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Friedensforschung und Afghanistan

Veröffentlicht von: Webmaster am 18. Oktober 2010 14:28:10 +01:00 (108959 Aufrufe)

Zu Beginn des Wintersemesters hielt Winfried Nachtwei zwei Festvorträge bei der feierlichen Eröffnung von Masterstudiengängen zur Friedens- und Konfliktforschung: In Hamburg über "Perspektiven von Frieden und Sicherheit - Erfahrungen eines Parlamentariers", in Augsburg über "Aufgaben der Friedens- und Konfliktforschung angesichts der Herausforderung in Afghanistan". Als Gründungsmitglied des Stiftungsrates der Deutschen Stiftung Friedensforschung hatte Nachtwei im Jahr 2002 ein Förderprogramm mitbeschlossen, mit dem an deutschen Universitäten Masterstudiengänge zur Friedens- und Konfliktforschung etabliert wurden. Im Folgenden der Augsburger Vortrag:

Die Aufgaben der Friedens- und Konfliktforschung angesichts der Herausforderungen in Afghanistan

Vortrag von Winfried Nachtwei, MdB a.D., anlässlich der feierlichen Eröffnungsveranstaltung des Studiengangs „Sozialwissenschaftliche Konfliktforschung"

am 18. Oktober 2010 in der Universität Augsburg[1]

Lieber Prof. Weller, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Studierende,

aus dem Mittleren Norden bin ich aus mehreren Gründen gern hierher gekommen.

In der Friedensbewegung der 80er Jahre - Sie merken, hier spricht ein Älterer - war nicht nur mir deutlich geworden, dass Proteste gegen neue Aufrüstungsrunden notwendig, aber keineswegs ausreichend waren. Hinzukommen musste die Entwicklung von friedenspolitischen Alternativen: Wer den Frieden will, bereite auch den Frieden vor. Ihr Masterstudiengang ist ein Beitrag zu dieser Suche.

Vor einem Jahr hörte ich nach 15 Jahren freiwillig mit dem Bundestag auf. Ich wollte die letzte Chance meiner Resozialisierung nutzen. Abschied genommen von der Friedens- und Sicherheitspolitik habe ich damit aber keineswegs. Die liegt mir zu sehr am Herzen. Und da ist es mir ein besonders Bedürfnis, die Jüngeren und Nachfolger zu unterstützen.

Chance Europa

Ein Teil von Ihnen besuchte vor einigen Monaten Berlin, führten Gespräche in Berlin-Mitte. Ich durfte seit 1999 dort arbeiten. Bei zig Gesprächen mit Besuchergruppen, mit Jugendlichen, mit Gästen aus Osteuropa, mit Offizieren der ehemaligen Gegner war mir immer wieder eindringlich bewusst, was dieses Berlin-Mitte für ein Ort ist:

1918 die Ausrufung der Republik vom Balkon des Reichstages; 1933 der Fackelzug der Nazis am Brandenburger Tor am Abend der Machtübergabe; 1939 der Befehl zum Angriff auf die europäischen Nachbarn, danach das Reichssicherheitshauptamt als Führungszentrum für die systematische Ermordung der europäischen Juden und anderer Bevölkerungsgruppen; 1945 die Schlusskämpfe im Reichstag, denen einige Hundert deutsche und sowjetische junge Soldaten zum Opfer fielen; ab 1961 die Mauer, die Europa und Deutschland spaltete; schließlich 1989 das phantastische Wunder der friedlichen Revolution, der fallenden Mauer.

Welches Glückslos haben wir Nachkriegsgenerationen gezogen, ohne jedes eigene Verdienst, dass wir in Mittel- und Westeuropa im Unterschied zu allen unseren Vorgängergenerationen keinen Krieg mehr im eigenen Land erleben mussten.

Welche Chance ist das, aber auch welche Verantwortung, Verpflichtung für Frieden und Menschenrechte!

In Programmen und Reden Frieden und Menschenrechte hochhalten ist das eine...

In diesen Oktobertagen genau vor 14 Jahren, 1996, standen wir mit einer Spitzendelegation von Grüner Bundestagsfraktion und Partei am Hang von Sarajevo.[2] Hier kam in unseren Köpfen und Herzen an, was die Medien schon über Jahre berichtet, was ein Teil von uns und ich in seiner ganzen Konsequenz aber verdrängt hatten: mitten in Europa schossen von hier aus die Belagerer in die Stadt, auf Zivilisten, drei Jahre lang von 1992 bis 1995. Ungefähr 10.000 Menschen fielen der Belagerung zum Opfer. Der katholische Bischof von Banja Luka hielt uns vor: „Ihr, Europa habt das zugelassen, habt versagt!"

Deutlich wurde uns:

Es gibt eine Verpflichtung zum Schutz vor völkermörderischer Gewalt, gegebenenfalls mit militärischer Gewalt im Rahmen der Vereinten Nationen.

Vor allem aber die Verpflichtung frühzeitig, rechtzeitig hinzusehen, politisch aktiv zu werden, viel wirksamer bei der Gewaltvorbeugung zu werden.

Herausforderung in Afghanistan: Friedensmission - gelandet im Krieg

Vor zehn Jahren hätte niemand deutsche Soldaten in Afghanistan für möglich gehalten. Vor neun Jahren wurde es beschlossen, Bundeswehrsoldaten nach Afghanistan zu entsenden.

Treibende Motive für den Afghanistaneinsatz waren in Berlin

-   zuerst und ausschlaggebend die Unterstützung der USA nach dem 11. September, Bündnissolidarität;

-   damit verbunden das internationale Sicherheitsinteresse, die Terrorstrukturen in Afghanistan bleibend zu beseitigen;

-   aus der Einsicht, dass Terrorismus mit Krieg nicht besiegt werden kann, die Absicht, Afghanistan nach 23 Jahren Krieg, Invasion, Bürgerkrieg und humanitärem Desaster Starthilfe zu leisten beim Aufbau.

Wider alle Worte von der „uneingeschränkten Solidarität" begann der Afghanistaneinsatz sehr eingeschränkt: die - besonders umstrittene - Teilnahme an der Antiterroroperation Enduring Freedom beschränkte sich in Afghanistan auf bis zu 100 Soldaten des Kommando Spezialkräfte (KSK), die relativ spät zum Einsatz haben und dann nur noch zu Aufklärungsoperationen eingesetzt wurden. Die Masse des Afghanistaneinsatzes ging in die Sicherheitsunterstützungstruppe ISAF, die mit ihrem beschränkten Assistance-Auftrag auf Kabul und Flughafen begrenzt war und nur 5.000 Soldaten, davon bis 1.200 Bundeswehr umfasste. Die Erwartung etlicher in Berlin war damals: es werde riskant, aber hoffentlich in sechs Monaten zu schaffen.

Spätestens ab 2006, mit der Übernahme der deutschen Führungsverantwortung für den ganzen Norden - immerhin eine Fläche von der halben Größe der Bundesrepublik, mit schwieriger Geographie und noch schwierigeren politischen Verhältnissen - wurde der Afghanistaneinsatz zur größten Herausforderung für bundesdeutsche Außen- und Sicherheitspolitik, vor alle, wenn sie Friedenspolitik sein will. Größte Herausforderung wegen der Dimensionen und Komplexität, der Kosten und erstmalig - Opfer.

Größte Herausforderung, weil Bundeswehrsoldaten seit 2008/9 mit einem offenen Guerilla- und Terrorkrieg konfrontiert sind, mit mindestens 35 Gefechten allein in 2009, wo sie beschossen, angesprengt, verwundet, getötet werden, wo sie verwunden, töten.

Größte Herausforderung, weil ein Scheitern des gesamten multinationalen Einsatzes möglich ist mit desaströsen Folgen für die Menschen in Afghanistan, für regionale Sicherheit - die wankende Atommacht Pakistan! -, für eine Politik multilateraler Friedenssicherung im Rahmen von UN, NATO und EU generell.

Das war nicht vorprogrammiert. In den ersten Jahren ging es in Teilen des Landes eindeutig aufwärts. Teilerfolge gibt es bis heute. Zur Rückkehr des Krieges, zur Eskalation von Gewalt und Krieg trugen verschiedene fundamentale Fehler bei:

-   eine naive Unterschätzung der Herausforderung. Dafür steht beispielhaft, wie die Bundesrepublik ihre Lead-Rolle beim Polizeiaufbau wahrnahm. Zwölf Beamte wurden entsandt, schließlich vierzig. Sie leisteten persönlich hervorragende Arbeit. Aber angesichts der gigantischen Herausforderung waren sie gnadenlos überfordert. Der mangelnde Realitätssinn zeigte sich auch in abstrakten, nicht überprüfbaren Mandatszielen, Verzicht auf Wirksamkeitsevaluierungen, Strukturen von Beschönigung, Realitätsverleugnung und (Selbst)Täuschung.

-   Strategische Dissense zwischen Hauptverbündeten: die Fixierung der USA unter Bush auf militärische Terror- und Talibanbekämpfung, die Gegnerfixierung, die Verlagerung der Kräfte in den Irakkrieg, die jahrelange Verachtung für Statebuilding. Demgegenüber setzten UN, einige europäische Verbündete, die Bundesrepublik mehr auf Bevölkerungsorientierung, auf Sicherheits- und Aufbauunterstützung. Diese Dissense wurden lange Zeit politisch nicht austragen, geschweige geklärt.

-   Die Fixierung der internationalen Statebuilding-Unterstützung auf Zentralstaatlichkeit in einem Land, das nie eine funktionierende Zentralstaatlichkeit gekannt hat.

-   Das Missverhältnis zwischen militärischen und politisch-zivilen Anstrengungen, Kapazitäten und Ressourcen, die strukturelle Militärlastigkeit.

-   Das langjährige Ausklammern des Taliban-Hinterlandes Pakistan.

Insgesamt: viele vertane Chancen und enttäuschte Hoffnungen!

Aufgaben der Friedens- und Konfliktforschung

Da ich nichts hiervon bisher mit Friedens- und Konfliktforschern durchgesprochen habe, ist das Folgende als Anregung zu verstehen.

In diesem Jahr erlebte ich sehr wichtige und hilfreiche Beiträge der deutschen Friedens- und Konfliktforschung zum Afghanistankomplex.

Im März in Bad Godesberg die Tagung „Wer sind die Taliban?" der Wissenschaftlichen Arbeitsgruppe Afghanistan und des Zentrums für Entwicklungsforschung (ZEF). Im April in Loccum die Tagung „Vorrang für zivil! Neue deutsche Strategie für Afghanistan?" Im Mai in Berlin die Tagung „Mit den Taliban verhandeln?" anlässlich der Vorstellung des diesjährigen Friedensgutachtens. Seinen Afghanistanschwerpunkt bilden sechs Beiträge und die Empfehlungen der Herausgeber. Gemeinsam konstatieren die Herausgeber ein Scheitern des Einsatzes, gehen in ihren Empfehlungen aber auseinander. Sie schlagen vier Optionen vor: (a) Die neue Afghanistan-Strategie als letzte Chance; (b) Einstellung der Kampfoperationen; (c) Verhandlungen mit den Taliban; (d) legitime Staatlichkeit ins Zentrum rücken.[3]

Trotz aller guter Einzelbeiträge und Studien ist der Beitrag der deutschen Friedens- und Konfliktforschung zum Verständnis der Herausforderungen in Afghanistan begrenzt:

Die Zahl der Forscherinnen und Forscher ist sehr überschaubar. Ein Teil beschränkt sich auf Ferndiagnose. Zu einem Forschungsschwerpunkt wurde Afghanistan erst in jüngster Zeit. Begrenzt ist schließlich ihre Reichweite, ihr Echo in Politik und Öffentlichkeit.

Erschwert wird die Arbeit der Friedens- und Konfliktforschung durch die mangelnde Transparenz deutscher Afghanistanpolitik - im Unterschied z.B. zu den USA - und die verschärfte Sicherheitslage in Afghanistan, wo Feldforschung immer weniger möglich ist. Der Vorschlag, den Afghanistaneinsatz durch ein unabhängiges Gremium von Wissenschaftlern zu beobachten und zu bewerten, traf in Berlin vor einigen Jahren auf taube Ohren.

Umso mehr gilt: Verantwortliche deutsche Afghanistanpolitik braucht Beiträge und Widersprüche der Friedens- und Konfliktforschung. Heute mehr denn je!

Die Schlüsselfragen der Friedens- und Konfliktforschung

-   wie Kriege wirksam beenden?

-   wie Gewalt wirksam verhüten und eindämmen?

-   wie Frieden wirksam fördern?

stellen sich heute in Afghanistan - und Pakistan - mit besonderer Dringlichkeit. In den ersten neun Monaten 2010 nahm die Zahl der Zivil-Toten im Kontext des bewaffneten Konflikts in Afghanistan weiter zu, von 1.601 im Vorjahrszeitraum auf 1.862. Im 3. Quartal 2010 stiegen die Sicherheitsvorfälle, das sind Feuerwechsel und Gefechte, Sprengstoffanschläge, indirektes Feuer, um 59% gegenüber dm Vorjahrszeitraum. In den Nordprovinzen Baghlan, dem Hot Spot südlich Kunduz, um 140% auf 163, in Balkh um die Boomtown Mazar-e Sharif um 111% auf 116, in Kunduz um 39% auf 294; in der Opiumprovinz Helmand um 193% auf 1.179.[4]

Beiträge der Friedens- und Konfliktforschung sind umso wichtiger, weil auf politischen Führungsebenen die Haltung von Beschönigung und Realitätsabwehr immer noch nicht überwunden ist und innenpolitische Erwägungen weiter die Afghanistanpolitik dominieren, weil die öffentliche Wahrnehmung des Afghanistaneinsatzes schwankt zwischen überwiegender Ablehnung, kurzzeitiger Aufmerksamkeit, wenn was passiert, und ansonsten viel Desinteresse. Wo Politik und Medien überwiegend um Fragen von Ausrüstung und Einsatzregeln kreisen, ist es Aufgabe und Chance der Friedens- und Konfliktforschung, den Fokus auf die vernachlässigten Kernfragen der Konfliktlösung, der Wiederherstellung von Sicherheit und der Förderung von menschlicher Sicherheit zu richten.

Wichtige Fragestellungen und Forschungsfelder wären aus meiner Sicht - und ohne Rücksicht auf eventuelle Grenzen sozialwissenschaftlicher Konfliktforschung:

(a)    Zuerst eine aktuelle Lageerfassung zu Sicherheit, zu Aufbau, eine Art laufendes Konflikt- und Aufbau-Barometer, ein deutscher „Afghanistan Conflict Monitor"[5], um genaues Hinsehen bei einem Land zu ermöglichen, das durch größte Unterschiede gekennzeichnet ist und wo Welten liegen können zwischen einzelnen Distrikten. (Von den 123 Distrikten der Nordregion galten Anfang 2010 acht als Guerillakriegsgebiet.) Wenn es heißt, ich sei der einzige bundesweit, der eine laufende Sicherheitslage produziert, dann ist das ein unmöglicher Zustand.[6]

(b)   Zur Schlüsselfrage Krieg beenden - Frieden fördern: Wer und was sind hierbei wichtige Akteure, Strukturen, Prozesse, Anhaltspunkte - auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Regionen? Wo das Hauptaugenmerk auf Risiko- und Bedrohungsanalysen liegt, sind endlich auch CHANCENANALYSEN überfällig. Wer Frieden fördern will, muss Chancen identifizieren und anpacken. Ansonsten kann man es von vorneherein sein lassen.

(c)    Was tragen internationale Akteure, staatliche und nichtstaatliche, zu Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung bei? Was können sie überhaupt leisten, was nicht, wo schaden sie? (do no harm) Was behindert eine kohärente Politik, welche Formen von politisch-zivil-militärischer Zusammenarbeit sind nötig, möglich, kontraproduktiv? Wider den Vorrang von nationalen, Ressort- und Organisationsinteressen kann Friedens- und Konfliktforschung die selbstreflexiven Fähigkeiten von Akteuren stärken.

(d)   Welche Art von Governance-Förderung und Sicherheitssektorreform ist sinnvoll und aussichtsreich, wo wird Statebuilding zur Illusion? Was kann lokales Peacebuilding mit Hilfe von Friedensfachkräften leisten?

(e)    Wie umgehen mit einer Aufstandsbewegung, die heterogen ist und in verschiedenen Regionen sehr unterschiedlichen Rückhalt hat, die in einer enormen Spannweite agiert: mit regelrechten Massakertaktiken auch gegenüber der Zivilbevölkerung bis zur Profilierung als nichtkorrupter Ordnungsfaktor?

(f)    Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus dem bisherigen Afghanistaneinsatz für künftige Krisenbewältigung und effektiven Multilateralismus? Abschied von Stabilisierungseinsätzen und Responsibility to Protect?

(g)   Fragen zu den Strukturen, Abläufen und Folgen deutscher Afghanistanpolitik:

-    Wie ist die Realität des Anspruchs von vernetzter Sicherheit/Comprehensive Approach in der Politik der Bundesregierung in Berlin und den verschiedenen Ebenen in Afghanistan, in den PRT`s? Wie wirkte sich die fortdauernde Dominanz des Ressortprinzips und -denkens in der deutschen Afghanistanpolitik auf ihre Kohärenz und Wirksamkeit aus? (realer Incomprehensive Approach)

-   Was sind die Gründe für den Strategiemangel deutscher Außen-, Sicherheits- und Afghanistanpolitik und wo müsste eine Stärkung von Strategiefähigkeit ansetzen?

-   Wieweit trug das Parlament als Auftraggeber und Kontrolleur des Afghanistaneinsatzes zur Wirksamkeit oder auch zu Fehlentwicklungen des Einsatzes bei? Warum gelang es dem Parlament nicht, die Mehrheit der Bevölkerung vom Sinn eines Einsatzes zu überzeugen, den es selbst inzwischen zehn Mal mit übergroßer Mehrheit beschlossen hatte? Wie konnte es geschehen, dass inzwischen sogar eine zunehmende Zahl auch an Offizieren am Sinn des Einsatzes zweifelt, dass sie als Staatsbürger in Uniform nicht mehr aus Überzeugung gehorchen können?

-   Was machen die Gewalt- und die Kriegserfahrungen mit den inzwischen weit über tausend jungen Männern der Infanteriekompanien in Nordafghanistan, mit ihren Angehörigen und Bekannten, mit denen sie kaum darüber reden können? Die alltägliche und allnächtliche Höchstspannung, das Rundum-Misstrauen außerhalb des Feldlagers, wo ein Bauer ein Selbstmordattentäter sein kann, das Verbluten eines Kameraden, das Töten, Zerfetzen von Gegnern? Was machen die körperlichen und seelischen Verwundungen mit ihnen, mit ihren Familien? Wie wirkt sich das auf das Binnenleben der Streitkräfte, auf die Innere Führung, auf das Verhältnis von Bundeswehr und Gesellschaft aus?

-   Wie gehen Bevölkerung, Nachbarn, Öffentlichkeit mit der Tatsache von Krieg im Frieden um? Was wäre nötig und möglich, um die viel beschworene, aber kaum stattfindende breitere friedens- und sicherheitspolitische Debatte und Verständigung in Politik und Gesellschaft zustande zu bringen?

Abertausende Frauen und Männer mit Afghanistanerfahrung haben wir inzwischen unter uns: Zig Tausende Soldaten, viele Hunderte Entwicklungshelfer, Polizisten, Dutzende Diplomaten. Die allermeisten lässt das Land und seine Menschen nicht mehr los, zum Teil belastend, oft als Herzenssache. Diese Menschen haben Erfahrungen, Kompetenzen. Diese anzusprechen, produktiv zu nutzen, wäre für die Friedens- und Konfliktforschung eine große Chance.

(Und wäre es nicht eine ganz besondere Herausforderung und Aufgabe, wenn dabei Gleichaltrige ins Gespräch kämen? Die sehr verschieden, vielleicht gegensätzlich sind von ihrem Ausbildungshintergrund, von ihrer Sprache, von ihrer politischen Orientierung und Lebenswelt her. Die aber an einem Thema, der Friedens- und Sicherheitspolitik, der Konfliktbearbeitung gemeinsam dran sind, wenn auch von entgegen gesetzten Seiten: Studierende des Masterstudiengangs einerseits, Gebirgsjäger aus Bad Reichenhall, bis vor kurzem als Quick Reaction Force in Baghlan im Einsatz, andererseits. Angesichts der Ernsthaftigkeit, die ich bei diesen Soldaten erfahren habe, könnte da was möglich sein. Es könnte ein äußerst spannendes Projekt sein und etwas der Gefahr entgegenwirken, dass sich die jungen Veteranen mit ihren Extremerfahrungen einkapseln. Wo die Soldaten vom Parlament in den Einsatz geschickt wurden und alle Welt Gespräche mit den Taliban fordert, könnte ein solches Unterfangen wohl kaum als „friedenspolitisch inkorrekt" abgetan werden.)[7]

Wer jetzt meint, Politik würde mit offenen Armen und Ohren auf die Beiträge und Widersprüche der Friedens- und Konfliktforschung warten, soll sich keine Illusionen machen. In der Politik gibt es noch zuviel Schwerhörigkeit, ernüchternd viel langsames Lernen. (Wer 2001 auf einen Sechsmonats-Einsatz hoffte, hatte schlichtweg die keineswegs neuen Erfahrungen von UN-Einsätzen nicht zur Kenntnis genommen. Unsere seit 2006 erhobene Forderung nach einer Wirksamkeitsevaluierung des Afghanistaneinsatzes wurde von der Bundesregierung bis vor kurzem ignoriert.)

Aber, Vorsicht vor Pauschalisierungen, es gibt auch gute Zugänge und Zusammenhänge von Offenheit und schnellem Lernen. Ich habe sie kennen gelernt, nicht nur im Unterausschuss Abrüstung.

In Sachen Afghanistan sind jetzt aber die Chancen, durchzudringen und offene Ohren zu finden, so gut wie nie zuvor.[8]

Beispiele: Vor Veröffentlichung des Friedensgutachtens wurden Friedensforscher aus dem Herausgeberkreis ins Kanzleramt gebeten. Eine Runde von Afghanistanzuständigen der verschiedenen Ressorts hatte offenbar die Erwartung, von den Friedensforschern jetzt d i e Antworten zu bekommen. Ein deutliches Zeichen für die verbreitete Ratlosigkeit.

Der Befehlshaber des Einsatzführungskommandos, Generalleutnant Glatz, bezog sich in einem Vortrag zum Afghanistaneinsatz in der Bundesakademie für Sicherheitspolitik ausführlich und insgesamt positiv auf die Optionen des Friedensgutachtens. Langjährige Leser des Friedensgutachtens konnten sich nicht erinnern, jemals ein solches Lob des Friedensgutachtens von einem General gehört zu haben.

Ein letzter Gedanke zur Friedens- und Sicherheitspolitik insgesamt

Wo wir hier in der Friedensstadt Augsburg sind, wo ich aus der einen Stadt des Westfälischen Friedens Münster komme und den Schlips der anderen Stadt des Westfälischen Friedens, von Osnabrück, trage, gestatten Sie mir einen letzten Gedanken zu Friedens- und Sicherheitspolitik generell.

Politik ist bekanntlich das Bohren dicker Bretter. Bei einem Besuch einer internationalen Organisation in Wien sagte uns mal ein Diplomat, multilaterale Politik sei das Bohren von Stapeln dicker Bretter mit dem Daumen. Wenn ich x-mal in Konfliktregionen war, auf dem Balkan, im Kongo, in Somalia, in Afghanistan, dann erfuhr man da alle Gründe zum Verzweifeln, zum Abwenden von der Politik.

Wie da durchhalten, wie das Feuer am Brennen halten, Kurs halten? Drei Erfahrungen:

Erstens: Wir Nachkriegsgenerationen dürfen nicht vergessen, müssen uns bewusst halten, was Krieg ist. Der Wahnsinn der Kriege der Vergangenheit. Das Grauen heutiger, oft „kleiner" Kriege. 1981 erlebte ich in einem Krankenhaus im nordsomalischen Hargeisa mit, wie ein Junge gebracht wurde, vor einer Woche auf eine Mine geraten, das Bein zerfetzt, die Fleischfetzen hingen an den Knochen, der Gestank. Es ist mir wie gestern. Oder ein Krankenhaus in Bukavu in Ostkongo, dem Zufluchts- und Hilfsort für Frauen, die in den umliegenden Kriegsgebieten gezielt und massenhaft vergewaltigt werden. Die Hölle auf Erden. Oder in Mostar vor Jahren die von Dauerbeschuss zernarbten Hauswände.

Zweitens: In allen diesen Kriegsgebieten arbeiten mutige, phantastische Menschen, Helfer, Entwicklungsexperten, in Mazar die Lehrenden und Studierenden im Teacher Training Center, Polizeiausbilder, besonnene Soldaten, Friedensfachkräfte wie Cornelia Brinkmann in Badakhshan. Ich wage das Wort: Friedensmacher. Früher dachte ich, solche Menschen gäbe es so richtig nur in der Friedensbewegung. Nein, zum Glück sind solche Menschen heute in verschiedensten Zusammenhängen zu finden. Sie sind Mutmacher.

Drittens: Trotz aller Unübersichtlichkeiten und veränderten Fragestellungen - Orientierungsrahmen für internationale Politik, für Friedens- und Sicherheitspolitik muss weiterhin das System der Vereinten Nationen sein. Die UN waren und sind eine zentrale Lehre aus dem 2. Weltkrieg. In letzter Zeit gerieten sie in Deutschland zunehmend aus dem Blick. In Anspruch genommen in erster Linie zur Legitimation von Auslandseinsätzen. Hoffentlich ändert sich das mit der gerade angelaufenen erneuten Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat.

Liebe Studierende,

Ihnen danke ich ausdrücklich dafür, dass Sie diesen Masterstudiengang „Sozialwissenschaftliche Konfliktforschung" gewählt haben. Frieden braucht Fachleute, hierzulande und weltweit!

Ich hoffe, dass auch viele Arbeitgeber das so sehen. Wenn ich mich aber in Berlin und anderswo umsehe, bin ich guten Mutes. Viele Absolventen von Masterstudiengängen zur Friedens- und Konfliktforschung habe ich inzwischen als tolle MitarbeiterInnen und KollegInnen kennen gelernt. Meine Nachfolgerin im Verteidigungsausschuss, die 24-jährige Agnieszka Malczak, ist eine solche.

Ihnen allen wünsche ich ein ertragreiches Studium, immer wieder Spaß dabei - und am Ende auch eine beratungsoffene, eine im Sinne von Frieden und (menschlicher) Sicherheit engagierte und wirksame Politik.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

 


[1] Bei Prof. Dr. Christoph Weller, Lehrstuhl Politikwissenschaften mit Schwerpunkt Friedens- und Konfliktforschung. Der Masterstudiengang ist einer von bundesweit acht auf dem Feld der Friedens- und Konfliktforschungverfügt. Das Programm verfügt über 40 Studienplätze und startet in sein zweites Jahr. Zu den 17 Studierenden des ersten Jahrgangs kamen jetzt 23 neue Studierende von mehr als zehn anderen deutschen und ausländischen Universitäten. Beworben hatten sich insgesamt über 130 Studierernde. www.uni-augsburg.de/konfliktforschung. Dem Lehrstuhl angesiedelt ist seit Juli die Geschäftsstelle der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AKF) mit der Geschäfstführerin Dipl.-Pol. Pia Popal. www.afk-web.de. Die Geschäftsstelle wird von der „Friedensstadt Augsburg" und der Uni Augsburg finanziert.

[2] Reisebericht von Wimfried Nachtwei: Konfrontation mit der Kriegswirklichkeit: Bosnien-Reise der Vorstände von Bundestagsfraktion und Partei Bündnis 90/Die Grünen im Oktober 1996. Teilnehmer waren u.a. Joschka Fischer, Kerstin Müller, Jürgen Trittin, Krista Sager, Marieluise Beck, Werner Schulz.

[3] Friedensgutachten 2010, LIT-Verlag Münster 2010. Fotini Christia/Michael Semple: Die Taliban: Versöhnung und Reintegration; Winfried Nachtwei: Der ISAF-Einsatz der Bundeswehr - Anmerkungen zu einer überfälligen Bilanzierung; Jochen Hippler: Die neue Afghanistan-Strategie der Regierung Obama; Naveed Ahmad Shinwari: Herrschaft in den pakistanischen Stammesgebieten; Janet Kursawe: Kriegsgewalt und Drogenökonomie; Arvid Bell: Acht Jahre nach der Invasion: Eine Zwischenbilanz.

[4] The Afghanistan NGO Safety Office: ANSO QUARTERLY DATA REPORT Q.3 2010, www.afgnso.org

[5] Vgl. Afghanistan Conflict Monitor des Human Security Project an der Simon Fraser University, Vancouver/Canada, www.afghanconflictmonitor.org

[6] Materialien zur Sicherheitslage Afghanistans, fortlaufend aktualisiert seit 2007; parallel dazu „Better News statt Bad News aus Afghanistan", letzte Folge VII, Mai 2010, www.nachtwei.de

[7] Nachträglicher Einschub: Der Vorschlag reifte bei mir in anschließenden Gesprächen mit Studierenden und Mitarbeitern.

[8] Ausgenommen plakative Forderungen, die die Dilemmata heutiger Afghanistanpolitik ausklammern und auf ein „nach uns die Sintflut" hinauslaufen.

 

Hin weis: 

Der Festvortrag lässt sich hier als PDF-Datei herunterladen.


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

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