Berlin/Münster, 27.2.2006
Sehr geehrter Herr Minister, lieber Herr Jung,
am 28. Februar sprechen Sie mit den Ministerpräsidenten von Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, Herrn Patzeck und Herrn Ringstorff, über den Dauerkonflikt Luft-Boden-Schießplatz Wittstock. Das Zusammentreffen der politischen Spitzenrepräsentanten der Positionen pro und contra Schießplatz Wittstock hat nicht nur eine besondere Bedeutung. Es bietet die hervorragende Gelegenheit, einen seit 14 Jahren währenden politischen Dauerstreit gütlich zu beenden, dessen Ende nicht abzusehen ist und bei dem drei Bundesländer, nahezu alle Bürgermeister, Unternehmer und Bürger der Region die Planung des Bundes entschieden ablehnen.
Sehr geehrter Herr Minister!
Seit ich vor zehn Jahren erstmalig die Kyritz-Ruppiner Heide besuchte, habe ich als Westdeutscher die Region und ihre Menschen schätzen sowie das beharrliche Engagement der wohl breitesten demokratischen Bürgerbewegung Deutschlands hoch achten gelernt.
Als Verteidigungspolitiker muss ich selbstverständlich die Einsatzfähigkeit und den Übungsbedarf der Bundeswehr im Sinne ihres politisch gesetzten Auftrages im Auge behalten. Alles andere wäre unverantwortlich.
Umso mehr war ich immer wieder frappiert, wie dürftig das Ministerium in den zurückliegenden Jahren die angebliche Unverzichtbarkeit von Wittstock begründete und meinen Fragen zum veränderten Übungsbedarf auswich. Ich sah mich deshalb genötigt, trotz aller Koalitionsloyalität zweimal einen Gruppenantrag für die „Zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide" zu initiieren, die jeweils von ca. 60 Kolleginnen und Kollegen unterzeichnet wurden. (BT-Drs. 14/5876 vom 9.4.2001 und BT.-Drs. 15/4792 vom 28.1.2005) Für einen 3. Anlauf haben inzwischen neben Kollegen der SPD auch einige der Union Unterstützung signalisiert.
Ich erlebte den Glaubwürdigkeitsbruch Ihrer beiden Vorgänger, die in Regierungsverantwortung jeweils das unnachgiebig betrieben, was sie vorher in der Opposition entschieden abgelehnt hatten - und die es nicht einmal für nötig hielten, ihre Kehrtwende zu begründen. Der sonst so durchsetzungsstarke Minister Struck konnte sich hier keinen Deut durchsetzen: Im Juli 2003 ordnete er erfolglos die Inbetriebnahme des Platzes an.
Ich erlebte auf Seiten des Ministeriums und der meisten Verteidigungspolitiker fast durchgängig Ignoranz gegenüber den Belangen der Region und ihrer besonders prekären Situation. Exemplarisch dafür stand die im Verteidigungsausschuss vorgetragene Behauptung, der Fluglärm würde wegen der Größe des Platzes den Tourismus gar nicht tangieren. Aus meiner Ortskenntnis wusste ich, dass die Einflugschneise im Norden genau über das Feriengebiet um den Nebelsee ging. Sekundärmotive wie Abwehr eines angeblichen Dominoeffekts auf andere Standorte verschlossen die Ohren und Augen gegenüber den Argumenten aus der Region und den existentiellen Interessen dahinter.
Sie, Herr Minister Jung, sind in der Sache „unbelastet". Sie haben die Gelegenheit, nach 14 Jahren Konflikt eine Zwischenbilanz zu ziehen und zu prüfen, ob das Ministerium hier eine reale Durchsetzungschance hat und ob die endlose Fortsetzung des Konflikts nicht doch allen nur schadet.
Als Minister einer Großen Koalition haben Sie besonderes Durchsetzungsgewicht gegenüber Partikularinteressen im Ministerium.
Das gilt umso mehr, als nach meiner Beobachtung die Bundeswehr bzw. das Ministerium den Luft-Boden-Schießplatz Wittstock keineswegs für so dringlich hält, wie offiziell der Eindruck erweckt wird. Wie anders ist zu erklären, dass einerseits das Ministerium im Dezember einen Eilantrag bei Gericht auf sofortige Inbetriebnahme von Wittstock mit der deutschen Meldung für die NATO Response Force 6 (Januar-Juni 2006) begründet, dass andererseits in einer offiziellen Publikation des Ministeriums betont wird, die Bundeswehr sei „fit für die NRF" und „für alle Aufgaben gerüstet". („aktuell - Zeitung für die Bundeswehr" Nr. 50 vom 19.12.2005) Die Luftwaffe habe ihre „Vorhaben und Übungen konsequent auf die Anforderungen der NRF abgestimmt", u.a. durch Übungen für komplexe „Crisis Response" Szenarien in Norwegen und USA. 12 Tornado-Kampfflugzeuge, darunter Jagdbomber mit Abstands- und Präzisionsbewaffnung, seien bereitgestellt.
Es dürfte bekannt sein, dass das Üben mit Abstands- und Präzisionsbewaffnung den direkten Zielüberflug im Tiefflug, das „Wittstock-Szenario", gerade vermeiden soll.
Wenn in einigen Jahren die Tornado-Jagdbomber sukzessive durch den Eurofighter ersetzt werden, der seine Luft-Boden-Einsätze im mittleren und großen Höhenbereich fliegt, gibt es erst Recht keinen Bedarf nach einem dritten großen Luft-Boden-Schießplatz in Deutschland - außer, man will hier allen innerdeutschen Übungsbetrieb konzentrieren, ja sogar Übungsbetrieb aus dem Ausland und von Alliierten nach Wittstock verlagern.
Die Bürger, Parteien, demokratischen Vertretungen und Unternehmer aus Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern haben sich in einem Umfang gegen die militärische und für die zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide ausgesprochen, dass man von einer Art Volksabstimmung sprechen kann.
Darüber kann und darf die Politik des Bundes nicht weiter hinweggehen.
Es wäre ein Gewinn für die demokratische Kultur unseres Landes und kein Schaden für die Sicherheit Deutschlands und des Bündnisses, wenn Sie dem politischen und juristischen Dauerstreit ein Ende machen würden.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein gutes und erfolgreiches Gespräch mit den Ministerpräsidenten von Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern.
Mit besten Grüßen
Winfried Nachtwei
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
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