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Allgemeine Dienstpflicht, soziales Pflichtjahr? Eine Debatte mit Chancen, wenn sie zu den Kernfragen kommt. Anmerkungen eines Intensivtäters in Freiwilligem Engagement

Veröffentlicht von: Nachtwei am 11. August 2018 18:43:09 +01:00 (24157 Aufrufe)

Der Autor: Seit 1960 freiwilliges bürgerschaftliches Engagement, 1995-2009 im Bundestag Streiter für die Abschaffung der Wehrpflicht und für Freiwilligendienste. Anmerkungen zur neuen (x-ten) Debatte zu einer allgemeinen Dienstpflicht. Die Debatte bietet Chancen, WENN ... (mit Links zu Beiträgen aus Wehrpflicht/Pflichtdienst-Debatten von 1996, 2004 und 2008)   

Allgemeine Dienstpflicht für alle?

Eine Debatte mit Chancen, wenn sie zu den Kernfragen kommt

Winfried Nachtwei, MdB 1994-2009 (August 2018)

Kevin Kühnert, Juso-Vorsitzender „hält die von der CDU angestoßene Diskussion über eine allgemeine Dienstpflicht für eine Stellvertreterdebatte. Es gehe in erste Linie darum, politische Missstände wie etwa den eklatanten Personalmangel in Pflegeberufen zu kaschieren, sagte er im Deutschlandfunk. Den Mangel an Personal in den Pflegeberufen könne eine wie auch immer geartete Dienstpflicht jedoch nicht beseitigen. Denn die Arbeitskräfte, die mit der Verpflichtung in Pflegeberufen arbeiten würden, seien ungelernt - und könnten allenfalls kleine Hilfstätigkeiten ausführen, erklärte Kühnert. Der Debatte fehle daher jede Nachhaltigkeit.“(DLF 07.08.2018)

Heribert Prantl, SZ: „Das soziale Pflichtjahr für alle ist ein Beitrag für eine starke Demokratie.“ (…) Es „tut den jungen Menschen gut, es tut dem Gemeinwesen gut, es tut dem Land gut. Es ist ein Einstieg in die soziale Wirklichkeit, es ist ein soziales Erfahrungsjahr.“ Ein „Anti-Egoismus-Jahr.“ „Ein soziales Pflichtjahr ist zwar bisher nicht herkömmlich, dafür aber ist es sehr bekömmlich.“ (SZ 07.08.2018) Sein Kollege Joachim Käppner, der die Rückkehr zur Wehrpflicht ablehnt: Ein allgemeines Dienstjahr „könnte wertvolle Lebenserfahrung bringen. Ob der Gemeinsinn aber wirklich so geschwunden ist, dass man ihn von Staats wegen verordnen muss?“ (SZ 06.08.2018)

ZDF-Politbarometer 10.08.2018: Für allgemeine Dienstpflicht 68% der Befragten; 77% der Unionsanhänger, 72% bei AfD, 66% bei Grünen, 65% bei FDP, 62% bei SPD, 52% bei Linke.

CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer hat nach Ende ihrer „Zuhörtour“ durch ihre Partei eine Debatte über die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht angestoßen. Zu einem Thema, das offenbar Teile der eigenen Mitgliedschaft umtreibt, eine Debatte im Hinblick auf ein neues Grundsatzprogramm im Jahr 2020 voranzutreiben, ist nicht nur völlig legitim. Es ist auch ungewohnt demokratisch. Die Debatteninitiative als Sommerlochthema abzutun, ist kurzsichtig.

Das Debattenthema hat sofort gezündet, weil es die Menschen in Deutschland querbeet, darin alle Schulabgänger und ihre Eltern, betrifft und weil es elementar strittig, z.T. ideologisch aufgeladen ist.

Meine Bewertung: Als jemand, der seit 1960 intensiv freiwillig-bürgerschaftlich engagiert ist und seit 1995 im Bundestag für die Abschaffung der Wehrpflicht und die Stärkung von freiwilligem Engagement gestritten hat, halte ich heute eine Rückkehr zur Wehrpflicht für sicherheitspolitisch nicht seriös begründbar und zu rechtfertigen. Ein solcher Schritt wäre doppelt kontraproduktiv: Er würde die Bundeswehr in eine erneute Umstrukturierung stürzen und ihre aktuelle Einsatzfähigkeit beeinträchtigen. Verbunden mit einer deutlichen Personalaufstockung würde nach außen ein Signal der Aufrüstung gesetzt.

Meine früheren erheblichen Bedenken gegenüber einer allgemeinen Dienstpflicht sind keineswegs hinfällig geworden. Ich frage mich aber, ob gravierend veränderte Rahmenbedingungen andere Schlussfolgerungen erfordern. Die Debatte um das Für und Wider einer allgemeinen Dienstpflicht bietet erhebliche Chancen: Sie berührt ungewöhnlich viele Menschen. Sie kann im besten Fall Klarheit und Verständigung fördern, wie bei bröckelndem gesellschaftlicher Zusammenhalt und Gemeinsinn zentrale Staats- und Gemeinschaftsaufgaben verlässlich wahrgenommen werden können.

  • Deshalb plädiere ich dafür, die Gelegenheit dieser Debatte um allgemeine Dienstpflicht – und damit auch bürgerschaftliches/freiwilliges Engagement und zentrale Staats- und Gemeinschaftsaufgaben – ernsthaft zu nutzen und nicht reflexhaft von vorneherein abzuwehren.

(1) Zentrale Staats- und Gemeinschaftsaufgaben, um die es hier geht (ausdrücklich jeweilige Milieugrenzen überschreitend)

- Gefahrenabwehr und Schadensbekämpfung im Innern (Bevölkerungsschutz, Katastrophenhilfe durch Freiwillige und Berufsfeuerwehren, Technisches Hilfswerk, Rettungsdienste, Hilfsorganisationen, insgesamt Behörden + Organisationen mit Sicherheitsaufgaben/BOS),

- Äußere Sicherheit, kollektive Friedenssicherung (vernetzter Ansatz von politischen, militärischen, zivilen und polizeilichen Komponenten) und gesellschaftliche Friedens- und Verständigungsarbeit, Humanitäre Hilfe, Internationale und Entwicklungszusammenarbeit, Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen,

- Pflege, soziale Dienste, Förderung des friedlichen Zusammenlebens,

- bürgerschaftliches Engagement in der Kommunalpolitik.

(2) Zu den veränderten Rahmenbedingungen gehören

- die demographische Entwicklung (zunehmende Alterung der europäischen Gesellschaften),

- zunehmende gesellschaftliche Vielfalt,

- Trends von Entsolidarisierung und Verlust sozialer Empathie, gesellschaftlicher Fragmentierung und Spaltung (auseinander driftende Gesellschaft), Autoritarismus und Demokratieverachtung in der Offensive,

- Veränderungen in der Berufswelt, die bürgerschaftliches Engagement erschweren  (zunehmende Mobilität, erschwerte Freistellungen),

- abnehmende Bindekraft von Organisationen, Verlust von Zusammenhalt, verändertes Sicherheitsgefühl und –bedürfnisse,

- teilweise wachsende Aggressivität (in sozialen Medien, gegenüber Rettungskräften),

- Wandel des – immer noch sehr breiten und lebendigen – freiwilligen und bürgerschaftlichen Engagements (Rückgang von verbindlichem und längerfristigen Engagement, mehr Spontanhelfer), im mittleren Vereinswesen zunehmend Probleme mit Vorstandsbesetzungen, Distanz jüngerer Leute und Zuwanderer gegenüber Vereinsarbeit,

- steigende Erwartungen an die Attraktivität von Freiwilligendiensten, wo viele sich einen Dienst mit maximal 390 Euro Taschengeld nicht „leisten“ können, wo Einsatzplätze z.B. im normalen Pflegedienst bei Freiwilligen weniger gefragt sind,

- wachsende Anforderungen der internationalen Friedenssicherung insgesamt (Nachholbedarf zivil und polizeilich, freiwillige Profis), zunehmende Professionalisierung von Streitkräften, teilweise schrumpfende Integration der Streitkräfte in der Gesellschaft (Rückzug aus der Fläche, gesellschaftliches Desinteresse).

Der Wandel der sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen (Erosion des Multilateralismus und internationaler Regeln, asymmetrische und hybride Bedrohungen, Krisenbeziehungen mit USA und Russland, sich häufende und näher rückende Krisen/Kriege) ist gravierend, fordert Personalverstärkungen, kann aber gegenwärtig eine Rückkehr zur Wehrpflicht nicht begründen und rechtfertigen.

(3) Notwendigkeit einer akteursübergreifenden Debatte + Klärung mit Blick für`s Ganze

Eine ressort- und akteursübergreifende Debatte ist deshalb so wichtig, weil bisherige Debatten um Personal- und Finanzausstattung, Nachwuchsgewinnung, Attraktivitätssteigerung sowie Wertschätzung von zentralen Gemeinschaftsaufgaben in der Regel punktuell und separat voneinander geführt wurden: mal zur Bundeswehr und Polizei, mal zur Pflege, bisweilen zu Freiwilliger Feuerwehr, THW und kommunalpolitischem Engagement, fast nie zur zivilen Friedenssicherung und –förderung. Insbesondere auf dem Feld der Friedens- und Sicherheitspolitik mangelt es notorisch an breiteren, die Grenzen von Fachöffentlichkeiten und Milieus überschreitenden, informierten Debatten. Die Erarbeitung des neuen sicherheitspolitischen Weißbuchs (2016) wie der Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ (2017) der Bundesregierung ging wohl mit nie dagewesenen Konsultationsprozessen der jeweiligen Fachöffentlichkeiten einher. Das Bemühen, Lage, Aufgaben und Instrumente dieser zentralen Politikfelder genauer zu bestimmen, blieb aber in der breiteren Öffentlichkeit ohne jede Resonanz. Deutsche Beteiligungen an internationalen Krisenengagements und Friedenseinsätzen werden überwiegend nur mit ihrer militärischen Komponente – und dann überwiegend skeptisch - wahrgenommen. Beim Engagement der Abertausenden deutschen Peacekeeper in verschiedenen Uniformen und Zivil spielt Freiwilligkeit eine erhebliche Rolle. Ihre Arbeit und Leistung bleibt weitgehend unsichtbar. (vgl. die Medienignoranz gegenüber den jährlichen Feiern zum Tag des Peacekeepes)

Hilfreich bei dem alle Jahre wieder auftauchenden Thema der allgemeinen Dienstpflicht wäre es, wenn wichtige Meilensteine früherer Dienstpflicht-Debatten berücksichtigt würden. Zum Beispiel die Argumentationshilfe der EKD „Freiheit und Dienst“ zur Frage einer allgemeinen Dienstpflicht und zur Stärkung von Freiwilligendiensten, Berlin/Hannover Juni 2006

( https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/ekd_texte_84.pdf  ). Vgl. auch meine Beiträge von 1994, 1996, 2004, 2008 im Anhang.

(4) Vorrang von freiwilligem Engagement

In einer Demokratie muss Freiwilligkeit Vorrang haben. Das zeigt sich im Grundgesetz wie im internationalen Recht, die vor dem historischen Hintergrund von Nazizeit und Sowjetherrschaft einen hohen Schutzwall gegen Zwangsarbeit errichteten.  (Die Europäische Menschenrechtskonvention verbietet in Artikel 4, 2 „Zwangs- und Pflichtarbeit“. Im selben Sinne das Internationale Arbeitsrecht)

Die Steuerpflicht, die Schulpflicht, die Pflicht zur Befolgung der Gesetze und die Möglichkeit einer „herkömmlichen, allgemeinen, für alle gleichen Dienstleistungspflicht“ (Art. 12, 2 GG) zeigen zugleich, dass auch die bundesdeutsche Demokratie nicht ohne staatsbürgerliche Pflichten auskommt.

Der Vorrang von freiwilligem Engagement muss sich darin niederschlagen, dass es seitens der Politik auch ernsthaft und handfest gefördert und gestärkt wird – und nicht nur in Sonntagsreden gepriesen wird.

(5) Schlüsselfragen

- Ist der Debattenvorstoß zur allgemeinen Dienstpflicht nur ein Sommerlochthema zur parteipolitischen Profilierung und, um von Missständen wie dem eklatanten Personalmangel in Pflegeberufen abzulenken?

- Eine allgemeine Dienstpflicht wäre ein massiver Grundrechtsingriff. Ein solcher lässt sich nicht mit guten Absichten und „Mir-hat`s-gutgetan-Erinnerungen“ an den Wehr- und Zivildienst rechtfertigen, sondern muss mit einem besonders dringenden, unabweisbaren  Bedarf des Gemeinwesens begründet, in Zielen konkretisiert und in seiner Wirksamkeit geprüft werden. (Wirkungsorientierung)

- Ausgehend von der Annahme, dass sich für Freiwilligendienste überwiegend diejenigen melden, die sich die Taschengeld-Entlohnung „leisten“ können und sowieso schon sozial motivierter sind: Kann eine allgemeine Dienstpflicht über die bisherige Klientel der Freiwilligendienste hinaus soziales Lernen/Gemeinsinn fördern und dem Verlust von Zusammenhalt entgegenwirken? Hätte eine allgemeine Dienstpflicht einen realen Mehrwert gegenüber  den jetzigen Freiwilligendiensten, die sowieso weiterzuentwickeln sind?

- Oder behindert ein Pflichtdienst eher Gemeinsinnförderung, wie es beim Zivildienst gelegentlich hieß?

- Wie wirkt ein Pflichtdienst auf die bisherigen Jugendfreiwilligendienste und die breite Landschaft des bürgerschaftlichen Engagements?

- Kann mit Hilfe einer allgemeinen Dienstpflicht die Nachwuchsrekrutierung für zentrale Gemeinschaftsaufgaben erleichtert werden? Und gibt es dazu keine sinnvollen Alternativen?

- Könnten überhaupt 600.-700.000 Einsatzplätze pro Jahr bereitgestellt werden – und zwar arbeitsmarktneutral und ohne schädliche Nebenwirkungen wie Entprofessionalisierung?

- Welche Faktoren behindern eine größere und ausgewogenere Nutzung des Potenzials an Freiwilligen in der Gesellschaft (es heißt, zwei von drei BewerberInnen auf einen Freiwilligendienstplatz bekämen eine Absage, beim Freiwilligen Ökologischen Jahr gebe es sechs Bewerbungen auf eine Stelle)? Mit welchen Maßnahmen (Kultur der Anerkennung, Wertschätzung, Erleichterung, Anreize) könnte die Zahl der Freiwilligendienstler deutlich erhöht werden – z.B. von 100. auf 200.000?

- Was geschah in der letzten Legislaturperiode seitens Bundesregierung und Bundestag, freiwilliges und ehrenamtliches Engagement zu stärken?

(6) Die Chance der Debatte würde vertan, wenn

- Befürworter der allgemeinen Dienstpflicht das Thema primär zur eigenen „konservativen“ Profilierung und Identitätsstärkung (nach dem Verlustschmerz durch Aussetzung der Wehrpflicht) nutzen und vom primären Handlungsbedarf (Attraktivitätssteigerung jeweiliger Berufsfelder, Stärkung des freiwilligen Engagements) ablenken, dies vernachlässigen würden;

- Gegner der allgemeinen Dienstpflicht das berechtigte Loblied auf freiwilliges Engagement verabsolutieren, die begrenzte Reichweite bisheriger Freiwilligendienste, prekäre Nachwuchslagen bei zentralen Gemeinschaftsaufgaben und generell schrumpfenden Gemeinsinn ausklammern würden.

Abwegig sind erste Äußerungen, die einen Pflichtdienst heute mit seiner Vielfalt und seinen ganz anderen Zielen in ein eine Reihe stellen mit dem Reichsarbeitsdienst der Nazis.

(7) Immer wiederkehrende Debatte

Die Frage der Wehrform – und damit verbunden der allgemeinen Dienstpflicht – ist seit Jahrzehnten immer wieder Thema. In der rot-grünen Koalition 1998-2005 war der Streit um die Wehrform ein harter Dauerdissens. Unser Vorschlag eines freiwilligen flexiblen Kurzdienstes stieß 2004 auf viel Zustimmung. (s. Anhang Nr. 4)

- Beim „Forum Wehrpflicht“ von Beirat Innere Führung, Reservistenverband und Bundeswehrverband in Berlin am 23. September 2008 sprach ich zu den grundlegenden sicherheits- und gesellschaftspolitischen Zielen und Anforderungen an eine Wehrform, zur fragwürdig gewordenen sicherheitspolitischen Notwendigkeit, gar Unverzichtbarkeit der allgemeine Wehrpflicht, zur hinfällig gewordenen Legitimität und Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs, schließlich zu unbestreitbar nützlichen Seiten der Wehrpflicht und zu möglichen Alternativen. (Redetext s. Anhang Nr. 3)

- Über viele Jahre erlebte ich auf Seiten der Wehrpflichtbefürworter viel Verklärung der Wehrpflicht, wo neben dem richtigen Interesse an der Integration der Streitkräfte in der Gesellschaft das ausschlaggebende Motiv für das Festhalten an der  an der „Restwehrpflicht“ die leichtere Nachwuchsgewinnung war.

- Als Verteidigungsminister zu Guttenberg 2011 „über Nacht“ den Ausstieg aus der Wehrpflicht durchsetzte und bisherige Wehrpflichtverteidiger in der Union und in der Bundeswehr plötzlich „unsere“ Argumente im Munde führten, da erlebte ich das mit sehr gemischten Gefühlen: Von etlichen anderen Verbündeten wussten wir, dass der Hals-über-Kopf-Umstieg von der Wehrpflicht zur Freiwilligenarmee sehr problematisch gelaufen war. Und die Kehrtwende der vielen Wehrpflichtverteidiger, die über Jahre unsere Argumente an sich hatten abprallen lassen und die sich jetzt von zu Guttenberg kampf-, ja diskussionslos „überwältigen“ ließen, war ein Höhepunkt des politischen Opportunismus.

- Am 28. Januar 2015 führte der Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“ des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ein Fachgespräch zu „Nachwuchsgewinnung im klassischen Ehrenamt“ durch, Kurzprotokoll unter https://www.bundestag.de/blob/362490/bc5c196feeb486a7101d9e5ac6562aff/9_sitzung_kurzprotokoll_oeff-data.pdf  . 

- 28.01.2015 erschien in der ZEIT „Haltet zusammen! Wir sind dabei, eine Gesellschaft sozialer Autisten zu werden. Deutschland braucht ein soziales Pflichtjahr. Ein Plädoyer“ von Rudi Novotny (Zeit 04.09.2014, https://www.zeit.de/2014/37/freiwilliges-soziales-jahr-plaedoyer#comments ) 2017 votierte Christian Schwägerl in der ZEIT für eine allgemeine Dienstpflicht für junge Leute: „Stresstauglich werden in turbulenten Zeiten“ (02.02.2017)

- Die Bundesdelegiertenversammlung des Reservistenverbandes Ende 2015 beschloss, dass sich der Verband und insbesondere seine unterjährig tagenden Satzungsorgane „für die Beendigung der Aussetzung der Wehrpflicht, hilfsweise für die Einführung eines „Verpflichtenden Dienstjahres“ einsetzen.“

Sicherheitspolitisches Form des Reservistenverbandes am 22. Juni 2016 in Berlin unter dem Thema „Nationale Krisenvorsorge: Brauchen wir mehr Staatsbürgerliches Engagement? Einführung eines Freiwilligendienstes oder einer Dienstpflicht“. Bei einer Podiumsdiskussion sprach Dr. Michael Heidinger, Bürgermeister von Dinslaken/SPD, prononciert für eine Dienstpflicht, Roderich Kiesewetter, CDU-MdB und Präsident des Reservistenverbandes, für eine „smarte Dienstpflicht“, Michael Leuters, MdB Linke, und ich gegen eine Dienstpflicht. In einer Expertenrunde sprachen Prof. Michael Wolffsohn und Hans-Ulrich Jörges, Stern („Holt die Wehrpflicht zurück!“ sein Zwischenruf vom 13.08.2015), und Hauptmann d.R. Karoline von Plüskow für Dienstpflicht, der Völkerrechtler Prof. Stephan Hobe, Generalleutnant Eberhard Zorn, BMVg, Albrecht Bromme, Präsident des THW und der ehemalige Generalinspekteur und Präsident der Johanniter Unfallhilfe, Hans Peter von Kirchbach, eher dagegen.

- Fachgespräche der grünen Bundestagsfraktion: am 17. März 2017 „Dringend gesucht: Ehrenamtliche für die Blaulichtorganisationen“, (

 https://schulz-asche.de/fachgespraech-blaulichtorganisationen-ehrenamtliche-dringend-gesucht/ ), im April 2017 „Vielfältig. Gemeinsam. Engagiert. Freiwilligendienste weiterentwickeln“ (https://www.gruene-bundestag.de/buergerschaftliches-engagement/engagement-weiterentwickeln-12-05-2017.html ); Anträge der grünen Fraktion „Das freiwillige und ehrenamtliche Engagement im Bevölkerungsschutz und der Katastrophenhilfe stärken“, Drs. 18/12802 vom 21.06.2017 (http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/18/128/1812802.pdf ) , „Freiwilligendienste ausbauen und attraktiver machen“, Drs. 18/12804 vom 21.06.2017 (http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/18/128/1812804.pdf  )

(8) Wichtige Fakten

Sehr hohe rechtliche Hürden gegenüber der Einführung eines Pflichtdienstes außerhalb der Wehrpflicht auf nationaler und internationaler Ebene; nur über sehr breiten Konsens (Zweidrittelmehrheit) politisch veränderbar.

Laut Freiwilligen-Survey 2014 (erschienen 2016) engagieren sich in Deutschland 31 Millionen Menschen für gemeinnützige Zwecke, im Vergleich zu vor 15 Jahren ein Anstieg um 10%. Am meisten für Sport, dann Kindergarten, Schule, Kultur, Musik.

In Freiwilligendiensten seit Jahren alljährlich mehr als 100.000 Personen (ein Siebtel eines Jahrgangs): Davon

  - rund 60.000 im Freiwilligen Sozialen und Freiwilligen Ökologischen Jahr,

  - 40.000 Plätze beim Bundesfreiwilligendienst (vor allem Pflege, Krankenhäuser, andere medizinische und Fürsorgeeinrichtungen), davon 15.000 aus Altersgruppen über 25 Jahre;

  - bis 12.000 Plätze im Freiwilligen Wehrdienst (zzt. rund 8.500 besetzt).

Blaulichtorganisationen: Im Hilfsorganisationen, Rettungs- und Sanitätsdiensten, Freiwillige Feuerwehr und THW insgesamt 1,7 Mio. Ehrenamtliche und Freiwillige; in Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe Freiwilligenanteil bei 90%. Außer bei der Polizei erhebliche Rückgänge: Freiwillige Feuerwehr zzt. 1,1 Mio., stark abnehmend, Prognose -30% (Berufsfeuerwehren allein in großen und größeren Städten, bundesweit gut 100. Darüber hinaus 24.000 Wehren der Freiwilligen Feuerwehr. Erhebliche Nachwuchsprobleme im ländlichen Raum. In einigen Orten, vor allem in Norddeutschland, Bildung von Pflichtfeuerwehren, zu den Gemeinden Bürger einziehen); beim THW (1% Hauptamtliche) nach Wehrpflichtaussetzung zunächst Halbierung der männlichen Helfer.

Pflege: In nächsten 15 Jahren Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen um 50% auf über 3 Mio.; eine halbe Mio. Fachkräfte würden dann fehlen; Krankenpflege: allein in der Uni-Klinik Münster sind 100 Vollzeit-Pflegestellen nicht besetzt; in Deutschland kommen 13 Patienten auf eine Pflegkraft, in Niederlande und Schweden die Hälfte (Westf. Nachrichten 26.01.2018).

Neue Wege/Ansätze zur Förderung des freiwilligen Engagements: z.B. Projekt INKA (Professionelle Integration von freiwilligen Helfern in Krisenmanagement und Katstrophenschutz), Projekt „Blaulichtzwerge“ in Kita`s (Erste Hilfe, bisher 500.000 über JUH, „Ersthelfer von morgen“), Kinderfeuerwehren wie die „Löschbiber“.

ZDF-Politbarometer am 10. August 2018: Für eine Wiedereinführung der Wehrpflicht 43%, 53% dagegen, von Unionsanhängern 50% dafür, von SPD-Anhängern 35%, von AfD-Anhängern 67%, FDP 53%, Linke 13%. Grüne 26%.

Für eine allgemeine Dienstpflicht insgesamt 68%, Altersgruppe 18-34 Jahre 60% (bei Frauen 68%), 35-59 Jahre 66% (Frauen 62%), ab 60 Jahre 73% (Frauen 78%).

ANHANG

(1) Veröffentlichungen von W.N. zu freiwilligem + bürgerschaftlichem Engagement:

- Berichte von der Verleihung des Preises des Westfälischen Friedens/Jugendpreis, z.B. 2014, an die Jugendarbeit des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge (http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=99&aid=1321 )

- Winfried Nachtwei – Engagement in vielen Facetten. Persönlicher Bericht in Berthold Tillmann, Annette Zimmer (Hrsg.), Investitionen in Gemeinschaft und Gesellschaft – Soziales Unternehmertum in Münster, Münster 2011

- W. N., Jährliche Berichte vom Tag des Peacekeepers in Berlin 2013-2018,

http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1532

- W. N., Entschieden für Frieden – 20 Jahre forumZFD. Ein großer Grund zum Feiern, Juni 2016, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1408

- W.N., Festrede zu 20 Jahre „Lachen Helfen e.V.“, Initiative von Soldaten und Polizisten in Krisen- und Kriegsgebieten, 02.09.2016, http://lachen-helfen.de/wp-content/uploads/2016/09/2016_02_09_Nachtwei_Festrede.pdf  

(2) Veröffentlichungen zur Wehrpflicht-Freiwilligenarmee-Debatte 2004-2009 unter

http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=view&catid=71 )


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

Tagebuch