"Vom Terror zum Kalifat" - sehr erhellender Beitrag von Winrich Kühne zur Komplexität der dschihadistischen Expansion von IS und anderen. Symptombehandlung reicht nicht!

Von: Nachtwei amSa, 04 Oktober 2014 09:50:06 +01:00

Humanitäre und militärische Nothilfe gegenüber dem Ansturm der IS-Terrorarmee ist notwendig, reicht aber ganz und gar nicht aus. Viel zu wenig im Blick ist bisher, wie weit und tief die Expansion von dschihadistischen Bewegungen (und transnationaler organisierter Kriminalität) reicht und wie unzureichend die Internationale Gemeinschaft und Deutschland demgegenüber aufgestellt sind. Da ist der Beitrag des Afrika- und UN-Experten Winrich Kühne ausgesprochen hilfreich. 



„Vom Terror zum Kalifat – Wie korrupte Eliten,

Bevölkerungsexplosion und organisierte Kriminalität

die dschihadistische Expansion fördern“

Sehr erhellender Beitrag von Winrich Kühne

Wie den Vormarsch der IS-Terrorarmee in Nordirak und Syrien stoppen und zurückdrängen? Wie die hunderttausenden fliehenden Menschen retten, die gigantische humanitäre Katastrophe eindämmen? Das ist schon schwierig genug.

Aber die Bedrohung reicht viel weiter und geht tiefer. IS und Boko Haram sind nur die Spitze einer viel grundsätzlicheren Entwicklung, die sich vom Nahen Osten über die Arabische Halbinsel und das Horn von Afrika bis hin zum Sahel und nach Westafrika vollzieht.

Hierzu der Beitrag von Winrich Kühne auf ipg-Journal (Internationale Politik und Gesellschaft) der Friedrich Ebert Stiftung: www.ipg-journal.de/kommentar/artikel/vom-terror-zum-kalifat-581/ . Der Gründungsdirektor des Zentrums Internationale Friedenseinsätze (ZIF) und heutige Steven-Muller-Professor am SAIS Europe in Bologna schildert den „Qualitätssprung“ heutiger islamistisch-dschihadistischer Bewegungen auch in Nigeria, Libyen, Jemen hin zur Errichtung von „Islamischen Kalifaten und Emiraten“. Demgegenüber reagiere der Westen und die Internationale Gemeinschaft bisher überwiegend durch „erratische ad-hoc-Aktionen“. Jahrelange Maßnahmen zur Rechtsstaatsförderung und Reform des Sicherheitssektors hätten ebenso wie militärische Ausbildungs- und Ausstattungshilfe wenig an der dschihadistischen Expansion ändern können.

Im Wesentlichen würde diese komplexe Expansion durch das Zusammenspiel von vier Bereichen angefeuert: marode politische Systeme und korrupte Eliten, religiöser Fanatismus, transnational organisierte Kriminalität und die dramatisch wachsende Zahl von Jugendlichen ohne Perspektive.

Welche erfolgversprechenden Ansatzpunkte gibt es für eine Bekämpfung der Expansion von Dschihadismus und organisierter Kriminalität, die nicht bei Symptombehandlung stehen bleiben und bisher gescheiterte Ansätze wiederhole? Und was kann der Westen überhaupt dazu beitragen? Hierzu gibt Winrich Kühne so nüchterne wie wichtige Hinweise.

(Vgl. Winrich Kühne: Westafrika und der Sahel im Sog der organisierten Kriminalität und des internationalen Terrorismus – zum Start der UN-Mission in Mali, ZIF Policy Briefing Juli 2013, www.zif-berlin.org/fileadmin/uploads/analyse/dokumente/veroeffentlichungen/ZIF_Policy_Briefing_Winrich_Kuehne_Juli_2013.pdf )

Kommentar: Mir drängt sich in diesen Wochen immer wieder der Vergleich mit den Krisenjahren 1998/1999 (Kosovo) und 2001 (Al Qaida und Afghanistan) auf. Auch wenn „der Westen“ direkt heute weniger getroffen ist – das Bedrohungspotenzial der heutigen dschihadistischen Expansion und die damit eskalierende humanitäre Katastrophe stellt die vorherigen Großkrisen in den Schatten. Und dann dazu die Ebola-Epidemie, die sowieso schon schwache Staaten zerstören kann, und der Krieg in der Ostukraine.

Ich habe nicht den Eindruck, dass die Komplexität dieser transnationalen Bedrohung bisher zureichend im Blick ist. Erst Recht sehe ich nicht, dass internationale, europäische und deutsche Politik zureichend für den steigenden Pegel interkontinentaler Bedrohung, für ein beschleunigtes Krisen-Multitasking aufgestellt und gewappnet ist. Die eingeschränkte Einsatzbereitschaft der Bundeswehr scheint mir nur die Spitze eines Eisbergs eines umfassenden Mangels an Einsatzbereitschaft zu sein. Anderswo fällt es nur weniger auf.