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Afghanistanbilder von Anja Niedringhaus - Angriffe auf Journalisten und die Pressefreiheit weltweit

Veröffentlicht von: Nachtwei am 24. März 2016 21:46:21 +01:00 (59124 Aufrufe)

Zwei Jahre nach ihrer Ermordung sind im Münsteraner Franz Hitze Haus Afghanistanbilder der renommierten Fotojournalistin Anja Niedringhaus zu sehen. Mitte März berichteten in Berlin Journalisten aus Kriegsgebieten über den "Dschihad gegen Journalisten". Dazu mein Bericht. 

Afghanistanbilder von Anja Niedringhaus -

Angriffe auf Journalisten und die Pressefreiheit weltweit

von Winfried Nachtwei

Seit dem 13. März 2016 sind im Münsteraner Franz-Hitze-Haus faszinierende Fotos von Anja Niedringhaus zu sehen. Der unglaubliche, aber ehrliche Titel der Ausstellung: „Geliebtes Afghanistan“. Die Fotojournalistin und Pulitzer-Preisträgerin Anja Niedringhaus wurde am 4. April 2014, vor genau zwei Jahren, an einem Checkpoint in der ostafghanischen Provinz Khost von einem Polizisten ermordet. (Fotos auf www.facebook.com/winfried.nachtwei )

Am 16. März berichtete Lottfullah Najafizada, der junge Chefredakteur von TOLOnews Afghanistan, beim Fachgespräch der grünen Bundestagsfraktion zu „Dschihad gegen Journalisten“ von den immer bedrohlicheren Arbeitsbedingungen seiner KollegInnen in Afghanistan. Im letzten Oktober hatten die Taliban TOLO TV zu einem „militärischen Ziel“ erklärt. Am 20. Januar griff ein Selbstmordattentäter einen Shuttle-Bus der Muttergesellschaft an und tötete sieben TOLO-MitarbeiterInnen.

Anja Niedringhaus

Ein Mädchen vertieft in ein blaues Schulbuch, zwei Jungens raufen lachend um einen Drachen, ein Vater auf Motorroller mit fünf Kindern, eine afghanische Parlamentsabgeordnete, ein kleiner Junge schäkert mit einem Soldaten im Unruhedistrikt Chahar Darah/Kunduz 2011, ein Junge auf Kettenkarussel mit Spielzeug-MP … - insgesamt über 40 Aufnahmen, alle mit einer kurzen Erläuterung von Anja Niedringhaus.

Die aus Höxter/Ostwestfalen stammende Anja Nieringhaus arbeitete seit 1990 als Vollzeit-Fotojournalistin erst auf dem Balkan, dann – seit 2002 für AP – im Nahen und Mittleren Osten, in Afghanistan und Pakistan. Auf der Website der „Paderborner Fototage“ heißt es zu ihrer Ausstellung:

Ihre Bilder „erzählen jenseits von spektakulären Situationen Geschichten von Menschen. Unvoreingenommen spiegeln sie Gefühle wie Trauer, Angst, Enttäuschung, Zuneigung und Begeisterung, daneben Leid, Gewalt, Zerstörung und Tod, denen die Betroffenen permanent ausgeliefert sind. Afghanistan, Libyen, der Irak, Israel (Gaza) und Bosnien waren Kriegs- und Krisengebiete, aus denen sie berichtete. Professionalität, Risikobereitschaft und ein unparteiischer Blick zeichnen ihre Aufnahmen aus. In ihrer Arbeit suchte Niedringhaus Herausforderung und Grenzerfahrung. Spontaneität, technisches Know-How sowie die Gabe, in einem Moment das Besondere zu erkennen und dabei intuitiv den richtigen Ausschnitt einer Situation festzuhalten, führten zur herausragenden Qualität ihrer Bilder.
Anja Niedringhaus’ Aufnahmen haben zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter 2005 den Pulitzerpreis für Fotografie. Ihre eindrucksvollen Bilder wurden von allen Printmedien genutzt, im Fernsehen ausgestrahlt und sind im Internet zur tagespolitischen Illustration der Kriegsereignisse zu sehen. Sie führen uns ein globales Thema vor Augen, dass uns tagtäglich umgibt und schon fast zur unheimlichen Normalität und Routine geworden ist: der Krieg in vielen Ländern dieser Welt.“

„Ich hätte mich die meiste Zeit meines Lebens von Gefahren fernhalten können, aber ich habe mich immer zu Menschen in schwierigen Situationen hingezogen gefühlt", erklärte sie in ihrer Dankesrede 2005 bei der Preisverleihung für den IWMF Preis für Mut im Journalismus in Washington.

Letztes Interview: Am 11. März 2014, wenige Wochen vor ihrem Tod, gab sie per Skype „brutal“, dem Abschlussmagazin der 52, Kompaktklasse der Dt. Journalistenschule, ein Interview http://www.sueddeutsche.de/medien/kriegsfotografin-anja-niedringhaus-keiner-wuerde-sagen-hoer-auf-damit-1.1930146 .

21 Fotos von A. Niedringhaus auf http://www.sueddeutsche.de/medien/fotografin-anja-niedringhaus-ein-blick-fuer-menschen-1.1929505

Ihre langjährige Kollegin und Freundin Kathy Gannon saß mit ihr am 4. April im Wagen und wurde bei dem Attentat schwer verletzt. Bei der Feier zum 25. IWMF (International Women`s Media Foundation) Courage in Journalism Award am 22. Oktober 2014 in New York erinnerte sie an ihre Freundin: https://www.youtube.com/watch?v=bbJQv8cUEas&feature=youtu.be

Ihre Websitehttp://www.anjaniedringhaus.com/

Bei der Eröffnung der Ausstellung am 22. März führte der scheidende Akademiedirektor Prof. Thomas Sternberg, MdL, vor vollem Haus einfühlsam in die Ausstellung ein.

Anwesend war auch die Mutter der Fotografin und Carl Wilhelm Macke vom Verein „Journalisten helfen Journalisten“ aus München. Seine Rede „Die Begegnung mit am Anderen“ zur Ausstellungseröffnung unter www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1399 .

Im Begleitprogramm zur Ausstellung diskutieren am 2. Juni ab 18.30 Uhr im Hitze-Haus der Journalist Maximilian Kiewel, Reporter bei Bild am Sonntag, und ich über „Nichts ist gut in Afghanistan?“

Dschihad gegen Journalisten

Zwei Wochen vor dem Mord an Anja Nieringhaus, schossen am 20. März 2014, dem Vorabend des persischen Neujahrsfestes, vier junge Männer im besonders gesicherten Serena-Hotel in Kabul mit Pistolen auf die Hotelgäste und töteten neun Menschen, unter ihnen den populären Journalisten Sardar Ahmad (40), der seit 2003 für AFP arbeitete, seine Frau Humara, die sechsjährige Tochter Nilofar und der fünfjährige Sohn Omar. Der zweijährige Abuzar wurde von fünf Schüssen getroffen und überlebte schwer verletzt. (http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1276 )

Ziviler Zorn: Am 21. März riefen afghanische Journalisten zu einem fünfzehntägigen Boykott aller Taliban-Meldungen auf. Am 24. März, einem kalten und regnerischen Tag,  demonstrierten vor dem Serena 250 bis 300 Frauen und Männer aus verschiedenen Ethnien gegen den Anschlag. Ihre Losung „Enough is Enough!“

Am 12. Oktober 2015 verurteilte die Militärkommission der Taliban in einer Stellungnahme die Berichterstattung der TV-Kanäle Tolo TV und 1TV und erklärte ihre Niederlassungen zu „militärischen Zielen“ und ihre Mitarbeiter zu „feindlichem Personal“. Zuvor hatten beide Kanäle über Beschuldigungen berichtet, wonach Taliban in Kunduz Frauen vergewaltigt hätten. Einen Tag später wies eine Versammlung afghanischer Journalisten die Drohung zurück und kündigte für den Fall, dass Medienleute zu Schaden kämen, einen Boykott der Taliban-Nachrichten an. Am 16. Oktober riefen Taliban auf ihrer Website zu Attacken auf Medien-Niederlassungen und Journalisten auf, „die für den Westen arbeiten und von ihm finanziert werden“.  Sie müssten „eliminiert“ werden. Am 20. Januar 2016 griff in Kabul ein Kfz-gestützter Selbstmordattentäter einen Shuttle-Bus der Moby Group, einer Muttergesellschaft von TOLO TV, an und tötete acht Zivilpersonen, davon sieben TOLO TV-MitarbeiterInnen, und verletzte 30 weitere. Die Taliban bekannten sich dazu. (http://www.nytimes.com/2016/01/22/world/asia/afghanistan-tolo-tv-bombing.html?_r=0 )

Am 30. Januar erschossen Bewaffnete in Nangarhar den bekannten, für Radio Television Afghanistan/RTA arbeitenden Journalisten und Publizisten Mohammad Zubair Khaksar, genannt auch „Stimme von Nangarhar“.

Die anderen Felder des Dschihad gegen Journalisten schilderten bei dem Fachgespräch der Grünen-Bundestagsfraktion die freie italienische Journalistin Francesca Borri (seit 2012 aus Syrien berichtend, vorher Israel/Palästina und Kosovo; „Das unfassbare Leben einer Kriegsreporterin“, http://www.welt.de/politik/ausland/article118016347/Das-unfassbare-Leben-einer-Kriegsreporterin.html),

Christoph Dreyer von Reporter ohne Grenzen sowie die grüne MdB Tabea Rößner, moderiert vom außenpolitischen Sprecher Omid Nouripour. (Bericht vom Fachgespräch: http://www.gruene-bundestag.de/themen/medien/dschihad-gegen-journalisten.html )

Der Bericht „Jihad against Journalists“ von Reporter ohne Grenzen von Ende 2015 belegt, wie sehr die Bedrohung von Journalisten durch terroristische Gruppen angewachsen ist. In 16 Monaten nach der Eroberung von Mossul, der zweitgrößten Stadt des Irak, im Juni 2014 durch Daesh wurden 48 Medienschaffende entführt und mindestens 13 ermordet. Die Terrorgruppen nehmen unabhängige Journalisten ins Visier und bauen zugleich eigene Medienimperien auf, befüttern vor allem soziale Netzwerke. Der Trend ist eindeutig: Während sich professionelle terroristische Propaganda ausweitet, wird unabhängige Medienberichterstattung immer mehr erschwert. (https://www.reporter-ohne-grenzen.de/uploads/tx_lfnews/media/160100_Jihad_against_Journalists_-_RSF_01.pdf )

Verteidiger der Pressefreiheit

Am 27. Juli 1991 war Egon Scotland, Reporter der Süddeutschen Zeitung, bei Glina in Kroatien von einem Scharfschützen ermordet worden. Einen Tag zuvor hatten serbische Milizen unter „Kapetan Dragan“ Vasiljkovic die Gegend besetzt. ( Dazu Hans Holzhaider am 6. Oktober 2015 http://journalistenhelfen.org/2015/10/06/der-schuss/ ) Der Mord an Egon Scotland war der Anstoß für die Gründung von „Journalisten helfen Journalisten“JhJ ( http://journalistenhelfen.org/ ) 1993 in München. JhJ versucht weltweit in Not geratenen Kollegen und deren Familien in Kriegs- und Krisengebieten zu helfen. Aktuell wird zur Unterstützung des Fotografen Mujtaba Jalali, ein im Iran geborener Afghane, aufgerufen. 2015 floh er nach Europa und lebt jetzt in einem niederländischen Flüchtlingslager. (http://www.thephoblographer.com/2015/10/17/documenting-refugee-crisis-eyes-mujtaba-jalali/#.VsLn7TbBFi2 )

1994 gründete sich in Berlin die deutsche Sektion von „Reporter ohne Grenzen“/ROG (https://www.reporter-ohne-grenzen.de/ ): für Informationsfreiheit: Recherchieren, Anklagen, Unterstützen. ROG/Reporter sans frontieres/RSF verfügt über ein globales Netzwerk.

Anmerkung: Bei dem Fachgespräch zum „Dschihad gegen Journalisten“ wurde deutlich, dass islamistische Terrorgruppen, an der Spitze Daesh/IS, einen transnationalen bewaffneten Kampf gegen freie Medienschaffende und unabhängige Medienberichterstattung führen. Die Augen und Ohren der internationalen Öffentlichkeit werden vor allem aus Krisenregionen verdrängt  und gleichzeitig der Kampf um die Köpfe und Herzen potenzieller Sympathisanten, Unterstützer und Kämpfer intensiviert. Medien, die immer weniger Korrespondenten vor Ort haben, leisten diesem Trend der sich ausbreitenden schwarzen Löcher der Berichterstattung Vorschub.

Inzwischen haben größere Medienhäuser investigative Recherche-Netzwerke gegründet, so Süddeutsche, NDR und WDR; oder der Spiegel zusammen mit acht weiteren europäischen Blättern die European Investigative Collaboration.

Wäre es nicht an der Zeit, wenn größere Medienhäuser Patenschaften/Partnerschaften zu bestimmten Krisenländern aufbauen würden, um in Kooperation mit dortigen unabhängigen Medienschaffenden solche Länder aus dem internationalen Wahrnehmungsschatten zu holen?

Der Vertreter von Reporter ohne Grenzen meinte, dass sei eine großartige Idee.