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Afghanische Menschenrechtsverteidigerin akut mit dem Tod bedroht - Ihr + ihrer mutigen Arbeit begegnete ich 2008 in Kunduz - "Die Taliban arbeiten Todeslisten ab": NOTRUF!

Veröffentlicht von: Nachtwei am 3. April 2021 09:18:26 +01:00 (42708 Aufrufe)

Seit Monaten erschüttet eine Kampagne gezielter Morde an Medienleuten, Regierungsmitarbeitern, zivilgesellschaftlichen Akteuren Afghanistan, meist ohne Bekennermeldung und dadurch noch bedrohlicher. Jetzt ist eine tapfere Menschenrechtsaktivistin, die 36-jährige Marzia Rustami, akut mit dem Tod bedroht. Wir lernten sie mit ihrer Peacebuilding-Arbeit im August 2008 in Kunduz kennen. JETZT IST SCHNELLE NOTHILFE ANGESAGT! Dazu habe ich einem Staatsminister im Auswärtigen Amt und mehreren Bundestagsabgeordneten geschrieben. Hier (1) der Notruf, (2) ein SPIEGEL-Interview, (3) Auszug meiner Schreiben nach Berlin, (4) Auszug Reisebericht 2008, (5) Berichte von der Kunduzbesetzung 2015. Ich bitte um politische Unterstützung!!!       

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Afghanische Menschenrechtsverteidigerin akut mit dem Tod bedroht –

Ihr und ihrer mutigen Arbeit begegneten wir 2008 in Kunduz

„Die Taliban arbeiten Todeslisten ab“ (SPIEGEL-Interview)

Winfried Nachtwei, 30.03.2021

(Fotos auf www.facebook.com/winfried.nachtwei )

Am 25. März 2021erreichte mich per  E-Mail der folgende alarmierende Notruf von Mariza Rustami, die sich seit 2004 in Kunduz für Frauen- und Menschenrechte und Peacebuilding in verschiedenen afghanischen und internationalen Organisationen engagiert – und das unermüdlich trotz der Überfälle und zeitweiligen Besetzung der Stadt durch die Taliban in den letzten Jahren.

Bei einer Abgeordnetenreise nach Süd- , Zentral- und Nordafghanistan waren wir im August 2008 mit der Menschenrechtsaktivistin in Kunduz zusammengetroffen. Hierüber und über die Arbeit des „Educational Training Center for poor Woman and Girls in Afghanistan“ (ECW) berichte ich in meinem Reisebericht „Viele Lichtblicke bei immer mehr Düsternis“. (s.u.) Zur Delegation gehörten auch Kerstin Müller, MdB (Grüne) und ehemalige Staatsministerin im Auswärtigen Amt, und Niels Annen, MdB (SPD), heute Staatsminister im Auswärtigen Amt, Uns begleitete ZEIT-Reporter Dr. Stefan Willeke, heute Chefreporter und Mitglied der Chefredaktion der ZEIT.

Gegenwärtig ist Frau Rustami Regionalmanagerin beim Afghan Women Network (AWN) in Northeast Afghanistan.

Am 25. März beschloss der Deutsche Bundestag die Fortsetzung der deutschen Beteiligung am NATO-geführten Einsatz „Resolute Support“ In der 30-minütigen Debatte gingen mehrere Redner*innen mit besonderer Emphase auf das Schicksal der afghanischen Frauen ein, die Fortschritte gegenüber der Talibanzeit und den drohenden roll back.

Am 29. März erschien auf Spiegel-Online das Interview „Die Taliban arbeiten Todeslisten ab“ von Susanne Koelbl mit Mariza Rustami.

Am 31. März forderte ich in einer E-Mail an AA-Staatsminister Niels Annen die Bundesregierung eindringlich zu schneller Nothilfe auf. Weitere Hilferufe richtete ich an Abgeordnete meiner früheren Fraktion und Abgeordnete von CDU und SPD, die am 25. März in der Mandatsdebatte gesprochen hatten.

Am selben 31. März beschloss das Bundeskabinett ihren Umsetzungsbericht zu den Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ von 2017. In diesen heißt es:

„Frieden ist auf Dauer nur dort gewährleistet, wo die universellen Menschenrechte eingehalten werden. Die Politik der Bundesregierung folgt einer konkreten Verpflichtung: Menschen vor Verletzungen ihrer Rechte und Grundfreiheiten zu schützen und tragfähige Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Unterdrückung, Willkür und Ausbeutung keine Chance haben. Wo immer sich Deutschland für Krisenprävention, Konfliktbewältigung und Friedensförderung engagiert, kommt dem Schutz der Menschenrechte zentrale Bedeutung zu. Die Unterstützung und der Schutz von Menschenrechtsverteidigerinnen und –verteidigern ist ein fester Bestandteil dieser Politik.“ (S. 50, https://www.auswaertiges-amt.de/blob/283636/d98437ca3ba49c0ec6a461570f56211f/leitlinien-krisenpraevention-konfliktbewaeltigung-friedensfoerderung-dl-data.pdf   )

 (1) Der Notruf von Marzia Rustami

„Dear Mr. Winfried Nachtwei,

This is Mariza Rustami Human Right defender from Kunduz, Afghanistan. You may remember you made a report from my work about peacebuilding when I was with ECW on 2008, as success story the link is bellow:

http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=81-90&aid=739&theme=print

 

During these years I did a lot for protecting and defending from human rights, promoting peace and mobilizing women and youths in different sectors, but now I am in a very horrible situations, and I got you address from Ms. Sussane Koelbl and want to share my problem with you and request for your advice and support, I will write there shortly my story and if you are interested to know more I can write in detail for you.

Afghanistan condition is very worse I am in very difficult and dangerous situation, may I lost my life or some of my children and other family members, we are under threat of Taliban and they just kidnapped my brother-in-law on 28th of Feb 2021 and killed him and send his bloody body to us which it effect badly on each of us, and then they took his photo before and after shooting by his own mobile phone and published on his personal facebook account, the screenshot is attached with this e-mail, then two days later they came after me and my husband because I was in Taliban's list of terror and we could left our house (…) and I could not go back to my house again, and I came to Kabul by supporting (…) and currently I am living in a shelter, I could not send my children to school and I am not able to leave the shelter because outside is very dangerous to me and my family, I work more then 16 years for defending human rights and promoting peace but when now I am under threat  and I refer to security officials they said that I should take a gun and defend from myself and my family, (…) I am hopeless and I think all the doors are closed on me, I just remember you that my you can give me some advice and support me that I can exit from this difficult situation,

Kabul is not safe for me because Taliban targeted me and my family and they are looking for us 😭 (…).

I need to leave the country very urgently

I need support, My kids just afraid and they scared during night and always asking me that why Taliban kill us, why they kill my uncle 💔 😢 😔  but I don't have any response for them

Today also Taliban came to my relatives and said to them that we kill Marzia and her husband and we will find them.

Most of the Embassies don't have consulate services that is very difficult to get visa for going out of Afghanistan

my mind does not work and I am very much worry about my future

I contacted Amnesty international they said that they can`t support me to go out, just they can provide me a letter , I contacted with UNAMA they also said that they can`t support me to go out and they just can provide me a supporting letter, and I contacted with some national organization that they support human right defenders I faced with same answer, it means no one is hear to support one who worked to promoting human rights and safety for women under threat but now I am alone and all the doors are closed, it seems international community is busy with welcoming Taliban who killed and are killing many people and provide them read carpet and they forget the people like me who work toward achieving the  internationals humanity dreams but now all are changed and no one is take care of the people like me! 

I don't know is there any possibilities there, any organization that can support us to go out from Afghanistan 

Last but not least I am currently working with Afghan Women Network (AWN) as regional  Manager in northeast of Afghanistan

I hope you can give me some advices or find out any option for me, I have a lot of hope 

Looking forward to hearing back from you 

Best

Marzia“

(2) Afghanistan - „Die Taliban arbeiten Todeslisen ab. Mein Name steht drauf“, SPIEGEL-Interview von Susanne Koelbl, 27.03.2021, 29.03. auf SPIEGEL-ONLINE

„Mehr als 16 Jahre lang engagierte sich Marzia Rustami, 36, in der nordafghanischen Stadt Kunduz für Menschenrechte, unter anderem bei der damaligen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit. Nun kehren die Taliban zurück und jagen ihre Gegner. Rustami wird mit dem Tod bedroht und hält sich versteckt.

SPIEGEL: Frau Rustami, die Taliban haben Kunduz mehrfach überfallen, trotzdem haben sie ausgehalten. Warum sind Sie nun geflohen?

Rustami: Die Taliban führen Todeslisten, die sie jetzt abarbeiten. Darauf stehen Personen, die nicht mit ihnen kooperieren wollen. Mein Name steht auf einer dieser Listen.

SPIEGEL: Wie ernst nehmen Sie die Drohung?

Rustami: Es geht um Leben und Tod. Am 28. Februar kamen die Taliban zu unserem Haus in Kunduz im Distrikt 3. Mein Schwager arbeitete in der Stadt bei der Drogenbekämpfungs-behörde, es kam zu einem Handgemenge. Er und mein Mann stehen ebenfalls auf der Liste. Mein Mann konnte entkommen, mein Schwager nicht, er wurde fünf Kilometer außerhalb der Stadt erschossen. Die Bilder seiner Ermordung luden die Taliban auf seinem eigenen, zu diesem Zeitpunkt noch offenen Facebook-Account hoch. Sie suchten auch nach mir.

SPIEGEL: Was genau werfen die Taliban Ihnen vor?

Rustami: Sie werfen mir vor, ich hätte gemeinsame Sache mit den Feinden Afghanistans gemacht und mit den Ausländen zusammengearbeitet. Wir haben Frauen ausgebildet, damit sie sich in er Kommunalpolitik und in der Gesellschaft engagieren können. Wir halfen Opfern von häuslicher Gewalt und verstanden uns als Vermittler zwischen religiösen Führern und der Gemeinde. Wir gaben denen eine Stimme, die keine Stimme haben. Die Taliban mögen es nicht, wenn Frauen ermutigt werden, sich zu bilden und sich an Entscheidungsprozessen zu beteiligen.

SPIEGEL: 2013 haben die Deutschen das Feldlager Kunduz nach zehn Jahren militärischer Präsenz aufgegeben. Was geschah seither?

Rustami: Unser Wirkungsraum ist mit jedem Jahr kleiner geworden. Ursprünglich warenwirin vier Provinzen tätig, aber irgendwann haben die Taliban um die Stadt herum Checkpoints errichtet. Seit dem zweiten Überfall der Taliban auf Kunduz, 2016, konnten wir uns nur noch in der Stadt bewegen.

SPIEGEL: Wie halten die Taliban die Bürger eute in Schach?

Rustami: Anfang 2020 erhielt ich einen Anruf von einem Repräsentanten der Taliban. Er bot an, ich könnte mich noch auf ihre Seite schlagen, ich sollte in ihrem Sine reden und sie auch finanziell unterstützen, andernfalls erwarte mich der Tod. Dabei nannte er meine Adresse und meine Arbeitsstelle, er wusste, welches Auto ich nutze, wann ich aus dem Haus gehe und wann ichzurückkehre. Eine Polizistin, die in der Nähe wohnte, war bereits ermordet worden. Ich verstand, dass es jetzt ernst war.

SPIEGEL: Seit wann gibt es Todeslisten?

Rustami: Das erste Opfer war ein Kollege, ein moderater Religionsgelehrter. Es geschah im Jahr 2014. Wir beide arbeiteten damals für „Women and Youth for Peace and Development“, eine von den USA unterstützte Hilfsorganisation. Die Taliban riefen ihn an und ließen ihn wissen, dass er und ich auf ihrer Todesliste stehen. Am nächsten Tag wurde er mit einer Autobombe getötet. Ich arbeitete weiter, bis vor drei Wochen.

SPIEGEL: Wo sind Sie jetzt?

Rustami: Nach dem Mord an meinem Schwager packten wir zwei Koffer und flohen in eine andere Stadt. Mein Mann, unsere vier Kinder und ich sind erst mal in einem Schutzhaus untergekommen, das afghanische Unterstützer bedrohten Menschenrechtsaktivisten zur Verfügung stellen. Wir haben unser Lebe gerettet. Wir können aber nur ein paar Wochen bleiben. Wir gehen fast nie raus, nachts lassen wir das Licht an, weil die Kinder Angst haben.

SPIEGEL: Was haben Sie vor?

Rustami: Es gibt hier niemanden, der uns auf Dauer schützt. Ich frage mich, wo ist die internationale Gemeinschaft jetzt? Ich bin entsetzt darüber, dass denen, die uns verfolgen, bei den Friedensverhandlungen in Doha und Ankara der rote Teppich ausgerollt wird, aber wir sollen sterben. Ich mache mir größte Vorwürfe. All die Organisationen und Repräsentanten, mit denen ich gearbeitet habe, sind heute fort und meine Familie wegen meiner Arbeit in tödlicher Gefahr. Ich wollte nie weg hier, ich liebe Afghanistan und Kunduz und meine Arbeit, aber jetzt muss ich fort. Ich suche ein Land, das uns aufnimmt.“

https://www.spiegel.de/politik/ausland/afghanistan-die-taliban-arbeiten-ihre-todeslisten-ab-mein-name-steht-darauf-a-fdac2243-a5a6-4f12-883a-884bb96cb81c

(3) Aktuell zu Marzia Rustami

- Auf Facebook https://www.facebook.com/marzia.rustami97/?ref=page_internal ;

https://www.facebook.com/marzia.rustami97/photos/?ref=page_internal

- UN Afghanistan: „A women who refused to stay at home“, 08.12.2020, https://afghanistan.un.org/en/102018-woman-who-refused-stay-home

- Women`s voices on peace heard in Kunduz“, reliefweb / OCHA, 14.03.2021, https://reliefweb.int/report/afghanistan/women-s-voices-peace-heard-kunduz

(4) Aus meinen Schreiben an Mitglieder der Bundesregieung und des Bundestages

AUSZUG:

„Vor wenigen Tagen erhielt ich per E-Mail den Notruf der Menschenrechtsaktivistin Marzia Rustami aus Afghanistan. Sie erinnerte mich daran, dass wir ihr bei einem Afghanistanbesuch deutscher Abgeordneter im August 2008 in Kunduz begegnet waren und von ihr über das gesellschaftliche Peacebuilding des „Educational Training Center for poor Women und Girls in Afghanistan“ (ECW) informiert wurden. (vgl. mein damaliger Reisebericht unter http://nachtwei.de/downloads/bericht/sommer2008_reisebericht-afgh_nachtwei )

Ihr Schreiben ist alarmierend. Sie wird von den Taliban offenbar mit dem Tode bedroht, nachdem schon ihr Schwager im Februar von den Aufständischen ermordet worden war. Sie dokumentierten das demonstrativ in den sozialen Medien. (…)

Die Unterstützung der jungen afghanischen Zivilgesellschaft und ihrer demokratischen Kräfte war seit 2002 immer ein zentrales Anliegen deutscher Afghanistanpolitik. In der deutschen Öffentlichkeit wurde dies leider viel zu wenig wahrgenommen.

Beim Eintreten für die Menschenrechte ist die Unterstützung von Menschenrechtsverteidigern ein Kernelement. Die Bedrohungslage von Marzia Rustami ist ein Ernstfall, wo dringend und schnell Nothilfe geleistet werden muss.

Mir ist bewusst, dass Politiker*innen nicht ständig in Einzelfällen aktiv werden können. In diesem Fall muss aber die Bundesregierung ihre Möglichkeiten nutzen, die mit dem Tod bedrohte Menschenrechtsaktivistin mit ihrer Familie aus Afghanistan in Sicherheit zu bringen.

Ich habe deshalb Staatsminister Niels Annen, der als MdB-Kollege an unserer Afghanistanreise im August 2008 teilgenommen hatte, am 31. März eindringlich um Nothilfe gebeten, ebenfalls den Referatsleiter AP05 im AA. Von beiden kamen heute erste gute Rückmeldungen.

Ich bitte Sie und Ihre Fraktionskolleg*innen, die Hilfsbereitschaft in der Bundesregierung angesichts dieser mit dem Tode bedrohten Menschenrechtsaktivistin zu stärken. Menschen wie Marzia Rustami sind erste Parter*innen einer menschenrechtsbasierten deutschen Außen- und Friedenspolitik. Hundertfach haben wir deutsche Bundestagsabgeordnete ihnen versprochen, wir würden sie nicht im Stich lassen. Ich erinnere mich an meine eigenen Worte bei einer ISAF-Mandatsdebatte, als erstmalig auf der Zuschauertribüne afghanische Parlamentarierinnen saßen. Die Gespräche anschließend waren unglaublich ermutigend. (…)

(5) Aus meinem Reisebericht: „Viele Lichtblicke bei immer mehr Düsternis – Besuch in West-, Süd-, Zentral-, Nord-Afghanistan“, September 2008, S. 32, http://nachtwei.de/downloads/bericht/sommer2008_reisebericht-afgh_nachtwei

(…) Gesellschaftliches Peace Building

Marzia Rustami vom “Educational Training Center for poor Women + Girls of AFG” (ECW) in Kunduz und die DED-Friedensfachkraft Corinna Vigier, die seit über zwei Jahren das Peacebuilding Department dieser NGO berät, berichten gemeinsam über Peace Building im Nordosten AFGs. Auch hier wird als erstes die Vielfalt der relevanten Konflikte betont – um Ressourcen (vor allem Nutzungsrechte von Wasser + Land), Familienkonflikte (arrangierte Ehen, Erbstreitigkeiten, Konflikte über Geschlechterrollen), Macht, Taliban vs. Regierung/Internationale. Bei Befragungen von afghanischen Vertretern von Zivilgesellschaft und Regierung in Kunduz, die ECW einige Monate zuvor durchgeführt hatte, war interessanterweise der Konflikt „Taliban vs. Regierung/Internationale“ für niemanden prioritär!

Verschärft werden die Konflikte durch die Rückkehrerproblematik, das explosive Bevölkerungswachstum zwischen 3,2-4,5% (!), hohe Arbeitslosigkeit und Analphabetenquote, Korruption und Vetternwirtschaft, bad governance (…), Agitation der Bevölkerung entlang ethnischer + religiöser Linien, geringe Islamkenntnis, mangelhafte Fähigkeiten zur Konfliktlösung, Kriegskultur, hohe Traumatisierung, Kleinwaffenschwemme (ein Mann mit weniger als drei Waffen gelte als „entwaffnet“) sowie durch ökologische Faktoren wie Dürre, unkontrollierte Abholzung und Umweltverschmutzung.

Der ECW Peace Building Ansatz zielt auf die Stärkung von Konfliktlösungsfähigkeiten innerhalb der afghanischen Gesellschaft durch Trainings mit Mullahs, Journalisten, Lehrern, Frauen + Jugendlichen, Zusammenarbeit mit bestehenden Strukturen (z.B. Shuren) und durch erfahrene afghanische Kräfte. Einzelaktivitäten waren zunächst Workshops in Kunduz, Baghlan + Takhar, Durchführung der „Peace Caravan“ zusammen mit der Mediothek (Dialogprojekt mit bekannten Persönlichkeiten, Musikern etc. zwischen Kunduz + Khost), Training in Friedens-Journalismus, Koordination des National Peace Days am 21. September.

Inzwischen legt ECW Peacebuilding Department seinen Schwerpunkt verstärkt auf internsivere + langfristigere Projekte wie z.B. dreiwöchige Trainings für 450 Shura-Mitglieder in Kunduz + Baghlan. Praktisch „nebenbei“ wurde auch ein   Workshop mit UNAMA-Mitarbeitern zu Konfliktanalyse und –lösung durchgeführt. Gerade angelaufen sind die Projekte „Shuras for Peace“ mit Religiösen und Frauen Shuren in Takhar + Kunduz (AA-gefördert) und „Youth`s Peace Network Kunduz“ (gefördert von DED/ZFD). Das ECW Peace Building Project mit seinen insgesamt 15 Personen hat inzwischen ein dreibändiges, reich illustriertes Peace Building Handbuch herausgegeben. Ein weiteres Projekt ist eine Kampagne (DED/ZFD gefördert) gegen Spielzeugwaffen für Kinder – mit Abstand das verbreitetste Geschenk für die Feiertage nach Ramadan, die dieses Jahr Ende September/Anfang Oktober stattfinden. („No Guns for Eid“)

(6) Berichte von der Kunduz-Besetzung im Herbst 2015

(Aus: W.N., „Stell Dir vor, es ist Krieg, ISAF geht, es gibt Kriegsopfer mehr denn je – und kaum jemand hierzulande sieht noch hin. Kommentar zur Resolute Support Debatte im Bundestag vor dem Hintergrund der zeitweiligen Eroberung von Kunduz, 22.12.2015, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1383 )

Was in Kunduz und in Afghanistan insgesamt ein Schock war, wurde 2015 von der deutschen Politik und Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Dabei war der Raum Kunduz von 2004 bis zum ISAF-Abzug so sehr ein Schwerpunkt deutschen Krisenengagements wie keine andere Konfliktregion in der bundesdeutschen Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik.

UN-Untersuchungsbericht zur Taliban-Besetzung von Kunduz am 28. September 2015 (12.12.2015)

https://unama.unmissions.org/sites/default/files/special_report_on_kunduz_province_12_december_2015.pdf

Während der Taliban-Offensiven in der Provinz Kunduz vom 24. April bis 13. Mai und 20. bis 30. Juni hatten die Aufständischen zunehmend Kontrolle über weite Teile der Provinz gewonnen. Zum Zeitpunkt des Angriffs kontrollierten sie das Verwaltungszentrum des Dasht-e Archi Distrikts, große Teile der Distrikte Chahar Darah, Qala-e Zal und Imam Shahib, zeitweise auch das Distriktzentrum von Chahar Darah.

Der gut geplante Angriff der Taliban auf Kunduz City traf auf wenig Widerstand. Die afghanischen Sicherheitskräfte wurden Richtung Flughafen getrieben. Sofort befreiten die Taliban über 600 männliche Häftlinge aus dem Gefängnis, einige wurden mit Waffen ausgestattet, um mit gegen die Sicherheitskräfte (ANDSF) zu kämpfen. In den Folgetagen gingen ANDSF, unterstützt von US-Soldaten, zum Gegenangriff über. Die heftigen Kämpfe dauerten bis zum 13. Oktober, als die Taliban ihren offiziellen Rückzug aus Kunduz bekanntgaben. Am 3. Oktober kam es trotz eindringlicher Vorwarnungen durch „Ärzte ohne Grenzen“ (MSF) zu einem US-Luftangriff auf ihr Krankenhaus, wobei 30 Menschen getötet (darunter 13 MSF-Mitarbeiter und zehn Patienten) und 37 verletzt wurden. Das Hospital war mit seiner Trauma-Behandlung einzigartig in der ganzen Nordostregion. (vgl auch Friederike Böge „Eine folgenreiche Verwechslung“, FAZ 26.11.2015 http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/asien/angriff-auf-das-krankenhaus-in-kundus-war-eine-folgenreiche-verwechslung-13934333.html )

Zivilopfer: Insgesamt sind lt. UNAMA in den mehr als zwei Wochen der Besetzung von Kunduz und den umliegenden Distrikten 280 Zivilpersonen getötet (davon 43 Frauen und 23 Kinder) und 559 verwundet worden. Der größte Teil der Menschen kam bei den Kämpfen zu Schaden. Die Gesamtzahl der Zivilopfer entspricht zehn Prozent aller Zivilopfer des ganzen Jahres 2014, dem Jahr mit den meisten Opfern, die seit 2009 von UNAMA dokumentiert wurden.

Taliban verlegten unterschiedslos wirkende Druckplatten-IED`s an Zufahrtsstraßen nach Kunduz und in zivilen Gebäuden vor ihrem Rückzug.

Zusammenbruch der Ordnung: Die Abwesenheit von staatlichen Organen, der Zusammenbruch von minimaler Recht und Ordnung führte in diesen zwei Wochen zu einer Schutzlosigkeit in Bezug auf die meisten fundamentalen Menschenrechte. Das Chaos ermöglichte ein Umfeld, in dem willkürliche Tötungen und andere Formen der Gewalt gegen Zivilisten und zivile Objekte, Kriminalität und Zerstörung von Eigentum um sich griffen.

Es gab etliche Berichte von gezielten Tötungen während des Angriffs und der folgenden Besetzung. Berichtet wurde von Zivilisten, die durch unbekannte Scharfschützen beim Besorgen von Lebensmitteln und Wasser getötet worden waren.

Mehrfach wurden Fälle berichtet, wo Taliban Zivilpersonen töteten (z.B. den Ehemann einer nicht anwesenden NGO-Mitarbeiterin), wo es zu Exekutionen im Rahmen einer Paralleljustiz kam. Die Beschuldigung: Arbeit für die Regierung oder die ANSF.

Entführungen: Zahlreich berichtet wurde von der Entführung ziviler Männer. Zwischen Kunduz und Takhar wurden Fahrzeuge und Lkw`s angehalten, junge Männer und Jungen ausgewählt und entführt. In den meisten Fällen ist ihr Verbleib bis heute unbekannt.

Razzien, v.a. nach Menschenrechts- und FrauenaktivistInnen: UNAMA bestätigt, dass in den ersten Tagen der Besatzung Taliban-Kämpfer systematisch Haus für Haus mit vorbereiteten Listen (Namen, Adressen, Organisation) nach zivilgesellschaftlichen und Frauenrechts-Aktivisten, öffentlich aktiven Frauen, nach Menschenrechtsverteidigern und Mitarbeitern von NGO`s und anderen internationalen Organisationen, einschließlich UNAMA, Journalisten, Anwälten, Richtern und Staatsanwälten durchsuchten. Da viele Taliban sich in Kunduz City nicht auskannten, konnten einige Frauenaktivistinnen entkommen. Als die gezielte Suche von weiblichen Menschenrechtsverteidigern im Land bekannt wurde, flohen andere Aktivistinnen aus Baghlan, Takhar, Badakhshan und Faryab – vielfach nach Kabul.

Die Organisiertheit und Koordination der Suche nach aktiven Frauen wirft Fragen auf. Etliche Interviewte äußerten die Befürchtung, dass Gruppen der bewaffneten Opposition Regierungsinstitutionen infiltriert hätten, die detaillierte Informationen über die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen haben. Die meisten wollen nicht mehr nach Kunduz zurückkehren.

Eingesperrte und Flüchtlinge: Während der Taliban- Besetzung mussten ca. 150.000 Einwohner trotz heftiger Kämpfe in Teilen der Stadt in ihren Wohnungen ausharren. Eingeschränkt war ihr Zugang zu Lebensmitteln, sauberem Wasser und Strom. Über 15.000 Familien flohen in andere Landesteile, die meisten in der Nordregion (8.300 Familien nach Taloqan, 1.200 nach Mazar-e Sharif, 1.550 nach Baghlan, 800 nach Badakhshan). Inzwischen sollen bis zu 8.000 Familien zurückgekehrt sein. Während der Kämpfe wurden alle 497 Schulen geschlossen, mehr als 350.000 Kinder konnten nicht ihre Schulen besuchen. 20 Schulen wurden beschädigt, vier Schulen wurden von Taliban wie ANDSF für militärische Zwecke missbraucht.

Plünderungen: Zu Beginn der Besetzung hatten die Taliban verkündet, Zivilisten, auch Regierungsangestellten würde nichts geschehen. Die Wirklichkeit sah anders aus. Taliban-Kämpfer und/oder Gelegenheits-Kriminelle plünderten das UNAMA Kunduz Office wie auch die Büros der Afghanischen Unabhängigen Menschenrechtskommission, mehrerer lokaler und internationaler NGO`s, Medien, des Departments für Frauenangelegenheiten und andere Verwaltungsbüros. In einigen Fällen stahlen Taliban aus den Büros vertrauliche Dokumente, Ausstattung, auch Fahrzeuge von NGO`s, UNAMA und humanitären Organisationen.

Von Taliban wie von Mitgliedern der ANDSF wurden Körper von Toten gestümmelt und geschändet.

Medien-Niederlassungen und Journalisten: Geplündert und zerstört wurden die Büros mehrerer Medien-Niederlassungen. In einigen Fällen suchten Taliban die Wohnhäuser von Journalisten auf, um ihren Aufenthaltsort zu ermitteln. Laut Afghan Journalists Safety Committee flohen während der Kämpfe mehr als 100 Journalisten aus der Provinz Kunduz. Besorgt waren etliche um das Wohlergehen ihrer Kontakte und Quellen, deren Details in den Büros in die Hände der Taliban gefallen waren.

Am 12. Oktober gab es einen ausdrücklichen Versuch, Journalisten zu bedrohen und einzuschüchtern. Die Militär-Kommission der Taliban verurteilte in einem Statement die Berichterstattung der zwei TV-Kanäle Tolo TV und 1TV und erklärte deren Niederlassungen zu „militärischen Zielen“ und die Mitarbeiter zu „Feindpersonal“. Die beiden Kanäle hatten vor her von Beschuldigungen berichtet, wonach Taliban in Kunduz geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen und Mädchen ausgeübt hätten. Am 16. Oktober rief auf der Taliban Website ein Artikel direkt zu Angriffen auf Medien-Niederlassungen und Journalisten auf, die „für den Westen arbeiten und von ihm bezahlt werden“. Solche Niederlassungen müssten militärische Ziele sein und eliminiert werden.

Auch nach dem Abzug der Taliban dauerten Drohungen gegen Journalisten in Kunduz an.

Rekrutierung und Einsatz von Kindern: UNAMA erhielt glaubwürdige Berichte von einer hohen Zahl an Kindersoldaten beim Angriff auf Kunduz. In medizinischen Einrichtungen in Kunduz seien „mindestens 200“ verletzte Kindersoldaten behandelt worden, die meisten von ihnen Jungen zwischen 10 und 17 Jahren. Viele sollen durch Druck auf die Familien dazu gezwungen worden sein, Waffen aufzunehmen.

(vgl. auch „The Report on the Investigation of Human Rights and Humanitarian Rights Situation in Kunduz Province Armed Conflict“, Afghan Independent Human Rights Commission, http://www.aihrc.org.af/media/files/Kondoz_English.pdf )

Reportage “Gigantischer Beutezug” von Susanne Koelbl im SPIEGEL 52/19.12.2015 über die kurzzeitige Eroberung von Kunduz durch die Taliban, die Hintergründe und die Folgen bis heute (Video: S. Koelbl über ihre AFG-Reise http://spiegel.de/sp522015kunduz ):

„(…) Ausgerechnet Kunduz. Ausgerechnet die Stadt, die Deutschland zum Zentrum seiner Aufbaubemühungen gemacht hatte, fiel in die Hände der Taliban. Zwar nur für 15 Tage, danach eroberten die Regierungstruppen sie zurück. Aber Kunduz ist jetzt ein anderer Ort. Die Frauen gehen wieder voll verschleiert, auf den Straßen stehen Pick-ups mit Maschinengewehren. Hotels nehmen keine Fremden mehr auf, niemand will mit Ausländern gesehen werden. Wenn die Taliban davon erfahren, kann das tödlich sein. Die Basare sind zwar wieder geöffnet, der Brotpreis sank auf normales Niveau, doch das Gefühl von Sicherheit ist weg. Und fast alle von Deutschland mühsam mitaufgebauten Institutionen sind zerstört. (…) Am 28. September ahnte Hassina Sarwadi, 34, Direktorin des Frauenhauses von Kunduz, nicht, dass sich gleich alles auflösen würde, woran sie geglaubt hatte: Polizei, Gerichte, Provinzregierung, ja der ganze Staat. (…) Soldaten, Geheimdienstler, Polizisten waren längst geflohen. Sie hatten Kunduz den Extremisten überlassen, kampflos.“

Wie das passieren konnte?

Laut einer vom Präsidenten berufenen Untersuchungskommission herrsche „zwischen den Koalitionspartnern, dem Präsidenten und dem Regierungsvorsitzenden Abdullah eine ´so starke Atmosphäre von Misstrauen und Unklarheit`, dass sich diese auf allen Ebenen des Staates fortsetze: vom Sicherheitsapparat in Kabul bis hinunter zum örtlichen Kommandeur in Kunduz. Niemand höre mehr auf irgendwen.“ In Kunduz existierte „am Tag des Angriffs ´keine Kommandostruktur`, was zu einem kollektiven Versagen aller Sicherheitskräfte führte. Jeder rettete nur noch sich selbst.“

Koelbl schildert die organisierte Nichtzusammenarbeit in Kunduz zwischen Gouverneur und seinem Stellvertreter, zwischen Polizei- und Armeechef – und dass Geheimdiensterkenntnisse über die geplante Offensive der Taliban vorlagen. Aber es wurden keine Konsequenzen gezogen.

„Als die Taliban in der Stadt waren, besorgte eine eigene Truppe das Niederbrennen der Institutionen. Sie gingen systematisch vor, von West nach Ost. Die Extremisten schonten lediglich, was sie als nützlich betrachteten, das von Deutschen errichtete Krankenhaus etwa. Das Lehrer-Trainingszentrum am Flughafen dagegen zündeten sie an, das Büro der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) plünderten sie.

Sie brannten drei Polizeistationen nieder, das alte und neue Hauptquartier der Armee, das Gerichtsgebäude. Schreibtische, Computersysteme, Regale, Stühle und Geräte wurden abtransportiert. Es war nicht nur ein militärischer Sieg, sondern auch ein gigantischer Beutezug. Ein großer Teil der Ausstattung der Provinzverwaltung und der dortigen Sicherheitskräfte wechselte auf die Seite des Feindes, darunter Hunderte Polizei-, Armee- und Regierungsautos, 2 Panzer, 37 Humvees, Nachtsichtgeräte und etwa 1000 Waffen.

Das Versammlungshaus des Provinzrats, (..) ist jetzt eine Ruine mit verrußten Fensterhöhlen, der Komplex der Gemeindeverwaltung ausgeräuchert. Von den Wasserwerken und dem Amt für Dorfentwicklung stehen nur noch die verkohlten Mauern.

Selbst ins Studentinnenwohnheim brachen die Taliban ein. Sie stahlen die Laptops der Mädchen, Kühlschränke, Radiogeräte, ihren Goldschmuck, Teppiche. An diesem Tag waren die Studentinnen zum Opferfest bei ihren Familien. (…)“