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Afghanistan-Einsatz - Von der Stabilisierung zur Aufstandsbekämpfung

Veröffentlicht von: Webmaster am 2. Februar 2011 08:06:05 +01:00 (123926 Aufrufe)

Im gerade erschienenen Jahrbuch 20 des Zentrums für Niederlande-Studien in Münster zieht W. Nachtwei eine Zwischenbilanz des Afghanistaneinsatzes der Bundeswehr: Von der Stabilisierung zur Aufstandsbekämpfung. Im Folgenden eine leicht gekürzte Version des Beitrags, der vollständige Text ist hier als PDF-Datei herunterladbar.

Der Afghanistaneinsatz der Bundeswehr - Von der Stabilisierung zur Aufstandsbekämpfung[1]

Winfried Nachtwei

Am 1. August 2010 begannen die Niederlande als erstes NATO-Mitglied mit ihrem militärischen Rückzug aus Afghanistan. Im März hatte eine Shura in der Südprovinz Uruzgan an das niederländische Parlament appelliert, die niederländischen Truppen  nicht vorzeitig aus Afghanistan abzuziehen. Noch im August 2010 kam das Liaison Office in Kabul in seiner Evaluierung von vier Jahren niederländischem Einsatz in Uruzgan zu einer differenziert positiven Bewertung. [2]

Am 26. Februar 2010 beschloss der Deutsche Bundestag zum zehnten Mal die Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan. 429 Abgeordnete stimmten dafür, 111 dagegen, 46 enthielten sich. Auch wenn die erste ISAF-Entscheidung am 22. Dezember 2001 noch mit 538 zu 35 Stimmen bei acht Enthaltungen gefällt wurde, so scheint auch im neunten Einsatzjahr die parlamentarische Zustimmung zum ISAF-Einsatz solide zu sein. Doch der Eindruck täuscht. Die ansehnliche Stimmenmehrheit beruht zum abnehmenden Teil auf Überzeugung. Wo politische Zweifel, ja Depression zunehmen, wird die Mehrheit in erheblichem Maße durch Koalitionsdisziplin, bündnispolitische Zwänge und abschreckende Alternativen gewährleistet.

In Deutschland und in den Mitgliedsstaaten von ISAF ist die Afghanistan-Müdigkeit, der Drang zum „Raus" unübersehbar. Angesichts der Hiobsbotschaften ist das nicht verwunderlich: Das Afghanistan NGO Security Office (ANSO) meldete für das dritte Quartal 2010 9.831 Angriffe der bewaffneten Opposition, 59% mehr als im Vorjahrszeitraum. Die WikiLeaks-Enthüllungen haben das deprimierende Bild der Entwicklung in Afghanistan verstärkt. Der ISAF-Einsatz der Bundeswehr wurde von der deutschen Bevölkerung in den ersten Jahren mehrheitlich befürwortet. Inzwischen befindet er sich in einer hochkritischen Lage. In Teilen ihres Einsatzgebietes sind die deutschen Soldaten mit einem Guerilla- und Terrorkrieg konfrontiert und weiter denn je von ihrem Stabilisierungsziel entfernt. Seit Frühjahr 2009 stehen sie zeitweilig täglich in Kampfeinsätzen. Erstmalig sind Bundeswehrsoldaten im Jahr 2009 im Kampf gefallen. Erstmalig töteten Bundeswehrsoldaten etliche Dutzend Gegner im Kampf. Die Gewalteskalation erreichte am 4. September 2009 ihren vorläufigen Höhepunkt, als ein vom deutschen Kommandeur in Kunduz angeordneten Luftangriff 91 Todesopfer und 11 Schwerverletzte forderte, darunter viele Zivilpersonen.[3] Der Luftschlag von Kunduz beschleunigte den Akzeptanzverfall des Afghanistaneinsatzes. In der deutschen Bevölkerung ist die Ablehnung des Einsatzes so breit wie nie zuvor. Die politische und militärische Führung haben bei den Soldaten in den letzten Jahren erheblich an Vertrauen verloren. Der Verteidigungsausschuss des Bundestages ermittelt seit vielen Monaten zum Luftangriff von Kunduz und dem politischen Umgang damit. Die deutsche Debatte um Afghanistan ist zersplittert und in der verbreiteten Ratlosigkeit dominiert von Teilaspekten wie militärische Ausrüstung oder den moralischen Grenzen von Töten im asymmetrischen Krieg. Eine strategische Debatte und ein fundierter Wirksamkeitsdiskus finden demgegenüber kaum statt.

Für die NATO-geführte ISAF und insbesondere die USA gelten 2010/2011 als die Jahre, in denen die jahrelange Abwärtsdynamik der Sicherheitslage umgekehrt werden soll und die Voraussetzungen für einen schrittweisen Abzug von ISAF-Kräften ab 2011 geschaffen werden sollen.

Erzwungener Einstieg

Deutsches Engagement in und für Afghanistan begann nicht erst nach dem 11. September 2001. Gerade auf afghanischer Seite sind die Erinnerungen an deutsch-afghanische Zusammenarbeit im 20. Jahrhundert, an deutsche Entwicklungshilfe in den 1960er und 1970er Jahren noch sehr wach und gut. Die Deutsche Welthungerhilfe zum Beispiel nahm 1980 ihre Arbeit in Afghanistan auf.

In das Gesichtsfeld einer breiteren Öffentlichkeit in Deutschland trat Afghanistan mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001.  Nach der anfänglichen breiten und ehrlichen Solidarität mit den angegriffenen USA war die politische Entscheidung zu einem Bundeswehreinsatz in Afghanistan hoch strittig. Am 16. November 2001 beschloss der Bundestag die deutsche Beteiligung an der US-geführten Antiterror-Operation Enduring Freedom (OEF), darunter den Einsatz von bis zu 100 Spezialsoldaten in Afghanistan. Ausschlaggebend war dabei das Motiv der Bündnissolidarität gegenüber den USA. Ohne den Druck der von Bundeskanzler Schröder gleichzeitig gestellten Vertrauensfrage hätte die rotgrüne Koalition wohl keine Mehrheit für diesen Einsatz zustande gebracht. Was dabei als „uneingeschränkte Solidarität" beschworen wurde, war de facto recht begrenzt.

Der geheime OEF-Afghanistaneinsatz des Kommando Spezialkräfte (KSK) lief im Herbst 2005 aus und wurde im Jahr 2008 offiziell beendet. Die Ermittlungen des Verteidigungsausschusses als Untersuchungsausschuss im Jahr 2008 ergaben, dass der KSK-Einsatz weit hinter seinem Antiterror-Auftrag wie auch damaligen Befürchtungen zurückblieb: Bei ihren Einsätzen verhafteten, töteten und verletzten die KSK-Soldaten keinen Menschen. Hauptprobleme dieses Einsatzes waren, dass es für die deutsche Beteiligung schon bald keinen sicherheitspolitischen Bedarf mehr gab und sie nur noch aus symbolpolitischen Gründen gegenüber den USA aufrecht erhalten wurde. Der OEF-Einsatz  war einer echten parlamentarischen Kontrolle praktisch entzogen. Bis zuletzt verweigerte die Bundesregierung jede Wirksamkeitsbewertung des OEF-Einsatzes in Afghanistan.[4] Die zu Recht gelobte deutsche Parlamentsbeteiligung bei Auslandseinsätzen erlebte im Fall OEF ihren - selbst verschuldeten - Tiefpunkt. Jahrelang wurde verdrängt, dass die Realität von OEF als Teil des War on Terror dem Ansatz von ISAF zuwiderlief und Hass und Gewalt mehr schürte als eindämmte. „Feigheit unter Freunden" verhinderte, diesen strategischen Dissens auszutragen.

Auftrag ohne Bodenhaftung

Viel weniger strittig in Parlament und Öffentlichkeit war die Entscheidung zur Bundeswehrbeteiligung an ISAF ein Monat später nach der Afghanistan-Konferenz auf dem Petersberg. Die politische und rechtliche Basis des ISAF-Einsatzes der Bundeswehr sind die Resolutionen des UNO-Sicherheitsrates und die Mandatsbeschlüsse des Deutschen Bundestages.

Der Startauftrag von 2001 lautete, die „vorläufigen Staatsorgane Afghanistans bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit in Kabul und seiner Umgebung so zu unterstützen, dass sowohl die vorläufige afghanische Regierung als auch das Personal der Vereinen  Nationen in einem sicheren Umfeld arbeiten können."[5] Autorisiert wurden die deutschen ISAF-Kräfte zu „allen erforderlichen Maßnahmen einschließlich der Anwendung militärischer Gewalt, um den Auftrag gemäß Resolution 1386 (2001) durchzusetzen. Das Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung bleibt davon unberührt. Den im Rahmen dieser Operation eingesetzten Kräften wird auch die Befugnis zur Wahrnehmung des Rechts auf bewaffnete Nothilfe zugunsten jedermann erteilt." Mit dem vierten Mandat vom 24. Oktober 2003 wurde der Auftrag um den Schutz für anderes internationales, dem Wiederaufbau und humanitären Aufgaben nachgehendes Zivilpersonal, die Unterstützung der Sicherheitssektorreform sowie der Demilitarisierung, Demobilisierung und Reintegration ehemaliger Kombattanten, Beiträge zur zivil-militärischen Zusammenarbeit und Mitwirkung bei der Wahlabsicherung ergänzt. Erst das jüngste Mandat von 2010 nennt auch den Schutz der Bevölkerung als besondere Aufgabe der Bundeswehr.

Die Kontinuität des allgemeinen Auftrags ging einher mit einer schrittweisen quantitativen und qualitativen Ausweitung: 2003 Übernahme der ISAF-Leitfunktion in Kabul zusammen mit den Niederlanden durch den Stab des 1. Deutsch-Niederländischen Corps aus Münster; Ende 2003 Übernahme des Provincial Reconstruction Team (PRT) Kunduz mit den Nordostprovinzen Kunduz, Takhar und Badakhshan als Verantwortungsbereich; ab Mitte 2006 Führungsrolle für die ISAF-Region Nord mit ihren neun Provinzen; 2007 Entsendung von sechs Aufklärungs-Tornados und 2008 Übernahme der Quick Reaction Force für die Region Nord von den Norwegern; Aufwuchs der maximalen Truppenstärke von anfangs 1.200 auf 2.500 im Jahr 2003, 3.500 in 2007, 4.500 in 2008 auf 5.350 in 2010.[6]

Trotz erheblichen Drucks von Seiten einiger Verbündeter kam es nicht zu einer generellen Ausweitung des Bundeswehreinsatzes in andere ISAF-Regionen, insbesondere in den Süden.  Die niederländische Nachfrage nach Unterstützung ihrer Polizeiaufbauhilfe in Uruzgan auch durch deutsche Polizisten wurde seitens der Bundesregierung abgelehnt. Das deutsche Entwicklungsministerium erlaubte der GTZ International Services erst mit erheblicher Verzögerung, einen Großauftrag der niederländischen Regierung für das Provinzentwicklungsprogramm Uruzgan anzunehmen. Für den landesweiten Einsatz stellt die Bundeswehr aber Lufttransportkapazitäten, die Aufklärungs-Tornados sowie in begrenztem Umfang spezifisches Fachpersonal zur Verfügung. Davon unabhängig ist die Bundeswehr an der Führung des ISAF Hauptquartiers in Kabul beteiligt, allerdings mit abnehmender Tendenz.

Die deutschen Afghanistanmandate leiden unter mehreren fundamentalen Defiziten:

  1. Die Aufträge wurden immer sehr allgemein, losgelöst von der konkreten Lageentwicklung und unter Verzicht auf überprüfbare Teilziele formuliert. Die Verschärfung der Sicherheitslage in den letzten Jahren und der partielle Übergang eines Stabilisierungs- zu einem Kampfeinsatz spiegeln sich nicht im Mandat. Der unveränderte Auftrag „Aufrechterhaltung der Sicherheit" verschweigt die Realität der NATO-Aufstandsbekämpfung, wie sie in internen Papieren des deutschen Kontingents seit Sommer 2009 sehr wohl benannt ist. Somit fehlt es an Auftragsklarheit.
  2. Die „Mandatsanpassungen" waren in der Regel kurzfristige Kompromisse zwischen operativem Bedarf und Bündnisforderungen einerseits und innenpolitischen Rücksichtnahmen andererseits. Weil nie für eine umfassende Überprüfung und Neuausrichtung des Afghanistaneinsatzes  innegehalten wurde, wurden daraus faule Kompromisse für beide Seiten: Befördert wurde hierzulande der Eindruck eines Einsatzes auf der Rutschbahn und damit - historisch überaus begründetes - Misstrauen. Auf Seiten der Einsatzkräfte in Afghanistan wuchs hingegen die Wahrnehmung, mangels entsprechender Kapazitäten und Fähigkeiten Lageverschärfungen nicht wirksam begegnen zu können.
  3. Schließlich beschränken sich die Mandate auf die militärischen Aufgaben, Fähigkeiten und Kapazitäten und lassen die diplomatischen, entwicklungspolitischen und polizeilichen Aufgaben außer Acht. Das aber begünstigt nach aller Erfahrung der letzten Jahre eine militärfixierte Wahrnehmung des Afghanistanengagements und damit eine strukturelle Vernachlässigung der zivilen Anstrengungen. Das konterkariert die viel beschworene Grundeinsicht, wonach die Förderung von Governance und Entwicklung der Dreh- und Angelpunkt des internationalen Afghanistanengagements sein soll.

Lückenhafte Einsatzkontrolle -  Nebel des Einsatzes

Nach der Mandatierung durch den Bundestag untersteht ein Bundeswehrkontingent wie in jedem Auslandseinsatz einer nationalen und einer multinationalen Befehlskette.

Der nationale Führungsstrang reicht von der strategischen Ebene von Minister und Generalinspekteur mit dem Einsatzführungsstab über das Einsatzführungskommando in Potsdam bis zur taktischen Ebene des Einsatzkontingents. Der nationale Strang ist zuständig für die Bereitstellung von Personal und Ausrüstung, die Einsatzauswertung, die truppendienstliche Führung und überwacht die Einhaltung des Mandats. Über den nationalen Strang nimmt die deutsche militärische Führung auch Einblick in die Operationsplanung der deutschen ISAF-Kräfte und gegebenenfalls auch Einfluss. Auf diesem Führungsstrang war immer wieder ein Konfliktthema die von etlichen Einsatzsoldaten erhobene Forderung nach schwereren Waffen und größerer Handlungsfreiheit.

Der multinationale Führungsstrang geht vom Allied Joint Force Command der NATO im niederländischen Brunssum[7] über das ISAF Hauptquartier in Kabul und das Regional Command North bis zu den PRT auf Provinzebene und beinhaltet die operative Führung im Einsatz. Die Operationen werden geplant und durchgeführt im Rahmen des ISAF-Operationsplans, dessen geheimer Anhang die Einsatzregeln (rules of engagement) beinhaltet. Diese regeln unter anderem den nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz abgestuften Einsatz von militärischer Gewalt und die Freigabeautorität für schwere Waffen. Andauerndes Konfliktthema auf diesem Führungsstrang waren immer wieder die nationalen Vorbehalte (caveats)  einzelner Truppensteller für ihre Kräfte. Was für die Entsendestaaten ein grundsätzlich legitimes Bemühen um eine Einhegung des eigenen Einsatzbeitrages ist, schränkt andererseits die Handlungsfreiheit eines ISAF-Kommandeurs erheblich ein. Auf deutscher Seite sind die Beschränkung des Einsatzraumes und die Nichtbeteiligung an der direkten Drogenbekämpfung de facto solche caveats.

Der Bundestag entscheidet nicht nur konstitutiv über einen Einsatz. Er begleitet und kontrolliert auch die laufenden Einsätze der „Parlamentsarmee" Bundeswehr. Eine wichtige, aber nicht ausreichende Grundlage dafür sind die Unterrichtungen der Bundesregierung: die vertraulichen schriftlichen Wochenberichte („Unterrichtungen des Parlaments") für die zuständigen Fachausschüsse zu besonderen Vorkommnissen in den Einsatzgebieten; die mündlichen Unterrichtungen und Beratungen in den Ausschüssen, im Verteidigungsausschuss durchschnittlich ein bis zwei Stunden pro Sitzung; periodische Geheimunterrichtungen der Obleute von Auswärtigem und Verteidigungsausschuss durch die Spitze des Verteidigungsministeriums über geheime Aspekte des Einsatzes, insbesondere den Einsatz von Spezialkräften; Antworten der Bundesregierung auf Anfragen aus den Fraktionen. Diese offiziellen Informationen sind nützlich, aber längst nicht ausreichend.

Neben der Information über aktuelle Ereignisse fehlt es an systematischen Lagebildern der Sicherheitsentwicklung, die Trends, Schwerpunkte und Ursachen hätten deutlich werden lassen. Mit dem Kriterium „sicherheitsrelevante Vorfälle" wie Feuerwechsel/Gefechte, Sprengstoffanschläge und indirekten Beschuss wird in erster Linie die Sicherheitslage der eigenen Kräfte dargestellt, nicht aber das „sichere Umfeld", das zu fördern der Kernauftrag von ISAF ist. Somit unterbleibt eine Wirksamkeitsüberprüfung der eigenen Auftragserfüllung. Dieser grundlegende Mangel ist auch mit der offeneren Informationspolitik unter Minister zu Guttenberg noch nicht überwunden.

Umso wichtiger sind für zuständige Parlamentarier Besuche bei den Einsatzkontingenten. Trotz aller Wahrnehmungsgrenzen kurzer und betreuter Besuche besteht hierbei noch die größte Chance, an ein ungeschminktes Bild der Lageentwicklung zu kommen. Schon 2006 erfuhren Besucher von beunruhigenden Trends auch im Norden. Auch wenn in der Militärhierarchie das Schönschreiben von Berichten ein verbreitetes Phänomen sein soll, so erreichten kritische Botschaften lange Zeit wohl die militärische Führung, nicht aber das Parlament oder gar die Öffentlichkeit. Über die Geheimeinsätze des KSK bei ISAF wurden die Obleute von Auswärtigem und Verteidigungsausschuss wohl regelmäßig grob unterrichtet. Von einer parlamentarischen Kontrolle war das aber weit entfernt. Solche Art von Berichtswesen erleichterte eine Abkoppelung der Politik vom Einsatzbedarf vor Ort und förderte eine Sicherheitspolitik eher nach innenpolitischen Interessen.

Norderweiterung mit Provincial Reconstruction Teams

Der ISAF-Einsatz beschränkte sich zunächst mit relativ schwachen Kräften auf die Hauptstadt Kabul. Im Dezember 2002 umfasste ISAF knapp 5.000 Soldatinnen und Soldaten aus 21 Ländern, davon 1.050 aus Deutschland. Bis August 2010 wuchs ISAF auf fast 120.000 Soldaten aus 47 Nationen auf, davon allein 78.500 aus den USA. Im ersten ISAF-Jahr war die Bundeswehr als größtes Truppenkontingent zuständig für das Zentrum von Kabul.[8] Der Ansatz des light footprint war angesichts der katastrophalen Erfahrungen mit Großinterventionen in Afghanistan plausibel, ging aber zugleich mit dem Wunschdenken einher, über die Ausstrahlung eines blühenden Kabul dem ganzen Land auf die Beine helfen zu können. Überdies verlagerten die auf kriegerische Terrorbekämpfung fixierten USA und andere Verbündete ihr Engagement schon im Laufe 2002 weg von Afghanistan Richtung Irak. Das schwächte das internationale Engagement gerade in den Startjahren, wo nach aller internationalen Peacebuildung-Erfahrung die Chancen noch am größten sind.

Vor dem Hintergrund zunehmender Angriffe auf Angehörige von Hilfs- und UNO-Organisationen riefen im Juni 2003 79 internationale Nichtregierungsorganisationen ISAF und NATO dazu auf, ihre Präsenz auf das ganze Land auszuweiten. Deutschland gehörte zu den ersten Ländern, die ab Ende 2003 außerhalb Kabuls Verantwortung übernahmen. Erst zweieinhalb Jahre später erreichte die ISAF-Erweiterung den Süden und Osten - und eskalierte vor allem in Helmand und Kandahar sofort zu einem opferreichen Kampfeinsatz.

Als die Bundeswehr im Januar 2004 das PRT Kunduz übernahm und 2006 die Führungsverantwortung für die ganze ISAF-Region Nord, war der Norden keineswegs so risikoarm, wie er lange Zeit in den Medien dargestellt wurde. Die neun Provinzen erstrecken sich über 1.200 mal 400 Kilometer, sind teilweise extrem gebirgig und wegen des schlechten Wegenetzes äußerst schwer zugänglich. Bei meinem ersten Besuchen in Kunduz im Januar 2004 wies der PRT-Kommandeur auf das Fehlen staatlicher Strukturen, erhebliche Destabilisierungsfaktoren und ein latentes Eskalationspotenzial lokaler Konflikte hin. In den Nordwestprovinzen Faryab, Jowzjan und Balkh hatten noch 2003 über Monate bewaffnete Kämpfe zwischen Truppen der regionalen Machthaber Abdul Raschid Dostum und Atta Mohammad Noor getobt. Teile der Provinzen Kunduz und Baghlan waren früher Taliban-Hochburgen. Bis heute spielen in der Region Parallelstrukturen ehemaliger Kommandeure der Nordallianz eine zentrale Rolle, gehen Hauptrouten des Drogenschmuggels durch Kunduz.

Um in diesem schwierigen Umfeld die eigenen schwachen Kräfte bestmöglich zur Wirkung zu bringen, wurde das von den USA im Rahmen von OEF entwickelte PRT-Konzept übernommen und weiter entwickelt. Das deutsch-geführte PRT wurde statt OEF ISAF unterstellt („ISAF-Insel"). Heute unterstehen alle PRT`s mit jeweils kleinen multinationalen Anteilen ISAF, praktizieren aber je nach Führungsnation unterschiedliche Modelle. Unter dem Dach des deutschen PRT sollten vier Ressorts der Bundesregierung zusammenwirken: die Bundeswehr für ein sicheres und stabiles Umfeld, das Auswärtige Amt für politische Unterstützung und humanitäre Hilfe, das Entwicklungsministerium für Wiederaufbau und Entwicklung, das Innenministerium für Polizeiaufbau und -ausbildung. Diese bisher nicht gekannte Form der zivil-militärischen Zusammenarbeit war vor allem in den Anfängen sowohl bei Militärs wie bei den Vertretern der Entwicklungszusammenarbeit sehr umstritten. Aus Sicht der Bundesregierung gelten die PRT`s seit Jahren als Musterbeispiele des Ansatzes der vernetzten Sicherheit (Comprehensive Approach).

Die Wirklichkeit sah trotz oft pragmatisch-guter Zusammenarbeit vor Ort erheblich anders aus. Schon die Personalkapazitäten waren höchst unterschiedlich. Neben der starken militärischen Säule bestand die jeweilige Vertretung des Auswärtigen Amtes beim Regionalkommandeur Nord bzw. den PRT`S aus einem bis maximal drei Beamten. Auch engagierteste Beamte konnten unter solchen Bedingungen nur ansatzweise zur Schlüsselaufgabe Förderung von Staatlichkeit beitragen, von der Umsetzung des Primats der Politik ganz zu schweigen.

Die Entwicklungsarbeit war personell über die Durchführungsorganisationen wie Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), Deutscher Entwicklungsdienst (DED) und Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) mit ihren entsandten und einheimischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erheblich besser aufgestellt. Ihre räumliche Distanz zum PRT ergab sich aus dem Ansatz der Entwicklungszusammenarbeit, für die Nähe zur Bevölkerung essentiell ist. Das gilt noch mehr für humanitäre Hilfsorganisationen, deren Wirkungsmöglichkeiten und Sicherheit gerade auf ihrer Neutralität und ihrer Aufnahme durch die Bevölkerung beruhen.

Die Kommunikation und Kooperation zwischen den Ressorts ist stark personenabhängig.

Ein zentraler Konfliktpunkt war immer wieder das Verhältnis von kurzfristigen CIMIC-Maßnahmen[9] im Rahmen der Force Protection (Schutz der eigenen Kräfte) zu nachhaltigen Entwicklungsmaßnahmen. Andere Kooperationsprobleme ergeben sich aus den sehr unterschiedlichen Einsatzzeiträumen, Organisationskulturen und Mentalitäten.

Seit Polizisten im Rahmen des German Police Project Teams (GPPT) in größerer Zahl in den Police Training Centers arbeiten und von Feldjägern der Bundeswehr unterstützt werden, wird die Zusammenarbeit von beiden Seiten durchgängig gelobt.

Seit Jahren steht ein Grundkonflikt zwischen den Militärs und den Zivilen im Raum: Die militärische Seite kritisierte seit Jahren die personelle Schwäche vor allem des Innenministeriums und Auswärtigen Amtes und unzureichende Aufbauanstrengungen, wodurch Enttäuschungen und Perspektivlosigkeit zugenommen hätten, Köpfe und Herzen verloren gegangen wären - und Aufständische hätten Fuß fassen können. Umgekehrt kam von ziviler Seite immer wieder der Vorwurf, ISAF und Bundeswehr hätten sich zu sehr auf den Selbstschutz fixiert, den Kontakt zur Bevölkerung und deren Schutz aus den Augen verloren und damit ihre Kernaufgabe, Sicherheit zu fördern, vernachlässigt. Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen lehnen das PRT-Konzept ab, weil damit zivile und militärische Aufgaben verwischt, die Unabhängigkeit der Nichtregierungsorganisationen infrage gestellt und ihre Sicherheit gefährdet werde.[10] Eine unabhängige Evaluierung der deutschen PRT`s wurde schon vor Jahren angeregt, aber fand auf politischer Ebene kein Gehör.[11]

Vom Stabilisierungseinsatz zur Aufstandsbekämpfung

Mit dem Regional Command North übernahm die Bundeswehr die Führungsverantwortung und damit auch die zentrale Nachschubbasis in Mazar-i Sharif für 16 ISAF-Nationen. Bezogen auf die Größe von Raum und Bevölkerung waren die PRT`s ausgesprochen schwach und militärisch keineswegs durchsetzungsfähig. Im Oktober 2006 umfasste das PRT Kunduz 470 Soldatinnen und Soldaten, davon 90 Infanteristen für den Außeneinsatz in einem Raum von der Größe Hessens.

Die anfängliche Stärke der militärisch schwachen PRT`s lag in einer klugen Mischung von bewaffneter Präsenz durch Patrouillen mit Gesprächsaufklärung, Netzwerkbildung, Key-Leader-Engagement und Konfliktmanagement. Betont wurde die zentrale Rolle von Offenheit, Respekt und Vertrauensbildung im Umgang mit der Bevölkerung, abgelehnt wurden Vorstellungen von militärischer „Konfliktlösung". Beim Vorgehen gegen oppositionelle bewaffnete Kräfte galt der second-row-approach: Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte, nicht Handeln an ihrer Stelle. Ein zentrales Instrument zur Sympathiegewinnung waren CIMIC-Maßnahmen, die Errichtung  von Schulen und quick impact projects. Weit über ihre Bedeutung im Einsatz prägten CIMIC-Aktivitäten die Selbstdarstellung der Bundeswehr in Deutschland und trugen nicht unwesentlich zu einem von Anfang an falschen Bild von Entwicklungshelfern mit Gewehr bei.

Die PRT`s sollten vor allem als „Puffermacht" in einem Umfeld mit vielen lokalen Machthabern, reichlich Konfliktstoff und Waffenträgern wirken. Sie sollten „Zeit kaufen" für den Aufbau von Staatlichkeit und selbsttragender Sicherheit, für wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Im Gegensatz zu einem in Deutschland verbreiteten Bild des Bundeswehreinsatzes war ein direkter militärischer Schutz für zivile Helfern weder sinnvoll, noch nötig und möglich.

Beeinträchtigt wurde der bevölkerungsorientierte Ansatz von ISAF durch die Diskontinuität von schnellen Kontingentwechseln alle vier Monate, durch den im Vergleich zur Fläche zu geringen Kräfteansatz, durch einen bis heute andauernden Mangel an Sprachmittlern und Interkulturellen Einsatzberatern. Wo deren Stellen vakant sind, agieren Kommandeure in einem interkulturellen Nebel und wächst das Risiko eines kurzsichtigen Umgangs mit lokalen Machthabern. Landeskundige Experten bewerten die interkulturelle Einsatzvorbereitung der Soldaten als unzureichend.[12] Konterkariert wurde der bevölkerungsorientierte Ansatz durch ein rücksichtsloses und ehrverletzendes Vorgehen, wofür über Jahre die Operation Enduring Freedom und US-Truppen vor allem im Osten und Süden standen.[13]

Von Anfang an war eine Teilaufgabe des Bundeswehreinsatzes die Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte, vor allem der Afghan National Army (ANA). Am 14. Juni 2006 wurde dafür im PRT Kunduz das erste Operational Mentoring and Liaison Team (OMLT) indienstgestellt. Anfang 2010 stellte die Bundeswehr acht OMLT`s mit jeweils mindestens 20 Ausbildern und Mentoren. In Kabul werden die Logistikschule der ANA und in Mazar-i Sharif die Pionierschule der ANA unter deutscher Führung aufgebaut. Seit April 2007 unterstützen Bundeswehr-Feldjäger die Polizeiausbildung.

Ab Sommer 2006 warnten Bundeswehroffiziere vor sich verschlechternden Rahmenbedingungen: Mit der Rückkehr tausender paschtunischer Flüchtlinge aus Pakistan nach Kunduz nahmen Konflikte um Landbesitz und Wasserrechte enorm zu. Zugleich sickerten zunehmend Militante in die Provinz ein, insbesondere Geistliche aus pakistanischen Koran-Schulen, die mit Geld und Worten Menschen für die Taliban warben.[14] Aus den paschtunischen Siedlungsgebieten im Süden Afghanistans hörte man von schweren Kämpfen mit den dort einrückenden britischen und kanadischen Truppen. Nach einer Serie von Anschlägen auf ISAF-Patrouillen ordnete Verteidigungsminister Jung im Sommer 2006 an, dass Bundeswehr nur noch in geschützten Fahrzeugen das Feldlager verlassen durfte. Das bedeutete, dass mit den schwereren Fahrzeugen ein Teil des Einsatzgebietes nicht mehr erreicht werden konnte und der Kontakt zur Bevölkerung erschwert wurde. Örtliche Bundeswehrkommandeure drängten vergeblich darauf, je nach Lage selbst über das einzusetzende Schutzniveau entscheiden zu können.

Eine gravierende Wende brachte der Mai 2007. Nach verheerenden Selbstmordattentaten auf eine Polizeiausbildungsstätte (10 Tote, über 40 Verwundete), den Gouverneurssitz und das Polizeihauptquartier in Kunduz  im April fielen am 19. Mai auf dem Markt von Kunduz drei Bundeswehrsoldaten und sieben afghanische Zivilpersonen einem Selbstmordattentäter zum Opfer. Auch wenn es daraufhin zu starken Solidaritätsbekundungen gegenüber den Deutschen kam[15], stellte das PRT über Wochen die Patrouillentätigkeit weitgehend ein und beschränkte sich auf den Nahbereichsschutz des Feldlagers. Angesichts von etlichen im Raum Kunduz vermuteten potenziellen Attentätern und der Zögerlichkeit der afghanischen Amtsträger war diese Einigelung nachvollziehbar. Zugleich wuchs damit die Distanz zwischen ISAF und Bevölkerung, ging die bis dahin schon spärliche und flüchtige Patrouillenpräsenz in der Fläche verloren. Der mehr bevölkerungsorientierte, „offene" Ansatz war dort an seine Grenzen gestoßen, wo sich größere Gruppen von Militanten vor allem in paschtunischen Siedlungsgebieten einsickern, sich festsetzen und Einfluss gewinnen konnten.

Eine nächste Stufe der Konfliktverschärfung markierte die Operation „Harekate Yolo II", die ab Oktober 2007 von ISAF und afghanischen Sicherheitskräften im Nordwest-Distrikt

Ghormach durchgeführt wurde. Hier unterstützten Bundeswehrsoldaten erstmalig in Afghanistan einen umfassenden Kampfeinsatz, der vom ISAF Regional Command North geführt wurde.

2008 verschlechterte sich die Lage in der Provinz Kunduz kontinuierlich parallel zur  wachsenden strategischen Bedeutung der NATO-Nachschubroute vom Norden durch Kunduz. Während die Provinzen Kunduz und Baghlan für die Taliban und Verbündete zum Angriffsschwerpunkt im Norden wurden, verlegte die Zentralregierung ein ANA-Bataillon und ein Drittel der Polizisten aus der Provinz in den umkämpften Süden und entblößte damit einige Distrikte. Die Bundeswehrkräfte in Kunduz wurden mit Rücksicht auf das politische Tabu „Obergrenze" nicht so verstärkt, wie es PRT- und Regionalkommandeure immer wieder gefordert hatten. Zwei Tage im August 2008 waren ein Menetekel, als erst ein Patrouillenführer durch ein IED getötet wurde und am Folgetag ein Bundeswehrsoldat irrtümlich an einem Checkpoint eine Frau und zwei Kinder erschoss. Im Herbst 2008 konstatierte der PRT-Kommandeur gegenüber den Obleuten des deutschen Verteidigungsausschusses, ISAF habe in Kunduz die Initiative verloren.

Ende April 2009 wurde die Lage in den meisten Distrikten der Provinz Kunduz eindeutig „kriegsähnlich", herrschte offener Guerillakrieg. Die Aufständischen verübten neben hit-and-run-Attacken vermehrt komplexe Angriffe, die auf die Vernichtung ganzer Einheiten zielten: Seitdem standen die afghanischen Sicherheitskräfte und Bundeswehrsoldaten immer wieder in Gefechten, die teilweise über mehrere Stunden gingen und wo die  Aufständischen bisher unbekannte militärische Fähigkeiten zeigte. Erstmalig fiel dabei ein Bundeswehrsoldat im Kampf, erstmalig töteten Bundeswehrsoldaten etliche Dutzend Gegner im Kampf, erstmalig kam es dabei zu Luftnahunterstützung mit Bombeneinsatz und Waffeneinsatz des Schützenpanzer Marder. Zentrale Einsatzregel blieb aber weiterhin die Vermeidung ziviler Opfer. Dieses Gebot wurde mit dem Luftangriff vom 4. September gebrochen. Es greift aber zu kurz, hierfür allein den Befehlsgeber verantwortlich zu machen. In erheblicher Mitverantwortung für diese Gewalteskalation steht vor allem die politische Führung in Berlin, die gegenüber der Ausweitung der Aufstandsbewegung und der Intensivierung der Kämpfe im Raum Kunduz die Augen verschloss und die eigenen Soldaten in eine zunehmend aussichtslose Situation geraten ließ.[16]

Bei mehreren größeren „Clear"-Operationen konnten wohl Aufständische kurzfristig aus bestimmten Gebieten verdrängt werden. Regelmäßig misslang es aber, diese Gebiete zu kontrollieren, weil es an ausreichenden und verlässlichen Sicherheitskräften und Verankerung in der Bevölkerung fehlte. Ein Vorschlag des Regionalkommandeurs General Vollmer im September 2009, hierfür zusätzliche 2.500 afghanische Polizisten in der ruhigeren Winterphase auszubilden und dann für zwei Jahre von Seiten der Bundesrepublik zu besolden, wurde in Berlin beiseite gewischt.

Von den sieben Distrikten der Provinz Kunduz galten im Herbst 2009 fünf als unter Taliban-Kontrolle. Unter ihren Kämpfern befinden sich zunehmend auch Nicht-Paschtunen, darunter etliche foreign fighters, die wegen höherer militärischer Fähigkeiten auch als Berater fungieren sollen. In ihrer Hochburg im Distrikt Chahar Darreh etablierten die Taliban eine parallele Verwaltung mit Justiz.

Seit November 2009 führen in der Provinz Kunduz US-Spezialkräfte, afghanische Sicherheitskräfte und wiederbelebte Milizen zunehmend Operationen gegen die Aufständischen ohne Beteiligung der Bundeswehr durch. Insbesondere die US-Kräfte gehen dabei offensiv gegen die mittlere Führungsebene der Aufständischen und mutmaßliche Hintermänner von Anschlägen vor. ISAF meldet laufend sowohl Gefangennahmen wie auch gezielte Tötungen durch Luftschläge.

Im ersten Halbjahr 2010 veränderten sich die Rahmenbedingungen in der Region Nord massiv. Die USA brachten 5.500 US-Soldaten mit mehr als 50 Hubschraubern in die Region, darunter mehr als 2.000 vor allem für die Polizeiausbildung. Massiv ausgebaut wird die Infrastruktur für die afghanischen Sicherheitskräfte. Die Bundeswehr stellt künftig zwei Ausbildungs- und Schutzbataillone mit 1.400 Soldaten für Ausbildung und gemeinsamen Einsatz auf. Sie unterstehen direkt dem Regionalkommandeur. Nord. Afghanische Sicherheitskräfte und ISAF sollen gemäß der NATO-Counterinsurgency-Strategie (COIN) des shape, clear, hold, build breit in der Fläche stationiert werden, um Gebiete zurück gewinnen, halten, die Bevölkerung schützen und die Vorrausetzungen für Aufbaumaßnahmen schaffen zu können. Dementsprechend operieren inzwischen auch Kräfte der Bundeswehr in der Fläche von Außenposten aus. Im Nordteil der Provinz Baghlan führten Einheiten der deutschen Quick Reaction Force zusammen mit afghanischen und US-Kräften seit dem Frühjahr Clear- und Hold-Operationen durch. Die Bundesregierung vermied aber bisher eine klare Positionierung zur COIN-Strategie bzw. versuchte den - fälschlichen - Eindruck zu erwecken, als seien COIN und Comprehensive Approach deckungsgleich. Offensive Kampfeinsätze haben aber auch bei der neuen, den Schutz der Bevölkerung priorisierenden  US-Strategie einen hohen Stellenwert. Insofern ist es wahrscheinlich, dass Bundeswehr im Raum Kunduz und Baghlan künftig noch mehr im Kampfeinsatz stehen wird. Mit der fortschreitenden „Amerikanisierung" von ISAF seit 2006 und eigener Initiativlosigkeit verlor die Bundesrepublik in der Gesamtoperation an Gewicht und Einfluss. In Berlin deutet wenig darauf hin, wie und ob die Bundesregierung überhaupt Initiative zurückgewinnen will.

Wirkungen und Folgen des Einsatzes

Die Bundeswehr verfügt zwar über viele Stränge der Einsatzauswertung. Eine systematische Wirksamkeitsanalyse der Auftragsumsetzung fand weder bei der Bundeswehr noch beim Auswärtigen Amt statt. Landeskundige Beobachter kommen zu dem Schluss, dass die Bundeswehr mit ihrer vertrauensbildenden Einsatztaktik nicht nur die großen Fehler des War on Terror vermied, sondern bis 2006/2007 im Sinne des Auftrags auch erfolgreich war. Das bestätigt auch eine sozialwissenschaftliche Untersuchung von Forschern der FU Berlin zu den Provinzen Kunduz und Takhar. 80% der über 2.000 Befragten war im ersten Halbjahr 2007 der Meinung, dass die internationalen Truppen zur Verbesserung der Sicherheitslage in den letzten beiden Jahren beigetragen hätten. Bei der Folgebefragung im März 2009 sank die Positivbewertung der internationalen Truppen auf 60,6%, zugleich stieg der Anteil derjenigen, die sich durch verschiedene bewaffnete Gruppen bedroht fühlten, von 3,6% auf 46,5%.[17]

Seit dem „Bruch" von 2007 ist die Bilanz zunehmend gespalten. In der anfänglich besonders schwierigen Provinz Badakhshan machte der Stabilisierungsprozess Fortschritte. Im Westen der Provinz wird allerdings in jüngster Zeit eine zunehmende Präsenz von Aufständischen beobachtet. Die Kernprovinz Balkh gilt trotz zunehmender Sicherheitsvorfälle weiterhin als die Provinz mit der größten Entwicklungsdynamik. Im Unterschied dazu hat die frühere Hoffnungsprovinz Kunduz einen regelrechten Absturz erlebt. Das ehemals relativ sichere Umfeld ging verloren.  Entwicklungszusammenarbeit musste sich auf Kunduz Stadt zurückziehen. Das „Deutsche Haus" in Kunduz wurde aus Sicherheitsgründen vorläufig geschlossen. Der Auftrag, ein sicheres Umfeld und Schutz der Bevölkerung zu fördern, kann hier zurzeit trotz erheblicher Anstrengungen nicht mehr wirksam umgesetzt werden.

Wo wie in Extremdistrikten von Kunduz und Baghlan die physische Sicherheit akut bedroht wird, wo Kooperation mit Regierung und Internationalen als Kollaboration gilt und mit Hinrichtung geahndet wurde, da verpuffen alle Anreize, da gehen die Menschen auf Distanz. Die Tötung und Enthauptung von sechs Polizisten am 20. Juli 2010 in Baghlan steht exemplarisch für den Einschüchterungsterror. Hier können die Akteure des  Comprehensive Approach nicht mehr gleichzeitig, sondern nur nacheinander agieren. Was in anderen Konfliktphasen ein Wechselverhältnis ist, geht hier nur nacheinander: erst Wiederherstellung eines Mindestmaß an physischer Sicherheit durch politische, militärische und polizeiliche Maßnahmen, dann Aufbau.

Nach den Kriterien des humanitären Völkerrechts handelt es sich in Afghanistan um einen nichtinternationalen bewaffneten Konflikt, auch wenn internationale Streitkräfte dabei eine maßgebliche - und internationale Kämpfer auf Seiten der Aufständischen eine wachsende Rolle spielen. Die „kriegsähnliche Situation", der Guerillakrieg auf der taktischen Ebene eines Teils der Distrikte macht den strategischen Sicherheitsunterstützungsauftrag von ISAF und Bundeswehr nicht hinfällig. Er umfasst aber das ganze Spektrum von Stabilisierung über Ausbildungsunterstützung bis zum Kampfeinsatz und Aufstandsbekämpfung. Die Differenzierung zwischen den Distrikten sowie der taktischen und strategischen Ebene fällt in der politischen Diskussion offenbar sehr schwer, ist aber von elementarer Bedeutung. Wo pauschal der Kriegszustand erklärt wird, bedeutet das Radikalisierung und Enthemmung der militärischen Operationsführung, Bruch mit dem Comprehensive Approach und der Counterinsurgency-Strategie, Rückzug von Entwicklungshelfern und Polizeiausbildern. Dem Afghanistaneinsatz würde das die letzte Legitimität und Perspektive nehmen.

Die Folgen des Afghanistaneinsatzes für die Bundeswehr sind einschneidend. Erstmalig in der Geschichte der Bundeswehr und der jüngeren Geschichte ihrer Auslandseinsätze steht sie in anhaltenden Kampfeinsätzen, in denen Bundeswehrsoldaten getötet, physisch und seelisch verwundet werden und ihrerseits töten und verwunden. Auch wenn immer wieder von erheblichen Ausrüstungsmängeln, vor allem in der einsatzvorbereitenden Ausbildung, berichtet wird. Der insgesamt gute Ausbildungsstand der Soldaten und die gute sanitätsdienstliche Versorgung, aber auch eine eher reaktive Operationsweise trugen dazu bei, dass die Bundeswehr viel höhere Opferzahlen erspart blieben. Noch ist nicht absehbar, welche längerfristigen Folgen der andauernde Kampfeinsatz für die Soldaten und ihr soziales Umfeld, für die Bundeswehr und deutsche Sicherheitspolitik hat. Die Innere Führung mit dem Leitbild des Staatsbürgers in Uniform ist einer Belastungsprobe sondergleichen ausgesetzt. Erkennbar ist aber, dass sich immer mehr Bundeswehrangehörige innerlich von der Bundeswehr verabschieden. Hauptgründe waren vor allem Einsatzerschwernisse durch Bürokratie und Unflexibilität, Ignoranz gegenüber den Erfahrungen der Praxis und mangelnde Offenheit für Kritik sowie Aufgabenüberlastung. Manche Insider sprachen von einem sich anbahnenden kollektiven Burn-out. Vor diesem Hintergrund bekommt die von Minister zu Guttenberg in Gang gesetzte erneute Bundeswehrreform eine besondere Dringlichkeit.

Zwischen Einsatzrealität, Politik und Gesellschaft

Der Bundeswehreinsatz steckt heute in einem mehrfachen Dilemma zwischen Auftragserfüllung und Erwartungen von Verbündeten einerseits sowie Selbstschutz, begrenzten eigenen Fähigkeiten und Auflagen einer primär innenpolitisch orientierten deutschen Politik andererseits, zwischen ständiger Lebensgefahr in den Kriegsdistrikten und Desinteresse in der Heimat.

Erst neuerdings beinhaltet der Auftrag ausdrücklich auch den Schutz der Bevölkerung. Über Jahre beschränkte er sich auf ein sicheres Umfeld für Regierung und Hilfspersonal und Rücksichtnahme auf die Bevölkerung. Mit dem Anwachsen der Aufständischenaktivitäten erlebte das PRT Kunduz einen enormen Aufwuchs an Soldaten und geschützten Fahrzeugen. Im Rahmen des Unterstützungsansatzes überließ ISAF/Bundeswehr den afghanischen Sicherheitskräften die Initiative beim Vorgehen gegen identifizierte Aufständische und mutmaßliche Attentäter. Zugleich empfanden die Soldaten im Einsatz erhebliche Rechtsunklarheit bei der Anwendung militärischer Gewalt gegenüber einem Gegner, der einen Guerilla- und Terrorkrieg führt.

Schließlich bekamen die Soldaten die Versäumnisse bei der Förderung selbsttragender Sicherheit zu spüren. Über Jahre leistete die Bundesrepublik qualitativ gute, aber quantitativ völlig unzureichende Beiträge zum Polizeiaufbau. Die Entwicklungszusammenarbeit wirkte der wachsenden Enttäuschung und Perspektivlosigkeit junger Männer in Afghanistan nur unzureichend entgegen.

Unter Soldatinnen und Soldaten im Afghanistaneinsatz ist die Stimmung verbreitet, von Politik und Gesellschaft allein gelassen zu sein. Für Bundeswehrangehörige, die Staatsbürger in Uniform wollen, die aus Überzeugung handeln und höchste Risiken übernehmen sollen, ist das ein unerträglicher Zustand.

Hierzu kam es, weil vor allem die politische Führung weder die notwendige strategische Klarheit noch die Kraft zu einem offenen und ehrlichen Umgang mit diesem Einsatz aufbrachte. Das Wort von Minister Struck von der „Verteidigung Deutschlands am Hindukusch" war eingängig, aber irreführend. Es bereitete den Weg für eine zunehmend national beschränkte Sicht auf einen Konflikt, bei dem es eben nicht um die Existenz oder eine spezifische Bedrohung der Bundesrepublik, sondern um internationale, kollektive Sicherheitsinteressen ging: die nachhaltige Beseitigung der dortigen Terror-Infrastruktur - und den Aufbau eines zutiefst kriegszerstörten Landes. Aus dem Primärinteresse an Selbstrechtfertigung propagierte man die hehren Absichten, betonte die (Teil-)Fortschritte und verdrängte die Negativentwicklungen vor Ort. Durch Verweigerung von Transparenz und einer unabhängigen Bilanzierung des Einsatzes geriet man in eine Spirale von Selbsttäuschung, Realitätsverlust und Täuschung.

Die Bundesregierung duckte sich weg. Die Bundeskanzlerin blieb deutlich auf Distanz und hielt ihre erste Regierungserklärung zu Afghanistan erst am Ende ihrer ersten Amtsperiode nach dem Luftangriff von Kunduz. Das  Auswärtige Amt, für den Bundeswehreinsatz immerhin federführend, überließ die öffentliche Kommunikation zum Afghanistaneinsatz überwiegend dem Verteidigungsressort und begünstigte damit die militärfixierte Afghanistandebatte. Das Verteidigungsministerium schließlich hatte über vier Jahre mit Franz-Josef Jung ein Kommunikationsproblem an der Spitze und betrieb eine Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, die den Einsatzpraktikern einen Maulkorb verpasste.

Der Bundestag trägt Mitverantwortung für dieses politische Führungsversagen. In Bundestagsdebatten dominierte der Rechtfertigungsdiskurs und kamen die Fragen der Umsetzung und Wirksamkeit zu wenig zur Sprache. Über Detailfragen des Einsatzes und die Versuchung zum parlamentarischen Feldherrnhügel gerieten die eigentlichen Aufgaben des Auftraggebers Parlament aus dem Blick: Die Definition klarer und realistischer Ziele, die Bereitstellung der dafür notwendigen Fähigkeiten und Ressourcen. Die Koalitionsmehrheit lehnte Anträge aus der Opposition zu einer Wirksamkeitsbewertung des Einsatzes ab. Seit dem Wechsel in die Opposition tritt auch die SPD für eine solche Evaluierung ein. Der Verteidigungsausschuss war von November 2006 bis September 2008 stark durch seine Arbeit als Untersuchungsausschuss zu den Misshandlungsvorwürfen von Murnat Kurnaz gegen KSK-Soldaten und zum KSK-Einsatz im Jahr 2002 absorbiert. Darunter litt die parlamentarische Kontrolle des laufenden Einsatzes gerade zur Zeit der massiven Lageverschärfung.

So entstanden gespaltene Wahrnehmungswelten: der von oben schön geredete Stabilisierungseinsatz, das von der Dominanz der Anschlagsberichterstattung erzeugte Bild eines ganzen Afghanistan im Krieg, die unterschiedlichen Erfahrungen der Deutschen vor Ort zwischen Guerillakriegsalltag in Kunduz und pulsierendem Wachstum in Mazar-i Sharf. So zerbrach Vertrauen: in der Bevölkerung gegenüber der Politik, unter Soldaten gegenüber der eigenen Führung.

Anforderungen an eine verantwortliche Abzugsperspektive

Nach den vielen vertanen Chancen und strategischen Fehlern der Vergangenheit besteht die Gefahr eines Scheiterns des internationalen Afghanistaneinsatzes in den nächsten ein bis zwei Jahren. Das hätte desaströse Konsequenzen für die Menschen in Afghanistan, insbesondere die demokratischen Kräfte, für die regionale Sicherheit und die wankende Atommacht Pakistan, für eine Politik kollektiver Sicherheit und multilateraler Konfliktlösung im Rahmen des UN-Systems. Es wäre ein weltpolitischer Totalschaden.

Mit dem Strategiewandel und der Kraftanstrengung auf Seiten der USA sind andererseits die Voraussetzungen für ein kohärentes internationales Engagement besser denn je. Zugleich ist es fraglich, ob diese Anstrengungen nicht zu spät kommen. Wie können nach so vielen Jahren der Enttäuschung und des Vertrauensverlustes Köpfe und Herzen gewonnen und die wuchernde Aufstandsbewegung wirksam eingedämmt werden,

-          wenn die afghanische Regierung durch Korruption und schlechte Regierungsführung Köpfe und Herzen abstößt, wenn internationale Akteure mit berüchtigten Warlords paktieren, wenn Infiltration und Einschüchterungsterror durch Aufständische so weit fortgeschritten sind;

-          wenn ISAF ihr Schutzversprechen für die Bevölkerung trotz größerer Rücksichtnahme und eigener Risikobereitschaft immer weniger erfüllen kann;

-          wenn offensive Gegnerbekämpfung auch immer Söhne, Brüder, Väter trifft und immer noch - wenn auch abnehmend - unbeteiligte Zivilpersonen; wenn getötete oder gefangene einheimische Führer der Aufständischen durch jüngere, radikalere, brutalere aus Pakistan ersetzt werden;

-          wenn Internationale in zunehmender Distanz zur Bevölkerung agieren und ihren baldigen Abzug ankündigen, während Kräfte aus dem Bürgerkrieg zunehmend um günstige Positionen für die Zeit danach rivalisieren und Aufständische inmitten der Bevölkerung agieren und nur warten brauchen?

Die UN-mandatierte Unterstützung des Staatsaufbaus in Afghanistan ist ein in der Geschichte des internationalen Peacebuilding einmaliges Projekt, hinsichtlich der Dimension und Komplexität der Aufgabe und der Zahl beteiligter Akteure. Das Afghanistanengagement ist die bisher größte Herausforderung auch für bundesdeutsche Außen- und Sicherheitspolitik, insbesondere wenn sie sich als Friedenspolitik versteht. Die Bundesregierung behandelte den Afghanistaneinsatz demgegenüber vor allem als heißes Eisen.

Wo die Alternative eines Sofortabzuges desaströs wäre, kommt es umso mehr darauf an, noch vorhandene Chancen zu identifizieren und bestmöglich zu nutzen.

Deutsche Afghanistanpolitik muss sich zuallererst ehrlich machen und die Strukturen von Selbsttäuschung und Täuschung überwinden, die ihren bisherigen Höhepunkt in der Kunduz-Affäre gefunden haben. Unverzichtbar dafür sind eine selbstkritische Bilanzierung des Einsatzes, ein integriertes und der Öffentlichkeit zugängliches Lagebild zu Sicherheit und Aufbau. Ausgehend von einer fundierten Bedrohungs-, Risiko- und - vor allem auch - Chancenanalyse sind Auftrags- und Zielklarheit unabdingbar. Die allgemeinen, hehren Ziele müssen in    überprüfbare Zwischenziele übersetzt werden. Ohne in Machbarkeitsillusionen zu verfallen oder sich im Multilateralismus zu verstecken:

Was will die Bundesrepublik in ihrem Hauptverantwortungsgebiet bis wann erreichen? Was ist ihre road map? Überfällig ist eine laufende Wirksamkeitsevaluierung durch eine unabhängige Institution. Notwendig ist, die wissenschaftliche Expertise zu Afghanistan offensiv einzubeziehen und die inzwischen in Deutschland durch abertausende Afghanistan-Rückkehrer und Exilafghanen breite Erfahrungskompetenz zu mobilisieren. Ohne diese Schritte gibt es weder eine realistische, aussichtsreiche Afghanistanstrategie noch irgendeine Chance, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen.

Unumgänglich war, eine Frist für den militärischen Abzugsbeginn ab 2011 zu setzen. Damit dieser verantwortbar ist und nicht mit einem Exodus der weiter notwendigen internationaler Aufbauunterstützung einhergeht, bedarf es einer großen konzertierten Kraftanstrengung - vor allem beim Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte, der Förderung besserer Regierungsführung sowie bei Aufbau und Entwicklung, insbesondere der Landwirtschaft.

Damit die eigenen Akteure bestmöglich an einem Strang in dieselbe Richtung ziehen, braucht die Bundesregierung eine ressortgemeinsame Struktur für Planung, Führung und Auswertung mit eigener Entscheidungskompetenz und Haushaltsmitteln. Der ressortübergreifende Ansatz muss sich auch mehr als bisher auf Seiten des Bundestages widerspiegeln.

Der Primat der Politik und der Förderung von Governance und guter Regierungsführung in Afghanistan brauchen Muskeln. Das Auswärtige Amt braucht eine handlungsfähige Vertretung für den Norden und muss Mentoren für die Provinz- und Distriktebene stellen können. Wo die militärische Funktion der PRT`s geschrumpft ist, brauchen sie dringend eine zivile Leitung. Ohne einen solchen politisch-zivilen Aufwuchs wird die Bundesrepublik in ihrem bisherigen Hauptverantwortungsgebiet neben dem militärisch-zivilen Aufmarsch der USA marginalisiert werden.

Die richtige Fokussierung auf die zügige Stärkung afghanischer Sicherheitsstrukturen wird ein Kampf gegen Windmühlenflügel oder ein gigantischer Rohrkrepierer, wenn er nicht mit intensiven Bemühungen um politische Konflikteindämmung und -lösung einhergeht: auf lokaler, nationaler und vor allem regionaler Ebene. Hier kommt Russland, China, Pakistan, Iran, Indien eine Schlüsselrolle zu. Etliche Regionalexperten sehen in einer prozesshaft angelegten Afghanistan-Konferenz den entscheidenden Hebel. Das lenkt den Blick zugleich auf das Mega-Problem des wankenden Staates Pakistan. Eine Jahrhundertflut zerstörte im August große Teile Pakistans. Über das Humanitäre hinaus hätte sie begriffen werden müssen als eine Bedrohung der internationalen Sicherheit[18], die eine Gegenmobilisierung wie nach dem 11. September gebraucht hätte - nur jetzt im konstruktiven Sinne. Dies geschah nicht.

Nach allen historischen Erfahrungen ist bei Großkonflikten und Kriegen die Gefahr der Selbsttäuschung auch bei fähigsten Akteuren immens. Was nicht sein soll und nicht sein darf, kann trotzdem geschehen, muss also vorgedacht werden: der worst case des internationalen Scheiterns, eines eiligen Abzugs durch Niederlage, wodurch auch immer. Was wären dann die Optionen, um einen Rückfall in die Metzeleien der früheren 1990er Jahre, gar ein Übergreifen auf Pakistan zu verhindern?

 


[1] Der vorliegende Beitrag ist eine Erweiterung und Aktualisierung  (Stand Oktober 2010) des Beitrags: Der ISAF-Einsatz der Bundeswehr - Anmerkungen zu einer überfälligen Bilanzierung, in: Friedensgutachten 2010, hrg. von den fünf deutschen Friedensforschungsinstituten, Berlin 2010. Als Mitglied des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages von 1994-2009 war der Autor acht Jahre an den Mandatsentscheidungen und der politischen Einsatzkontrolle zu Afghanistan beteiligt. Dieser Aufsatz ist somit auch ein Beitrag zu einer parlamentarischen, kritischen Selbstüberprüfung. Er stützt sich wesentlich auf Informationen und Einblicke, die sich im Rahmen der Ausschusstätigkeit und bei 15 Besuchen in Afghanistan ergaben. Reiseberichte zu Afghanistan unter http:///www.nachtwei.de

[2] The Dutch Engagement in Uruzgan: 2006-2010. A TLO socio-political assessment, August 2010, www.tlo-afghanistan.org.

[3] Diese Opferzahlen nannte die Bundesregierung zum Abschluss der Verhandlungen zur Entschädigung von Hinterbliebenen in Kunduz am 5. August 2010. Sie übernahm damit die Opferzahlen,  die die STERN-Reporter Christoph Reuter und Marcel Mettelsiefen zwischen Dezember 2009 und März 2010 in Kunduz ermittelt hatten. Die Zahl der Zivilopfer sei schon deshalb nicht seriös zu benennen, weil nicht verlässlich zwischen Aufständischen und Zivilpersonen unterschieden werden könne. Vgl. Marcel Mettelsiefen, Christoph Reuter: Kunduz, 4. September 2009. Eine Spurensuche, Katalog zur Ausstellung, Berlin 2010

[4] Deutscher Bundestag: Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses als 1. Untersuchungsausschuss, Bundestagsdrucksache 16/10650, Berlin 15. Oktober 2008

[5] Antrag der Bundesregierung: Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan, Bundestagsdrucksache 14/7930 vom 21. Dezember 2001

[6] Vom Juli 2009 bis Februar 2010 war ein Kontingent des Stabes des Deutsch-Niederländischen Corps zum zweiten Mal im ISAF Headquarter eingesetzt.

[7] Bis Ende September 2010 unter dem deutschen General Egon Ramms, seitdem unter General Wolf Langheld.

[8] Ein anschauliches Bild der ISAF-Realität von 2003 vermittelt der damalige ISAF-Kommandeur, der Kommandierende General des 1. Deutsch-Niederländischen Corps, der deutsche Generalleutnant Norbert van Heyst: Mein Kabul-Protokoll, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 17. August 2003.

[9] Wo Streitkräfte inmitten der Bevölkerung operieren und auf die Zusammenarbeit mit zivilen Akteuren angewiesen sind, ist Civil Military Cooperation Teil des militärischen Auftrages. Einzelaufgaben sind die Erstellung eines zivilen Lagebildes und Beratung des Kommandeurs. CIMIC-Maßnahmen sollen eine positive Stimmung zugunsten der Streitkräfte fördern und damit die Auftragserfüllung erleichtern.

[10] Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO): Was will Deutschland am Hindukusch? VENRO-Positionspapier 7/2009, Bonn 2009

[11] Vgl. Markus Gauster: Provincial Reconstruction Teams - ein innovatives Instrument des internationalen Krisenmanagements auf dem Prüfstand, Wien 2006

[12] Ausdrücklich auszunehmen von dieser Bewertung ist der sehr informative und vielseitige, vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt herausgegebene Wegweiser zur Geschichte: Afghanistan, Paderborn 2006, inzwischen in 3. und erweiterter Auflage erschienen.

[13] Vgl. die Erfahrungen des ehemaligen Bundeswehrarztes Dr. Reinhard Erös in Ostafghanistan: Unter Taliban, Warlords und Drogenbaronen, Hamburg 2008.

[14] Genaue Darstellung von Verlauf und Systematik des Infiltrationsprozesses und der Ausbreitung der Aufstandsbewegung bei Antonio Giustozzi/Christoph Reuter: The Northerm Front - The Afghan insurgency spreading beyond the Pashtuns, Afghanistan Analysts Network, Juni 2010. http://www.aan-afghanistan.com

[15] Beschluss der Rechtsgelehrten, Ältestenvertreter, Lehrerschaft, Schülerinnen und Schüler, Jugendorganisationen und Handwerksgenossenschaft der Provinz Kunduz nach den Selbstmordattentaten in der Stadt Kunduz:

„Wir sehen diese Tat als eine unislamische und verfluchte Tat an. (...) Wir verurteilen ganz besonders das Selbstmordattentat vom 19.5.2007, wobei drei Soldaten unserer befreundeten Nationen aus Deutschland ums Leben kamen, die in der Provinz Kunduz für Sicherheit, Stabilität und Wiederaufbau sorgten. (...) Die Anwesenheit des deutschen PRTs in der Provinz Kunduz ist so notwendig wie das Wasser zum Leben. Die leidgeplagten Einwohner der Provinz Kunduz brauchen weiterhin die Unterstützung des PRTs." Übersetzung durch Leiter des Sprachendienstes PRT Kunduz vom 25. Mai 2006.

[16] Diese Situation schildern äußerst eindringlich Anita Blasberg und Stefan Willeke in: Das Kunduz-Syndrom, ZEIT-Dossier vom 4. März 2010. Zur Gesamtentwicklung in Kunduz vgl. Marco Seliger: Kunduz - was läuft falsch? In: LOYAL 1/2010, S. 18 ff.

[17] Jan Böhnke/Jan Koehler/Christoph Zürcher: Assessing the Impact of Development Cooperation in North East Afghanistan 2005-2009: Final Report, Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Bonn 2010

[18] „Jedes Ereignis und jeder Prozess, der zum Tod vieler Menschen oder zur Verringerung von Lebenschancen führt und der die Staaten als das tragende Element des internationalen Systems untergräbt, ist eine Bedrohung von internationaler Sicherheit." „Eine sicherere Welt: Unsere gemeinsame Verantwortung", Bericht der Hochrangigen Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel an UN-Generalsekretär Kofi Annan, Generalversammlung A/59/565, New York 2004


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

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