Am 7. Januar brachte die SZ einen Gastbeitrag von Rupert Neudeck, Ehrenvorsitzender der "Grünhelme", in dem er - über sehr berechtigte Kritikpunkte hinaus - die in Afghanistan eingesetzten Bundeswehrsoldaten pauschal runtermachte. Solche Art Rundumschlag gegen Abertausende Soldaten mit ihrem Engagement, Belastungen, existentiellen Risiken geht voll daneben. Dazu mein Leserbrief, am 17. Januar in der SZ veröffentlicht, in der ungekürzten Fassung.
Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG veröffentlichte am 7. Januar 2014 den Gastbeitrag „Abgekapselt und nutzlos“ von Rupert Neudeck (www.sueddeutsche.de/politik/bundeswehr-in-afghanistan-abgekapselt-und-nutzlos-1.1856865 ) über den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr. In einem Leserbrief widerspreche ich ihm da, wo seine Bewertungen pauschalisierend, persönlich abwertend und ungerecht sind. Mein Einspruch ändert nichts an dem hohen Respekt, den ich seit Anfang der 80er Jahre für den heutigen Ehrenvorsitzenden der „Grünhelme“ Rupert Neudeck (und seine Frau Christel) wegen ihrer enormen und mutigen humanitären Tatkraft empfinde. (Damals arbeitete meine Frau in Kambodscha/Thailand, Somalia und Uganda in Projekten des „Notärzte-Komitees – Cap Anamur“, ich in Somalia; www.gruenhelme.de )
Am 17. Januar 2014 veröffentlichte die SZ meinen Leserbrief (zusammen mit drei weiteren) gekürzt. Hier die ungekürzte Fassung (Kürzungen in Klammern):
Das humanitäre Engagement von Rupert Neudeck ist herausragend, seine Worte haben besonderes Gewicht. (Eine selbstkritische Bilanzierung des deutschen Afghanistan-Engagements ist überfällig.)
Abkapselung von der örtlichen Bevölkerung, Selbstbezogenheit, fehlende Wirkungsanalysen sind generelle Probleme bei internationalen Kriseneinsätzen. Die Kritik daran, auch an deutscher Nabelschau, ist vollauf berechtigt. (Das zentrale Ziel von ISAF und Bundeswehr, ein sicheres Umfeld für die Afghanen zu fördern, wurde nicht erreicht. Ob mit dem Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte die Voraussetzungen für ein sichereres Umfeld geschaffen wurden, wird sich noch zeigen müssen.)
R. Neudeck kanzelt den Afghanistaneinsatz pauschal als von Anfang an unsinnig und wirkungslos ab. (Ihn treibt angesichts erfahrener Absurditäten ein heiliger Zorn. Der sollte aber nicht seinen Blick trüben.) Mir (als einem der über Jahre für den Einsatz mitverantwortlichen Abgeordneten) drängen sich einige Fragen auf:
- Als Ende 2001 der UNO-Sicherheitsrat die Staaten dazu aufrief, nach Jahren von Krieg und Terror die schwache afghanische Übergangsregierung zivil und – sehr begrenzt – militärisch zu unterstützen, da hätte der Bundestag also nein sagen sollen?
- Als im Sommer 2003 (UNO-Generalsekretär Kofi Annan und) 79 internationale nichtstaatliche Hilfsorganisationen ISAF und NATO dazu aufriefen, wegen der sich verschlechternden Sicherheitslage in vielen Landesteilen auch in den Provinzen Sicherheitsunterstützung zu leisten, hätte man da nein sagen sollen?
- Nutzlos im Raum Kunduz? Nach Meinung der örtlichen Bevölkerung trug die Bundeswehr dort zumindest bis 2007 wesentlich zur relativen Ruhe und zum Aufschwung bei. Das belegen Untersuchungen, das zeigten die Reaktionen der örtlichen Bevölkerung auf einen Selbstmordanschlag Ende Mai 2007, dem drei deutsche Soldaten und sieben afghanische Zivilpersonen zum Opfer fielen. (Warum die „Hoffnungsprovinz“ danach in den Krieg abrutschte und wie man das hätte verhindern können, ist eine lange verdrängte Schlüsselfrage.)
(- Nutzlos für den Polizei- und Armeeaufbau? Viel zu spät, erst ab 2008, machte man sich breit und ernsthaft an diese Aufgabe. Wäre z.B. die Polizeiaufbauhilfe ohne den Rückhalt der Bundeswehr gegangen? Ist die Förderung verlässlicher Sicherheitsorgane egal?
- „Präsenz ohne Kontakt zur Bevölkerung“, „85% nie in Berührung mit normalen Afghanen auf der Straße“? Die Einsatzwirklichkeit der Bundeswehrsoldaten war immer sehr unterschiedlich, je nach Standort, Kontingent, Zeitpunkt, Aufgabe. Es gab Phasen der ausdrücklichen Bevölkerungsorientierung (erste Jahre), des Einigelns, des Partnering. Erste empirisch belegte Zahlen gibt es für das 22. Kontingent 2010: 45% der deutschen Soldaten hatten regelmäßig Kontakt zur Zivilbevölkerung außerhalb des Feldlagers (täglich, mindestens wöchentlich), 24% hatten keinen solchen Umgang, 33% waren mehrere Wochen oder Tage hintereinander draußen, 23% täglich oder mehrmals die Woche.)
- Verzicht der Deutschen auf eine Veränderung der „bestehenden Machtverhältnisse in ihrer Region“? Wie und mit welcher Legitimation hätte Deutschland denn die Machtverhältnisse ändern können? Wie halten Hilfsorganisationen es mit örtlichen Machthabern?
- („Langeweile“, „Untätigkeit“?) Soldaten berichten von („jeder Tag ist Mittwoch“, von) vielfältigen Belastungen, Herausforderungen, Extremrisiken, auch bereichernden und stärkenden Erlebnissen – aber nicht von Langeweile, Inaktivität.
Es gibt triftige Gründe, die politischen Auftraggeber des Afghanistaneinsatzes scharf zu kritisieren (ungeklärte Strategiedissense, Naivität, Halbherzigkeit). Voll daneben (und ungerecht) ist, (die Kritik so zu personalisieren und) Abertausende Soldatinnen und Soldaten (mit ihrem Engagement) als (nutzlose) Faulenzer verächtlich zu machen.
(Ein solcher Rundumschlag ist darüber hinaus kontraproduktiv, weil er – wider die Absicht des Autor - der allgemeinen Stimmung „bloß weg aus Afghanistan“ Auftrieb gibt.)
Winfried Nachtwei, Münster, MdB Bündnis 90/Die Grünen 1994-2009)
P.S.: R. Neudeck zitiert zu Beginn seines Beitrages einen ehemaligen Abgeordneten, der sich einmal „rühmte, dass er 40 Mal in Afghanistan gewesen sei. Er meinte natürlich: Er sei 40 Mal bei der Bundeswehr gewesen“
Abgesehen davon, dass es keinen deutschen Abgeordneten gibt, der 40 Mal in Afghanistan war – offenbar bin ich damit gemeint.
Im Laufe meiner Abgeordnetentätigkeit reiste ich ca. 40 Mal in Krisengebiete, davon 17 Mal nach Afghanistan. Meine ausführlichen, unter www.nachtwei.de veröffentlichten Reiseberichte zeigen, dass ich mich bei diesen Besuchen keineswegs auf die Bundeswehr und ihre Feldlager beschränkt habe. Bewusst blieb mir immer, dass relativ kurze Politikervisiten nur sehr begrenzte Einblicke vermitteln können. Deshalb habe ich zugleich den Kontakt mit solchen Frauen und Männern gepflegt, die für längere Zeit in Afghanistan und anderswo arbeiteten.
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
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