Vorschläge zur Aufarbeitung des Kosovo-Krieges und der deutschen Beteiligung daran
Die Förderung einer friedlichen und demokratischen Entwicklung Politik auf dem Balkan gehört neben der Stärkung der Fähigkeiten zur Krisen- und Gewaltvorbeugung in der deutschen und internationalen Politik zu unseren vordringlichen Aufgaben. Gemessen an diesen hochkomplexen Aufgaben scheinen manche Auseinandersetzungen um den Kosovo-Krieg eigenartig zurückgeblieben, fixiert auf die Informationspolitik der rot-grünen Bundesregierung vor zwei Jahren und auffällig desinteressiert an den Anstrengungen und Herausforderungen heutiger Balkanpolitik.
Die Bündnisgrünen trugen als einzige Partei und geradezu stellvertretend für die Gesellschaft den schmerzhaften Konflikt um die Kriegsbeteiligung offen und ernsthaft aus. Diese demokratische Ehrlichkeit fand damals breite Anerkennung. Wir haben uns als Fraktion - wenn auch nicht mit der gleichen Intensität - so gut wir das angesichts unserer personellen und finanziellen Ressourcen konnten, kritischen Fragen gestellt. Trotzdem: Das reicht nicht. Die erstmalige Kriegsbeteiligung der Bundesrepublik war eine historische Zäsur und ist bis heute heiß umstritten. Die einschneidende Bedeutung der deutschen Kriegsbeteiligung und ihre hochmoralische Begründung machen eine kritische Selbstprüfung im Nachhinein zwingend erforderlich. Wer angesichts der massiven Menschenrechtsverletzungen im Kosovo vor dem Wegsehen warnte, darf auch bei den Hintergründen und Folgen der eigenen mitverantworteten Politik nicht wegsehen. Immer wieder tauchen in der Öffentlichkeit alte und neue Fragen auf, die auch von uns politisch Mitverantwortlichen ernst genommen und beantwortet werden müssen. Gleichzeitig müssen wir als verantwortlich handelnde PolitikerInnen von uns aus ein Interesse an Lehren des Kosovo-Krieges haben. Eine umfassende und (selbst-) kritische Aufarbeitung des Kosovo-Krieges wird deshalb auch für uns immer dringlicher!
Das fordert auch sehr deutlich der neue katholische Militärbischof Walter Mixa in seinem bemerkenswerten Vortrag an der Führungsakademie der Bundeswehr am 7. Mai: „Wenn die Politik moralische Ansprüche erhebt, muss sie - auch im Nachhinein - bereit sein, die erhobenen Ansprüche einer ethischen Überprüfung unterziehen zu lassen. (...) Gerade (...) als höchster Militärseelsorger (...) muss ich mich dafür einsetzen, nach Möglichkeit zu gewährleisten, dass die handelnden Politiker und militärischen Führer die von uns Bischöfen mit Anspruch auf Verbindlichkeit (zumindest für die Katholiken) genannten Prinzipen und Kriterien zur Bewertung des Geschehenen praktisch anwenden. Eine politisch-moralische Auswertung des Kosovo-Konflikts kann also unmöglich pensionierten Generalen und der PDS überlassen bleiben." (http://www.kmba.de/)*
(Vor-)Kriegszeiten sind geprägt von besonders unübersichtlichen Informationslagen und der Propaganda aller Konfliktparteien. Der zeitliche Abstand von zwei Jahren und der Zuwachs an Erkenntnissen, ermöglichen eine fundiertere und unabhängigere Urteilsfindung. Wichtige Beiträge dazu sind die zusammenfassenden Berichte der OSZE, der Independent International Commission on Kosovo, des UNHCR u.a.
(1) Trotz einer Flut von Publikationen wurden viele Fragen bisher nur unzureichend oder gar nicht aufgearbeitet: In Politik und Gesellschaft blieb eine Verdrängungs- oder schlichte Rechtfertigungshaltung vorherrschend. Für Bundestag und Bundesregierung war die aktuelle Situation im Kosovo und der partielle Rückblick ein Dauerthema. Die Kosovo-Debatten fanden meist nur geringe Resonanz und waren für die Öffentlichkeit kaum bemerkbar. Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der PDS Ende März leistete zur Bilanzierung des Krieges einen Beitrag. Eine zusammenfassende Analyse und Bilanzierung des Kosovo-Konflikts und insbesondere der NATO-Luftangriffe, ihrer behaupteten Alternativlosigkeit, ihrer Folgen und Wirkungen wurde allerdings bisher nicht erbracht.
Weitgehend freie Bahn hatten deshalb Kritiker des damaligen Regierungskurses, die Widersprüche der offiziellen Politik aufgriffen, sich auf Einzelereignisse konzentrierten, erhebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit rot-grüner Spitzenpolitiker schürten und inzwischen zu einer deutlichen Delegitimierung des NATO-Einsatzes gerade in rot-grünen und friedensbewegten Kreisen beitrugen. Inzwischen besteht ein Gemenge zwischen ernsthafter und differenzierender Kritik einerseits und (alt-)neuen Mythen und Verschwörungstheorien andererseits.
Zur ersten Enttäuschung über die rot-grüne Kriegsbeteiligung ist nun eine zweite, noch gefährlichere gekommen: das Gefühl, von der „eigenen" Regierung betrogen worden zu sein. Der Eindruck, eine umfassende Aufarbeitung werde verweigert, vertieft einen Vertrauenseinbruch, der weit in die Anhängerschaft von SPD und Grünen und kirchliche Friedenskreise, aber auch von Bundeswehrangehörigen reicht. Unterschriftensammlungen für eine parlamentarische bzw. unabhängige Untersuchung der deutschen Kriegsbeteiligung, wie sie von der FI Nottuln und dem ForumZFD betrieben werden, finden breiten Zuspruch. Wahrnehmungen, wonach Gegner der Kriegsbeteiligung für uns nicht mehr erreichbar seien und gegen Rot-Grün eine Kampagne laufe, greifen wegen ihrer Pauschalität zu kurz.
(2) Anforderungen:
Die Fülle an Veröffentlichungen und „Enthüllungen" lässt für viele den Kosovo-Konflikt immer unübersichtlicher erscheinen. Bewertungen stehen sich vielfach diametral und verhärtet gegenüber. Eine Kommunikation zwischen den Positionen findet kaum statt, die Diskurse sind auseinandergefallen. Veranstaltungen nach den provokativen Anstößen des WDR-Films und des Lutz-Mutz-Briefes zeigen aber auch, dass Foren der Aufarbeitung möglich sind und teilweise auf großes Interesse stoßen.
Soll die Aufarbeitung nicht in Rechthaberei und der Neuinszenierung alter Konflikte enden, müssen Gegner wie Befürworter der NATO-Luftangriffe zum Dialog, zu selbstkritischer Reflexion und zum Verzicht auf Vor-Verurteilungen bereit sein. Untauglich zur Wahrheitsfindung sind Tribunale. Notwendig ist ein gesamtgesellschaftlicher Aufarbeitungsprozess, zu dem Bundestag, Bundesregierung und alle relevanten gesellschaftlichen Kräfte beitragen sollten.
Gefunden werden muss eine Form der Aufarbeitung, die eine rationale und (selbst-)kritische Überprüfung der NATO-Intervention, die Wiederaufnahme des Dialogs zwischen Befürwortern und Gegnern und dadurch Rückgewinnung von Glaubwürdigkeit ermöglicht. Eine Fortsetzung von Glaubenskriegen und Verratsdebatten ist völlig kontraproduktiv und zu vermeiden.
(3) Wesentliche Fragestellungen
Es gibt eine Vielzahl von Fragestellungen, die im Zusammenhang mit der Diskussion über das militärische Eingreifen im Kosovo-Konflikt erörtert werden müssten. Nicht alle (z. B. Flüchtlingspolitik) sind hier aufgeführt. Andere wurden partiell schon beantwortet. Aus meiner Sicht besonders anzuführen sind:
(4) Geeignete Wege der Aufarbeitung
Öffentlich gefordert und vorgeschlagen wurden bisher ein Untersuchungsausschuss des Bundestages (Unterschriftensammlung aus der Friedensbewegung), eine unabhängige Untersuchungskommission (IPPNW), eine vom Rechtsausschuss des Bundestages eingesetzte Kommission zur Rechtsproblematik und andere öffentliche Veranstaltungen (Lutz/Mutz), eine unabhängige hochrangige Kommission (W.N.), eine Arbeitsgruppe aus Friedensforschung und Politik (Erler/Lutz).
(a) Am besten wäre, wenn der Bundestag als "Auftraggeber" des Militäreinsatzes - z. B. in Form einer Enquete-Kommission - die Aufarbeitung leisten könnte bzw. frühzeitig geleistet hätte. Das gilt umso mehr, als der Funktionsverlust des Parlaments angesichts Schröders „Räterepublik" unübersehbar ist. Nach der Erfahrungen der letzten zwei Jahre und mit Untersuchungsausschüssen generell, der näher rückenden Wahlkampfzeit und der Sperrigkeit der SPD erscheint dieser beste Weg versperrt. Anzustreben sind nichtsdestoweniger Beratungen bzw. Anhörungen einzelner Ausschüsse. Für den Verteidigungsausschuss wurde inzwischen eine Bilanzierung vereinbart. Die Bundesregierung sollte interne Berichte (Parlamentsinformation, Berichte der Belgrader Botschaft etc.) der Öffentlichkeit bzw. einer Kommission oder Forschern zugänglich machen.
(b) Eine unabhängige und hochrangig besetzte Kommission - vergleichbar der International Independent Commission on Kosovo - könnte mit entsprechender Zusammensetzung, einem transparenten Beratungsprozess und fundierter Bewertung Glaubwürdigkeit und Autorität entwickeln, die zur Auflockerung von Fronten notwendig ist. Berufen, beauftragt und finanziert werden müsste sie von einem Trägerkreis geeigneter Organisationen und Institutionen bzw. Personen (z.B. Stiftungen, Justitia et Pax, Dt. Stiftung Friedensforschung, Gemeinschaft katholischer Soldaten). Die Bündnisgrünen könnten/sollten hierzu die Initiative ergreifen. Die Kommission müsste die Möglichkeit zur Einsichtnahme in amtliche und vertrauliche Dokumente haben. Zur Förderung des gesellschaftlichen Aufarbeitungsprozesses sollte sie zu ausgewählten Themen öffentliche Anhörungen durchführen. Umsetzungsprobleme sind zu erwarten in der Auftragsdefinition durch den Trägerkreis, beim Zeitbedarf (Beginn des Vorwahlkampfs im Frühjahr 2002), der Finanzierung der Kommissionsarbeit (Sekretariat usw.) und dem Zugang zu vertraulichen Dokumenten von AA, BMVg, NATO, OSZE.
(c) Eine Serie von mehreren inhaltlich eng abgegrenzten und abgestimmten Foren: gut vorbereitet (z. B. durch zugespitzte Thesenpapiere), kontrovers und dialogorientiert mit Beiträgen von politisch Verantwortlichen, Vor-Ort-Beteiligten (MissionsteilnehmerInnen kamen bisher kaum zu Wort!), profilierten Befürwortern und Kritikern und insbesondere von Personen mit abwägender Distanz. Um einer deutschen Nabelschau vorzubeugen, ist eine Beteiligung aus der Region, aus anderen NATO-Staaten und Russland anzustreben. Die Ausstrahlung und Wirksamkeit der Foren ist abhängig von der Zusammensetzung der Veranstalter, den Beitragenden auf den Foren und der Moderation sowie der Art der zusammenfassenden Auswertung. Die Foren könnten Phoenix zur Übertragung angeboten werden. Auf jeden Fall sollten die Veranstaltungen auch schriftlich dokumentiert werden. Initiator könnte die Böll-Stiftung, die Partei und Fraktion (evtl. partiell in Zusammenarbeit mit anderen Fraktionen, Stiftungen, Organisationen etc.) oder die Grünen im Europaparlament sein. Wo direkte Kooperation nicht möglich ist, ist eine sich ergänzende Arbeitsteilung anzustreben. Veranstaltungen anderer Institutionen und Organisationen (Medien, Kirchen) sind ebenfalls sinnvoll und überfällig, müssten aber von diesen selbst betrieben werden.
* Bischof Mixa:
Die zuletzt ausgesprochene Frage muss ich, der Ehrlichkeit halber, natürlich auch an die Institution richten, in der ich selbst Verantwortung trage, nämlich die katholische Kirche in Deutschland. Haben wir Bischöfe, haben die Institutionen unserer Kirche, die sich mit Fragen der Sicherheitspolitik und der Verteidigung befassen, in dem Zeitraum, in dem die Weichen für die künftigen Entscheidungen gestellt wurden, die ihnen zukommenden Aufgaben zur öffentlichen Stärkung des "moral point of view" wahrgenommen? Ich muss als höchster katholischer Militärseelsorger diese Frage stellen, um die Last der Kritik, auch mancher Unterstellungen, nicht einseitig verantwortlich handelnden Politikern oder den Soldaten und Soldatinnen unserer Bundeswehr aufbürden zu lassen."
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: