Das stimmt höchstens betriebswirtschaftlich. Volkswirtschaftlich trifft das ganz und gar nicht zu. Unbestreitbar ist die Bedeutung der Wehrpflicht für die Nachwuchsgewinnung von Zeit- und Berufssoldaten. Aus den Wehrpflichtigen rekrutiert die Bundeswehr einen erheblichen Teil des Führernachwuchses. Das will ich nicht negieren. Hier stellt sich aber die Frage, ob der „leichtere" Weg ohne Alternative ist. Ein weiterer Aspekt ist der angebliche qualitative Nutzen der Wehrpflicht. Herr Minister, Sie haben wieder von der Wehrpflicht als der intelligenteren Armee gesprochen. Ich bezweifle, ob man das wirklich empirisch nachweisen kann. Zugleich muss man auf die Begleitbotschaft achten. Demnach wären die Freiwilligenarmeen der Verbündeten die dümmeren; oder die jungen Männer, die freiwillig zum Bund gehen, die dümmeren im Vergleich zu den Wehrpflichtigen. Ihr Vorgänger, Herr Minister, hat hier wirklich mal voll daneben gehauen, als er Freiwilligenarmeen mit Söldnerarmeen gleichsetzte. Damit stünde schon der freiwillige Bundeswehrsoldat unter Söldnerverdacht. Also bitte Vorsicht mit einer solchen Argumentation. Die Bundeswehrsoldaten haben sich in ihren Einsätzen einen guten Ruf erworben. Das hat meiner Meinung nach mit der anderen Militärkultur, der Inneren Führung und dem Staatsbürger in Uniform zu tun - und nicht mit der Wehrpflicht.

Dann der Aspekt Integration in die Gesellschaft. Die ist, ich sagte es schon, ein hohes Gut und  unbedingt weiter zu gewährleisten. In der Vergangenheit hat die große Zahl von Wehrdienstleistenden in der Tat zur Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft beigetragen. Aber heutzutage leisten die paar zehntausend Wehrpflichtigen nur noch einen sehr geringen Integrationsbeitrag.

Hier möchte ich noch auf eine entgegen gesetzte Wirkung hinweisen. Beim Kriegsdienstverweigerungsverfahren wird von den jungen Männern eine weltanschauliche Absage an Bundeswehr und Militär insgesamt verlangt. Wo nicht politische und ethische Differenzierung, sondern ein allgemeines Bekenntnis gefragt ist: „Militär läuft auf Töten hinaus. Das kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren." Mit anderen Worten: Die Wehrpflicht, zu der richtiger Weise das Recht der Kriegs- oder Wehrdienstverweigerung gehört, läuft darauf hinaus, dass sich ein großen Teil der jungen Männer nur weltanschaulich und nicht politisch mit Bundeswehr und Militär auseinandersetzt. Und das führt dazu, ich kenne das aus meinem politischen Spektrum, dass sich viele nur einmal mit Bundeswehr und Militär auseinandergesetzt haben - bei ihrem KDV-Antrag und der geforderten weltanschaulichen Absage ans Militär. Diese Haltung setzt sich dann fort. Eine politische Auseinandersetzung, was bringt Militär, was kann es, was kann es nicht, wird dadurch erheblich erschwert. Der behaupteten Integrationswirkung der Wehrpflicht einerseits steht  eine Distanzierungswirkung andererseits gegenüber.

Ein Vorredner behauptete, dass dank Wehrpflichtigenanteil die Bundeswehr zurückhaltender im Ausland eingesetzt würde. Diese Feststellung ist eindeutig falsch! Inzwischen bin ich ja Veteran im Verteidigungsausschuss, seit 94 habe ich alle Diskussionen um Auslandseinsätze mitgekriegt. Für uns war da nie ein Kriterium, welche Arten von Soldaten werden in den Einsatz geschickt? Ich kann bezeugen, dass das Verantwortungsgefühl aller Abgeordneten den Soldaten ohne Unterschied galt, egal, ob es freiwillig Längerdienende, Zeit- und Berufssoldaten waren. Gott sei Dank war und ist es so.

Die Frage der Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft stellt sich heute als eine Herausforderung erheblich anders, als dass sie mit den paar Wehrpflichtigen geregelt werden könnte. Die Bundeswehr ist inzwischen in großen Teilen aus der sogenannten Fläche verschwunden. Die ständig ungefähr 7.000 Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz bedeuten, dass Teile der Bundeswehrangehörigen längere Zeit aus der hiesigen Zivilgesellschaft „ausziehen". Gleichzeitig bestehen höchst unterschiedliche  Erfahrungswelten. Hier die individualisierte, vergnügungsorientierte Gesellschaft,  gleichzeitig in Kunduz und anderswo bei vielen Soldaten eine ständige Hochspannung. Dort muss ein Soldat außerhalb des Camps immer mit Angriffen und Sprengstofffallen rechnen. Wenn Soldaten nach Hause kommen, interessieren sich vielleicht noch die Familien dafür, andere aber meist nicht mehr. Der Bundespräsident sprach von „freundlichem Desinteresse". Inzwischen scheint mir das Desinteresse an Freundlichkeit zu verlieren. Soldaten bekommen nach Rückkehr aus dem Einsatz zu hören, sie seien ja selber schuld. Eine solche kalte Schulter aus der Gesellschaft ist eine Herausforderung für uns als Politik, für uns als Gesellschaft. Die paar Wehrpflichtigen sind völlig damit überfordert, solchen Trends entgegenzuwirken. Wir sollten die wichtige Aufgabe der Integration der  Streitkräfte in die Gesellschaft und die För4derung des gesellschaftlichen Interesses an den Streitkräften nicht den letzten im Glied aufhalsen. Wir selbst haben hier unsere Aufgaben zu machen.

Letzter Punkt: Gibt es Alternativen? Ich habe mit einigen Zahlen darauf hingewiesen. Der Schrumpfungsprozess der Wehrpflicht ist offenkundig. Ihr Akzeptanzverlust bei den betroffenen Jahrgängen ist auch eindeutig. Die Jugendoffiziere berichten in ihren Jahresberichten seit Jahren davon, dass bei den Gesprächen in den Schulen die Wehrpflicht längst nicht mehr rüber zu bringen ist. Auch im Bundestag bröckelt die Zustimmung zur Wehrpflicht. Ich erinnere mich noch sehr deutlich an die Mahnung des früheren Unionssprechers im Verteidigungsausschuss, Paul Breuer, zum Ende der 90er, die Wehrpflicht müsse neu begründet werden. Da hat sich nicht viel getan - trotz vieler Papiere.  Eine Neubegründung der Wehrpflicht, die auch wirklich gezündet hätte, die kann ich wirklich nicht sehen. Vor diesem Hintergrund schlage ich vor, mit diesem Thema offensiv umzugehen. Offensiv und nicht nur immer abwartend, wie das die vorwiegende Neigung in der Politik ist. Und deshalb meine einfache Frage: Was spricht denn dagegen, die Restwehrpflicht abzulösen durch einen freiwilligen Kurzdienst, der offen wäre für junge Männer und Frauen, der einen Zeitraum hätte von 12 bis 24 Monaten, wo nach solider Vorbereitung bei einer Verpflichtungszeit zwischen 18 und 24 Monaten auch ein Auslandseinsatz dabei sein könnte. Ein solcher Kurzdienst müsste von vornherein attraktiv gestaltet sein. Beide Seiten könnten sich gegenseitig erproben. Der junge Mann, die junge Frau, kann sehen, das ist was für mich oder auch nicht, ich kann verlängern.

Allerdings reicht es nicht, nur über die Frage von Wehrpflicht und Alternativen zu sprechen. Diese Diskussion muss eingebettet sein in eine wirklich breite sicherheits- und friedenspolitische Debatte in Politik und Gesellschaft über bestimmte Anlässe hinaus. Bei dieser breiten Debatte muss es um Fragen gehen, die vielleicht in der sicherheitspolitischen Community geklärt sind, aber keineswegs in der Gesellschaft: Was soll, was kann Bundeswehr leisten im Rahmen unserer sicherheitspolitischen Vorgaben? Welche anderen Fähigkeiten brauchen wir zur Krisenbewältigung über Bundeswehr hinaus? In Zeiten der viel beschworenen vernetzten und umfassenden Sicherheit und angesichts wachsender Risiken  in etlichen Krisenregionen: Wie können für diese Aufgaben nicht nur genügend kompetente Soldaten entsandt, sondern auch genügend kompetente Polizisten, Friedensfachkräfte, Entwicklungshelfer gewonnen werden. Denn diese gehen alle freiwillig!

Zusammengefasst: Der 11. Beirat für Fragen der Inneren Führung stellte 2003 fest, die Wehrpflicht müsse sinnvoll sein. Der Dienst muss für die Wehrpflichtigen einleuchtend sein. Er muss für die Bundeswehr nützlich sein, die Gesellschaft muss ihren Wert erkennen. Das sind lauter richtige Anforderungen. Die Antworten darauf sind allerdings wenig überzeugend.  Deshalb bitte ich Sie, offensiv mit diesen Herausforderungen umzugehen und nicht auf das nächste Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu warten. Danke schön.

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