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Selbstmordangriff auf internationale Aufbauhelfer in Kabul - Entsetzen, Mitgefühl, Solidarität!

Veröffentlicht von: Nachtwei am 19. Januar 2014 22:19:23 +01:00 (53697 Aufrufe)

21 Menschen ermordeten Talibankämpfer in einem libanesischen Lokal in Kabul, darunter Mitarbeiter von UN-Organisationen und EUPOL sowie einen britischen Labour-Kandidaten zur Europawahl. Auch wenn Deutsche nicht direkt betroffen waren: Die immer noch sehr zahlreichen Aufbauhelfer in Afghanistan brauchen Anteilnahme und Solidarität. Hier zum Gedenken die Namen der Erschossenen und mein Unterstützungsschreiben an EUPOL. 

Selbstmordangriff auf internationale Aufbauhelfer in Kabul – Entsetzen, Mitgefühl, Solidarität!

Die vielen guten Wünsche zum Neuen Jahr – einem friedlicheren, gesunden, erfolgreichen – sind kaum verklungen, da bringen am 17. Januar die Tagesthemen Bilder von einem Blutbad in Kabul: Gegen 19.00 Uhr hatte ein Selbstmordattentäter den gesicherten Zugang zu dem Restaurant „“La Taverna du Liban“ im Wazir-Akbar-Khan-Viertel aufgesprengt und zwei weiteren Kämpfern ermöglicht, die gerade speisenden Gäste zu erschießen. Ermordet wurden 13 internationale Gäste und acht Afghanen, darunter vier Mitarbeiter von UN-Organisationen und zwei der EU-Polizeimission EUPOL.

Laut Kate Clark und Christine Roehrs vom Afghanistan Analysts Network (AAN) wurden ermordet:

-         Wabel Abdallah, 60 Jahre, Repräsentant des Internationalen Währungsfonds, Libanon

-         Vadim Nazarov, Senior Political Officer UNAMA, Russland (seit 90er Jahren zu Afghanistan, befasst mit dem Bemühen um Friedensgespräche mit den Taliban)

-         Ms. Basra Hassar und Dr. Nasreen Khan, beide UNICEF, Pakistan

-         34-jährige EUPOL-Polizistin aus Dänemark und ihr britischer Personenschützer Simon Chase, Ex-Soldat

-         Basra Farah, Schwester des bekannten somalischen Autor Nuruddin Farah

-         Dharmender Phangurha Singh, genannt Del Singh, 39 Jahre, Southampton, britischer Berater beim afg. Finanzministerium, Labour-Kandidat bei der Europawahl, seit 10 Jahren als Entwicklungsexperte in Kosovo, Sudan, Sierra Leone, Afghanistan tätig (www.theguardian.com/world/2014/jan/19/del-singh-labour-candidate-peace-mep )

-         Gnanathurai Nagarajah, wie Del Singh bei der Beratungsfirma Adam Smith International, Malaysia

-         zwei US-Bürger, American University in Kabul

-         zwei bisher nicht identifizierte kanadische Bürger

-         Haji Amin, 22-jähriger Händler, und seine Frau (seit sieben Monaten verheiratet), Afghanistan

-         drei Wachmänner

-         Kamal Hamade, sehr beliebter Restaurantbesitzer aus dem Libanon. Er versuchte seine Gäste mit dem Gewehr zu verteidigen.

(www.afghanistan-analysts.org/another-red-line-crossed-the-taverna-attack-and-the-killing-of-foreigners-just-because-they-were-foreigners )

In einer ersten Stellungnahme am 17. Januar um 21.20 Uhr erklärte Taliban-Sprecher Zabihulla Mujahed, dass die meisten der Getöteten „höhere Vertreter des Invasorenlandes Deutschland“ seien. Davon war in seiner zweiten Stellungnahme vom 18. Januar keine Rede mehr. Der „Märtyrer-Angriff“ sei eine Vergeltung für die Zivilopfer eines alliierten Luftangriffs zwei Tage zuvor in der Provinz Parwan. Bei der „erfolgreichen Racheoperation“ seien 29 „hochrangige ausländische Invasoren“ und acht afghanische „Mietlinge“ getötet worden.

Die AAN-Experten und Thomas Ruttig sehen trotz allen Schreckens keine Hinweise auf einen Strategiewechsel der Aufständischen. Im Vordergrund stehen für die Taliban afghanische Zivilisten, die töten sie täglich. 74% aller Zivilopfer gehen auf ihr Konto.

EUPOL Afghanistan umfasst 350 internationale und 200 lokale MitarbeiterInnen. Head of Mission ist Karl Ake Roghe aus Dänemark.

Bei UNAMA arbeiten 389 internationale und 1637 lokale MitarbeiterInnen, 70 UN Volunteers, 14 militärische und drei Polizeiberater.

Noch am Freitag verurteilte der UN-Sicherheitsrat den Angriff scharf.

Politisch-persönlich hatte ich mit EUPOL seit 2007 zu tun. Mehrfach konnte ich EUPOL besuchen. Etliche deutsche EUPOL-PolizistInnen lernte ich dabei kennen und hoch schätzen.

Hier mein Beileids- und Unterstützungsschreiben an die Frauen und Männer von EUPOL vom 19. Januar 2014

Sehr geehrte Damen und Herren von EUPOL Afghanistan,

mit äußerster Bestürzung erfuhr ich am Freitagabend von dem Angriff auf die „Taverna du Liban“ in Kabul und die Ermordung von 21 Zivilpersonen beim Essen, darunter eine dänische EUPOL-Mitarbeiterin und ihr britischer Personenschützer, vier Mitarbeiter von UN-Organisationen aus Libanon, Russland und Pakistan (UNICEF).

Ich trauere und fühle mit den Angehörigen der Getöteten, die ihre Liebsten verloren haben. Ich trauere und fühle mit den afghanischen und internationalen Kolleginnen und Kollegen in Kabul, die Kollegen und Bekannte verloren haben, für die jetzt eine Insel der Entspannung in Blut versunken ist.

Bitte richten Sie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von EUPOL meine tiefe Anteilnahme und mein Beileid aus.

Den verletzten Gästen und Kollegen wünsche ich baldige und vollständige Genesung.

Die „Rechtfertigung“ eines Sprechers der Aufständischen, der Anschlag sei eine Antwort auf die Zivilopfer durch einen Luftangriff der Alliierten zwei Tage zuvor in der Provinz Parwan, ist höchstwahrscheinlich vorgeschoben.

Absicht der Attentäter ist offenbar, elementare Verunsicherung zu schüren, die ausländischen Helfer und Mitarbeiter zum Rückzug in ihre Wagenburgen zu zwingen, die Distanz zur Bevölkerung zu vergrößern, Vertrauen durch Misstrauen zu zerstören. Ein solcher Angriff auf unbewaffnete Zivilisten soll das in den Geberländern bewirken, was ich als spontane Reaktion empfand, als ich die Fernsehbilder aus Kabul sah: Verzweiflung, ein wachsendes Gefühl von Sinnlosigkeit, „bloß weg!“ zu Beginn eines in Afghanistan besonders ungewissen und riskanten Jahres.

Umso mehr ist mir bewusst, wie wichtig für Sie jetzt verlässliche Unterstützung aus der Heimat ist. Sie haben den Blick auf die vielen kleinen Schritte und Veränderungen, sie kennen afghanische Kollegen mit ihren Hoffnungen, Stärken, Schwächen, Sie arbeiten an Chancen, wo aus der Ferne nur Düsternis herrscht. Sie können am besten beurteilen, ob die internationale Aufbauunterstützung Sinn macht – und was die Folgen eines Totalabzuges wären.

Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vor Ort wünsche ich genug Kraft und Zusammenhalt, trotz dieses Terrorangriffs auf das Leben der einen und die Seelen der anderen weiter in Kabul arbeiten zu können – für Schritte zum Frieden in einem kriegszerfressenen Land.

Seit Jahren wird in Deutschland und vielen anderen Ländern kaum wahrgenommen, was Frauen und Männer im Rahmen der humanitären und Aufbauhilfe und im diplomatischen Dienst in Afghanistan leisten: mit hohem Einsatz und erheblichen Belastungen, mit Respekt vor den Einheimischen und mit bemerkenswerten Ergebnissen. Ein Beispiel: UNICEF meldete vor zwei Monaten, dass es in den Südprovinzen Kandahar und Helmand, bisher eines der hartnäckigsten Verbreitungsgebiete des Poliovirus weltweit, erstmalig seit einem Jahr keine Fälle des Polio-Wildvirus gegeben habe.

Sie alle verdienen zu Hause Aufmerksamkeit, Anerkennung und Unterstützung!

In herzlicher Verbundenheit

Ihr

Winfried Nachtwei, Münster