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Offener Brief an Bundesminister Jung zum Luft-Boden-Schießplatz Wittstock

Veröffentlicht von: Webmaster am 4. August 2007 15:54:52 +01:00 (43735 Aufrufe)
Folgenden Offenen Brief zum Luft-Boden-Schießplatz Wittstock verfasste Winfried Nachtwei:

Winfried Nachtwei
Mitglied des Deutschen Bundestages
Sicherheitspolitischer Sprecher

 

Bundesminister der Verteidigung
Herr Dr. Franz-Josef Jung
vorab per Fax 030/2004-8004

nachrichtlich:

Ministerpräsident von Brandenburg
Herr Matthias Platzeck

Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern
Herr Dr. Harald Ringsdorf

Regierender Bürgermeister von Berlin
Herr Klaus Wowereit

Berlin/Münster, 4. August 2007

Luft-Boden-Schießplatz Wittstock

Sehr geehrter Herr Minister, lieber Herr Jung,

(1) am 31. Juli hat das Verwaltungsgericht Potsdam drei Musterklagen von zwei Unternehmen und einer Gemeinde gegen den geplanten Luft-Boden-Schießplatz Wittstock stattgegeben.

Der seit 15 Jahren andauernde politisch-rechtliche Streit um die zivile oder militärische Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide in Brandenburg ist an einem entscheidenden Punkt angelangt. Nach der inzwischen 23. (!) Gerichtsentscheidung ist die Zeit gekommen für eine ungeschminkte Lageanalyse und entschlossenes Handeln der Politik zum Nutzen aller Beteiligten:

Das Ansinnen des Bundesministeriums der Verteidigung, bei Wittstock den Luft-Boden-Übungs-betrieb aufnehmen zu können, hat auf viele Jahre keine Aussicht auf Erfolg. Wo aber die Fortführung des Rechtsstreits auf längere Zeit bei allen Beteiligten nur erhebliche politische und ökonomische Kosten, aber keinen Nutzen verursacht, dürfte es für das Ministerium nur eine vernünftige Alternative geben: Kämpfe einstellen, geordneter Rückzug. Eine solche Entscheidung wäre - das zeigt auch die Militärgeschichte - kein Ausdruck von Schwäche, sondern von Klugheit und Führungsstärke.

(2) Seit inzwischen elf Jahren verfolge und begleite ich den Konflikt um den Luft-Boden-Schießplatz Wittstock auf der Bundesebene und in der Region so intensiv wie kein anderer Abgeordneter und Sicherheitspolitiker. Ich erlebte sowohl die Verhandlung im Jahr 2000 vor dem Bundesverwaltungsgericht wie vor Tagen beim Verwaltungsgericht Potsdam.

Es wäre eine völlige Fehleinschätzung, das Urteil vom 31. Juli als die Entscheidung einer niedrigen, möglicherweise fachlich nicht kompetenten und durch ihre Bundesländer voreingenommenen Instanz abzutun. Nach nicht nur meiner Beobachtung erwiesen sich die Berufsrichterinnen als ausgesprochen in der Materie stehend und erkennbar nicht einseitig.

(3) Das Bundesministerium der Verteidigung erfuhr eine Niederlage auf der ganzen Linie. Die juristische Niederlage war kein Zufall oder Ausrutscher, sondern Konsequenz schwerer Versäumnisse:

- Über alle Jahre wurde die eigene Position, ihre sicherheits- und militärpolitische sowie rechtliche Überzeugungskraft und Haltbarkeit, notorisch überschätzt. Zugleich wurden die Belange der Anrainer und ihre politisch-rechtliche Durchhaltefähigkeit und Wirksamkeit notorisch unterschätzt.

- Ich erlebte auf Seiten des Ministeriums und der meisten Verteidigungspolitiker fast durchgängig Ignoranz gegenüber den Belangen der Region und ihrer besonders prekären Situation. Exemplarisch dafür stand die im Verteidigungsausschuss Ende der 90er Jahre vorgetragene Behauptung, der Fluglärm würde wegen der Größe des Platzes den Tourismus gar nicht tangieren. Aus meiner Ortskenntnis wusste ich, dass die Einflugschneise im Norden über das Feriengebiet um den Nebelsee (Ichlim) ging. (Von hier kommt einer der jetzt erfolgreichen Kläger.) Sekundärmotive wie Abwehr eines angeblichen Dominoeffekts auf andere Standorte verschlossen bei den Befürwortern des Schießplatzes die Ohren und Augen gegenüber den Argumenten aus der Region und den existentiellen Interessen dahinter.

- Wo die Zahl der Luft-Boden-Übungen von Jahr zu Jahr abnimmt, wo gerade in Kriseneinsätzen Abstand und Präzision, aber nicht das Wittstock-Szenario vom Abwurf ungelenkter Bomben im Tiefflug gefragt sind, da ist die Behauptung der Unverzichtbarkeit von Wittstock immer weniger glaubwürdig.

- Heraus kam eine rundum schwache Vertretung vor Gericht - im Jahr 2000 wie heute. Mit der zentralen Abwägungsfrage der zu erwartenden Lärmbelastung wurde so schludrig umgegangen, dass Sachverständige mit Erfahrungen in Sachen Zivilflughäfen nur den Kopf schütteln konnten.

- Es sprach persönlich für die anwesenden Spitzenvertreter von Luftwaffe und Wehrverwaltung, dass sie über die pflichtgemäße Vertretung der BMVg-Position hinaus erkennbar nicht für die Sache kämpften. Damit setzte sich eine Linie fort, die zuletzt am 7. Mai beim Besuch des Petitionsausschusses auf dem Truppenübungsplatz Wittstock zu erkennen war: Angesichts der ausgestellten Übungsmunition (nur ungelenkte Bomben) wichen die anwesenden hohen Offiziere der Frage aus, inwieweit Tiefflugübungen a la Wittstock überhaupt noch den Anforderungen von Kriseneinsätzen entsprechen würden. Auch hier wurde nicht einmal der Versuch gemacht, die angebliche militärische Notwendigkeit von Wittstock plausibel zu machen.

(4) Für die Klägerseite war es ein Erfolg auf der ganzen Linie. Die Gemeinden, Unternehmen und BürgerInnen und Bürger in der ganzen Region sehen ihre einzige wirtschaftliche Perspektive, die Weiterentwicklung eines schon hoffnungsvoll gestarteten sanften Tourismus, existentiell bedroht. Eine anfängliche Protestbewegung ist längst zu einer beispiellos breiten und verankerten Bürgerbewegung geworden. Zusammen mit den klug und immer gewaltfrei agierenden Bürgerinitiativen waren das die Voraussetzungen für eine bodenständig-vitale Widerstandskraft und Ausdauer, die zu einer Art Volksabstimmung wurde.

Vertreten wurden die Kläger von den Anwälten Geulen + Klinger, die vor dem Hintergrund ihrer langen Erfahrung in solcher Art Verfahren äußerst brillant, überzeugend und wirksam agieren und die Rechtsvertreter des Ministeriums scharf in den Schatten stellten.

(5) Nach inzwischen über zwanzig Besuchen in Einsatzgebieten der Bundeswehr auf dem Balkan, in Afghanistan und Kongo drängt sich mir ein Vergleich auf: Würde die Bundeswehr in einem Einsatzland eine solche Unprofessionalität und solche politische Rücksichtslosigkeit gegenüber der einheimischen Bevölkerung an den Tag legen wie das Ministerium gegenüber der Bevölkerung um die Kyritz-Ruppiner Heide, dann hätte das schon längst einen veritablen Aufstand zur Folge gehabt, dann wäre der Einsatz schon längst gescheitert. Damit kein Missverständnis entsteht: Ich meine damit nicht den örtlichen Kommandeur, der tapfer seinen Auftrag ausgeführt hat, sondern die militärisch-politische Führung.

(6) Was sind die Perspektiven?

Nachdem die erste Instanz schon vier Jahre dauerte, würde eine Fortsetzung des Rechtsstreits viele weitere Jahre dauern. Hierbei wären die Erfolgsausichten des Ministeriums überaus zweifelhaft, zumal der militärische Wittstock-Bedarf mit jedem Jahr weiter sinkt. Die Gegner des Luft-Boden-Schieß-platzes brauchen „nur" durchhalten. Das können sie!

Die Konsequenzen des endlos fortdauernden Rechtsstreits wären aber für alle Beteiligten ausgesprochen schädlich: Behindert würde die Investitionsbereitschaft und damit die Entwicklung in einer Region, wo etliche Interessenten weiter investieren wollen. Die Bundeswehr, die anderswo recht erfolgreich um Köpfe und Herzen von Menschen kämpft, würde in den Ländern Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern weiter Köpfe und Herzen verlieren.

Eine Fortsetzung des Streits bedeutet erheblichen Schaden für alle Beteiligten.

(7) Als Sicherheitspolitiker muss ich selbstverständlich die Einsatzfähigkeit und den Übungsbedarf der Bundeswehr im Sinne ihres verfassungsmäßig begrenzten und politisch gesetzten Auftrages im Auge behalten. Alles andere wäre unverantwortlich. Dass die 14.000 Hektar Übungsfläche für die Bundeswehr reizvoll wären, ist gar nicht zu bestreiten.

Allerdings ist Wittstock für die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr im Rahmen der Krisenbewältigung keineswegs unverzichtbar. Nach meiner Beobachtung hält man in der Bundeswehr bzw. im Ministerium den Luft-Boden-Schießplatz Wittstock längst nicht für so dringlich, wie offiziell der Eindruck erweckt wird. Wie anders ist zu erklären, dass einerseits das Ministerium im Dezember 2005 einen Eilantrag bei Gericht auf sofortige Inbetriebnahme von Wittstock mit der deutschen Meldung für die NATO Response Force 6 (Januar-Juni 2006) begründete, dass andererseits in einer offiziellen Publikation des Ministeriums betont wurde, die Bundeswehr sei „fit für die NRF" und „für alle Aufgaben gerüstet". („aktuell - Zeitung für die Bundeswehr" Nr. 50 vom 19.12.2005). Beim Besuch der Tornado-Staffel in Mazar-e-Sharif war zu erfahren, dass in Afghanistan mindestens 10.000 Fuß hoch geflogen wird, um nicht in die Reichweite von Flugabwehrwaffen zu kommen. Wenn in einigen Jahren die Tornado-Jagdbomber sukzessive durch den Eurofighter ersetzt werden, der seine Luft-Boden-Einsätze im mittleren und großen Höhenbereich fliegt, gibt es erst Recht keinen Bedarf nach einem dritten großen Luft-Boden-Schießplatz in Deutschland - außer, man will hier allen innerdeutschen Übungsbetrieb konzentrieren, ja sogar Übungsbetrieb aus dem Ausland und von Alliierten nach Wittstock verlagern.

(8) Ich erlebte den Glaubwürdigkeitsbruch Ihrer beiden Vorgänger, die in Regierungsverantwortung jeweils das unnachgiebig betrieben, was sie vorher in der Opposition entschieden abgelehnt hatten - und die es nicht einmal für nötig hielten, ihre Kehrtwende zu begründen. Der sonst so durchsetzungsstarke Minister Struck konnte sich hier keinen Deut durchsetzen: Im Juli 2003 ordnete er erfolglos die Inbetriebnahme des Platzes an.

Sie haben nach dem Spruch der Dritten Gewalt die Chance, im Unterschied zu Ihren Vorgängern Struck und Scharping Klugheit und Mut im Amt zu zeigen,

Ich bitte Sie eindringlich: Wenden Sie weiteren Schaden von der Region um die Kyritz-Ruppiner Heide und die Bundeswehr ab, geben Sie die Heide frei!

Es wäre ein Gewinn für die demokratische Kultur unseres Landes und kein Schaden für die Sicherheit Deutschlands und des Bündnisses, wenn Sie dem politischen und juristischen Dauerstreit ein Ende machen würden.

Mit besten Grüßen
gez. Winfried Nachtwei