Vor 20 Jahren erneute Gewalteskalation auf dem Balkan, in Mazedonien: Bloss nicht noch ein Balkankrieg! Am 6. April 2001 konnte ich Außenminister Fischer und seine Delegation zu Intensivgesprächen in Tirana und Pristina begleiten. Hier mein Bericht von einem Tag hinter den Kulissen.
VOR 20 JAHREN
Gewalteindämmung von oben
Mit Joschka Fischer in Albanien und Kosovo
Winfried Nachtwei, MdB, 11.04.2001
In den Jahren 2000 und 2001 kam es in der Nachbarschaft des Kosovo, im Presevotal und in Mazedonien, zu neuen Gewaltausbrüchen. Ab Februar 2001 sickerten ethnisch-albanische Bewaffnete aus dem Kosovo nach Mazedonien ein und organsierten sich mit der Zeit als mazedonische UCK.
Begünstigt durch den Wechsel zur Demokratie in Belgrad gab es nun– erstmalig in den Balkankrisen - ein kohärentes internationales Krisenengagement, wo konsequent auf die Hauptverantwortung der Konfliktparteien bei der Konfliktbearbeitung und eine politische Lösung gedrängt und wo Eskalationskalküle von Gewaltakteuren durchkreuzt wurden. In beiden Fällen gelang es, eine Gewaltexplosion zu verhindern. In Mazedonien wäre es andernfalls mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem Bürgerkrieg mit grenzüberschreitender Wirkung gekommen. Die UN-mandatierten Kriseneinsätze von NATO und später EU stoppten die Kriegsgewalt auf dem Balkan. Dass politische Friedlosigkeit fortbestand und bisher kein nachhaltiger Frieden entstand, lag an verschiedenen politischen Akteuren. Der politische Nachteil dieser erfolgreichen Kriegsverhütung war ihre „Unsichtbarkeit“. Funktionierender vorbeugender Brandschutz, nicht brennende Häuser bringen keine Bilder, haben keinen Nachrichtenwert. Dass erfolgreich weitere Balkankriege verhindert wurden, ist deshalb kaum bewusst.
Kontext laut meinen Persönlichen Aufzeichnungen (Kladde XIII)
Am 7. März 2001 tauchte das Thema zunehmender Gewalt in Mazedonien erstmalig im Verteidigungsausschuss auf. Bei der 1. Lesung des umfassenden Antrags der von SPD und Grünen zur Zivilen Krisenprävention am 15. März bezieht sich SPD-Kollegin Uta Zapf deutlich auf die Zuspitzung in Mazedonien.
Am 28. März befasst sich der Verteidigungsausschuss erstmalig ausführlich mit der Mazedonien-Krise. Schätzungsweise 300 Kämpfer sollten sich in Nordmazedonien befinden. Zum großen Teil Freischätler der Ex-UCK. Im Kosovo gebe es breite Solidarisierung mit der mazedonischen UCK. Je robuster KFOR gegen die UCK vorgehe, desto mehr gelte das als Parteinahme.
Bei der mazedonischen Regierung bestehe die Gefahr, dass diese sich in eine Wagenburg zurückziehe und nur auf die militärische Karte setze,
Der Kurzbesuch
6. April 2001 hatte ich die seltene Gelegenheit, Außenminister Joschka Fischer zu politischen Gesprächen in Tirana und Pristina zu begleiten. Zwei Tage vorher hatte ich im Verteidigungsausschuss von dem geplanten Besuch gehört und nachgefragt. Ein Tag später kam vom AA die Zustimmung zu meiner Mitreise.
9.00 Uhr Start unserer Challenger ab Berlin-Tegel nach Tirana.
Hauptthema der Gespräche bei diesem eintägigen Besuch war die konzertierte Eindämmung der nationalistischen Gewalt albanischer Extremisten in Mazedonien und im Kosovo. Die albanische Regierung soll in ihrem europaorientierten regionalen Stabilitätskurs bestärkt und unterstützt, die kosovoalbanischen Politiker sollen zu einem aktiven Vorgehen gegen extremistische Gewalt und zu mehr Geduld und Vernunft in ihrem Unabhängigkeitsstreben gedrängt werden. Die Gespräche fanden unmittelbar vor der Unterzeichnung des „Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens“ zwischen Mazedonien und der EU am 9. April in Luxemburg statt.
Mitglieder der Delegation sind neben Außenminister Joschka Fischer Ministerialdirektor Pauls, Beauftragter für den Stabilitätspakt Südosteuropa, Dr. Michael Schaefer, Leiter Sonderstab Westlicher Balkan., Martin Kobler, Leiter Ministerbüro, Andreas Michaelis, Sprecher AA, und andere. Nach zweieinhalb Stunden und einigen Platzrunden Landung in Tirana.
Auf dem Weg nach Tirana ist die Fahrtstrecke einschließlich des kurzen – und einzigen – Autobahnstücks für den Staatskonvoi gesperrt. Die leicht hügelige Landschaft ist übersät mit runden Erdbunkern zwischen zwei und sechs Metern Durchmesser aus der Zeit antiimperialistischer Rundum- und Volksverteidigung. Viele Großplakate sind leer. Ein AA-Beamter erhält im Wagen die Meldung, bei einer Durchsuchungsaktion in einer kroatischen Bank in Mostar sei es zu erheblichen Ausschreitungen gegen Vertreter der internationalen Gemeinschaft gekommen. Wachposten und Personenschützer tragen hier wie auch in Pristina auffällig oft Maschinenpistolen und Schnellfeuergewehre – ein Hinweis auf die blühende Gewaltkultur. Im Kosovo finden die Polizeisirenen des Staatskonvois sogar bei KFOR-Fahrzeugen kaum Beachtung. UN-Spezialpolizisten kämpfen uns mit Brutalo-Fahrweise durch den dichten Verkehr.
Gesprächspartner sind in Tirana nach dem Briefing durch den deutschen Botschafter Außenminister Prof. Milo, Premierminister Meta und Staatspräsident Prof. Meidani. Im 25 Flugminuten entfernten Pristina sind es der Kommandeur des Kosovo Protection Corps und ehemalige UCK-General Ceku, der neue KFOR-Kommandeur, der norwegische Generalleutnant Shiaker, die Vertreterin der Kosovo-Serben im „Interim Administrative Council“ Frau Trajkovic, der Sonderbeauftragte des VN-Generalsekretärs Hans Haekkerup und die albanischen Parteiführer Rugova, Thaci und Haradinaj. Die Gespräche im 30-45-Minutentakt verlaufen sehr dicht, man kommt immer sofort zur Sache.
Mit den albanischen Spitzenpolitikern und den internationalen Repräsentanten ist es ein Dialog auf der Basis grundsätzlicher Übereinstimmung. Man spricht auf einer Wellenlänge.
Fischer lobt ausdrücklich die Rolle Albaniens in der Mazedonien-Krise. Die kosovo-albanischen Parteiführer und der KPC-Kommandeur haben sich hingegen zunächst Klartext vom deutschen Außenminister anzuhören. Mir kommen streckenweise Assoziationen zu einer Prüfungssituation.
Fischers Botschaft lautet: Die Gewaltakte albanischer Extremisten seien ein historischer Fehler. In Mazedonien gebe es sicher noch Anlass zu Veränderungen, die albanischen Mazedonier dürften sich nicht als Bürger zweiter Klasse fühlen. Aber heute sei eine ganz andere Lage als 1999. Heute gebe es keinerlei Rechtfertigung mehr für die Anwendung von Gewalt. Die Zeit des bewaffneten Kampfes sei endgültig vorbei. Wer die territoriale Integrität von Staaten infrage stelle, setze die Region in Brand.
Das Europa der Integration könne solche Gewaltauseinandersetzungen nicht hinnehmen. Jeder, der nach Europa wolle, müsse dieselben Prinzipien beachten. Gewalt gegen und Unterdrückung von Minderheiten seien damit unvereinbar. Die EU sei zu langandauernden Anstrengungen bereit. Bedingung sei allerdings der strikte Gewaltverzicht.
Man habe nicht gegen den großserbischen Nationalismus gekämpft, um nun einen großalbanischen zu bekommen. Den Albanern drohe ein dramatischer Verlust an Sympathie und Unterstützung seitens der internationalen Gemeinschaft.
Er nennt Beispiele des funktionierenden Zusammenlebens von Mehrheiten und Minderheiten in Europa.
Sehr eindeutig und eindringlich appelliert Fischer an Rugova, Thaci und Haradinaj: Die
Isolation der Extremisten sei von höchster Bedeutung und sie hätten dabei eine hervorragende Verantwortung. Die Lage der Minderheiten im Kosovo sei furchtbar. Das müsse sich ändern. Wenn der Eindruck entstehe, dass vom Kosovo Gewalt und großalbanischer Extremismus ausgehe, dann werde die Lösung der Fragen, die ihnen besonders am Herzen lägen, erst recht unmöglich. Wenn sie hingegen klug ihre Interessen verfolgen und Rücksicht auf die Interessen der Nachbarn nehmen würden, könne die Geschichte für sie einen positiven Verlauf nehmen. Notwendig seien Geduld, vertrauensbildende Prozesse, funktionierende Wirtschaft, Respektierung von Minderheitenrechten – und nicht der Griff zur Waffe.
Die Kosovo-Serben fordert Fischer auf, sich aktiv am Aufbau der Selbstverwaltung und an den kommenden Wahlen zu beteiligen.
Die mazedonischen Albaner müssen am 9. April bei der Unterzeichnung des „Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens“ zwischen Mazedonien und der EU in Luxemburg auf jeden Fall dabei sein.
Die albanischen Spitzenpolitiker wirken überzeugt und überzeugend in ihrer europäischen Orientierung und ihrer aktiven Politik gegenüber albanischem Extremismus. Für diesen sei albanisches Territorium keine Basis, betont man angesichts der Medienberichte, von Albanien seien Bewaffnete nach Mazedonien eingesickert. In der sehr gebirgigen Grenzregion brauche man aber auch internationale Unterstützung zu ihrer besseren Überwachung.
Zugleich verweisen sie auch auf interne Ursachen des Konflikts. Wenn die albanischen Mazedonier im Dialog mehr Rechte bekämen, sei eine Explosion zu vermeiden.
Die kosovo-albanischen Spitzenvertreter distanzieren sich von der Gewalt, sprechen für Minderheitenschutz und Dialog. Auch wenn die Vokabeln stimmen, so klingen ihre Ausführungen weder überzeugt noch überzeugend. Hier scheinen erhebliche Verständigungsprobleme anzudauern.
Ein deutscher General im KFOR-Stab spricht zwei Probleme an:
Den Dissens in KFOR um die Haftdauer für an der Grenze zu Mazedonien festgenommene Kosovo-Albaner. Während der deutsche Befehlshaber diese strikt nach deutschem Recht nicht länger als 72 Stunden festhalten will, will COMKFOR aus Sicherheitsgründen eine längere Inhaftierung.
Die bisherige Formulierung des Bundestagsmandats erschwere in Einzelfällen die Handlungsfähigkeit. Deutsche Offiziere im KFOR-Stab dürften z.B. nicht an Verhandlungen in der Ground Savety Zone teilnehmen.
Am Rande ergeben sich einige Gespräche mit deutschen Polizisten und Soldaten, darunter dem Kommandeur des deutschen Einsatzkontingents, General Langheld aus Augustdorf/NRW, und einem höheren BGS-Offizier der Special-Operations-Einheit von UNMIK, vergleichbar einem deutschen SEK.
Auf dem Weg zwischen Flughafen Pristina und Innenstadt sind im Unterschied zu Sarajevo nur vereinzelt kriegszerstörte Häuser zu sehen. Ein größerer Kasernenkomplex und eine Großkesselanlage liegen in Trümmern. Zwei orthodoxe Kirchen sind mit S-Deaht abgesperrt und in der Nacht mit Scheinwerfern angestrahlt.
Medienresonanz: Bei den Treffen der Spitzenpolitiker und ihren Pressekonferenzen in Tirana und Pristina herrscht großer Medienandrang. Am nächsten Tag zurück in Deutschland finde ich nur in der SZ eine 22-Zeilenmeldung von AP.
Wer ahnt schon, dass sich hinter dieser 08/15-Meldung über eine alltäglich erscheinende Außenminister-Visite aktive Friedenspolitik auf höcster Ebene verbirgt, ein wichtiger Beitrag zur Gewaltverhütung in einer kriegsträchtigen Region?
Was und wie hinter den Kulissen zwischen den „Mächtigen“ gesprochen wird, ob dabei aneinander vorbei geredet wird oder wirklich ein konstruktiver Dialog mit politischer Wirkung entsteht, bleibt für die Öffentlichkeit in der Regel verschlossen. Wahrgenommen werden vorrangig die öffentlichen verbalen Zeichen und Positionierungen.
Umso aufschlussreicher war für mich , Joschka Fischer bei seiner diplomatischen Alltagsarbeit zu erleben, wo seine politische Klarheit und Überzeugungskraft in Höchstform waren, beim Zuhören, im Dialog, beim Klartextreden, im Eintreten für das Europa der Integration, der Minderheitenrechte und gegen die nationalistische Gewalt. Aktive Friedenspolitik auf höchster Ebene.
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: