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"Buntbuch statt Weißbuch" - mein Kommentar zum Weißbuch-Prozess in "Zur Sache Bw" 1/2015

Veröffentlicht von: Nachtwei am 10. Juli 2015 16:07:56 +01:00 (136692 Aufrufe)

Ein umfassender Sicherheitsbegriff und militärisch verengte Schlussfolgerungen - das war der Grundwiderspruch der Weißbücher von 1994 und 2006. Immerhin: Beim gegenwärtigen Prozess "Weißbuch 2016" wird erstmalig und breit die nicht-militärische Fachöffentlichkeit einbezogen. Dazu mein Beitrag in den "Evangelischen Kommentaren zu Fragen der Zeit" mit dem Schwerpunktthema Fehlerkultur und Risikomanagement.

Buntbuch statt Weißbuch.

Für die Aufnahme nicht-militärischer Akteure in die Sicherheitspolitik

Winfried Nachtwei (Juni 2015)

(Erschienen in „Zur Sache Bw – Evangelische Kommentare zu Fragen der Zeit“, 1/2015, hrg. im Auftrag des Evangelischen Militärbischofs, http://www.eka.militaerseelsorge.bundeswehr.de/portal/a/eka/!ut/p/c4/04_SB8K8xLLM9MSSzPy8xBz9CP3I5EyrpHK93Myc4tTUnOL41OxEveLUorLM5FS9gtKknMzsxBK9qtKi4sTkjFT9gmxHRQAj4McR/ )

Bisher entstanden Weißbücher zur deutschen Sicherheitspolitik und Verteidigungspolitische Richtlinien des Verteidigungsministeriums immer unter Ausschluss von Öffentlichkeit und Parlament. Notorisch wurde damit eine breitere sicherheits- und friedenspolitische Debatte und Konsensbildung von oben behindert. Das soll beim geplanten Weißbuch 2016 erstmalig anders werden. Auch das Auswärtige Amt hatte mit seinem  Review-2014-Prozess erstmalig die interessierte Öffentlichkeit einbezogen. Diese Öffnung bietet große Chancen.

Ein umfassender Sicherheitsbegriff und militärisch verengte Schlussfolgerungen - das war der Grundwiderspruch der Weißbücher von 1994 und 2006, die federführend vom Verteidigungsministerium (BMVg) erarbeitet wurden. Erst wurden die verschiedenen Dimensionen von Sicherheit und die vielfältigen Ursachen von Sicherheitsbedrohungen entfaltet, dann das breite Spektrum an politischen, wirtschaftlichen, sozialen, polizeilichen und militärischen Instrumenten von Sicherheitspolitik und ihre Vernetzung beschworen, um schließlich nur militärische Konsequenzen daraus zu ziehen. Damit wurde die militärlastige Wahrnehmung von Sicherheitspolitik befördert und der Fehlinterpretation Vorschub geleistet, als solle jedwede Sicherheitsbedrohung militärisch beantwortet werden.

Auch das künftige Weißbuch soll unter Federführung des BMVg in Abstimmung mit den anderen Ressorts erarbeitet und vom Bundeskabinett beschlossen werden.

Wo aber grundsätzlich Konsens besteht über ein umfassendes Verständnis von Sicherheitspolitik, wo staatliche und menschliche Sicherheit aufeinander angewiesen sind, wo der Primat bei der politischen Konfliktlösung liegt und Militär diese in bestimmten Fällen „nur“ absichern und unterstützen kann – müsste da das zentrale Grundlagendokument zur deutschen Sicherheitspolitik nicht ressortübergreifend unter Federführung des Auswärtigen Amtes erstellt werden? Oder wäre nicht als „Dach“ eine Friedens- und Sicherheitsstrategie angesagt, die den verbindlichen Friedensauftrag des Grundgesetzes und der Charta der Vereinten Nationen konkretisiert?

Seit den 90er Jahren war die Grunderfahrung aller Krisenengagements und Friedenseinsätze im UN-Auftrag: Keine Nation, kein Akteur schafft es allein, die Notwendigkeit der anderen! Die Konsequenz daraus waren der Aufbau neuer ziviler Instrumente der Krisenprävention und Konfliktbearbeitung, multidimensionale Einsätze und integrierte UN-Missionen sowie das Kohärenz- und Vernetzungsgebot. Das fand schon 2004 im Aktionsplan „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ der Bundesregierung seinen Niederschlag.

So sehr der vernetzte Ansatz  in der sicherheitspolitischen Community seitdem Konsens ist – und als „vernetzte Sicherheit“ zeitweilig zu reinem regelrechten Mantra wurde -, so sehr beklagen Einsatzpraktiker bis heute die Kluft zwischen Vernetzungs-Rhetorik und –Praxis und die Dominanz von Ressortdenken.

Konsens besteht bei Einsätzen mit UN-Mandat auf der Hochebene der allgemeinen hehren Ziele. Darunter beginnt oft die Zerklüftung der Ziele, der Organisationsinteressen und –kulturen, der sehr verschiedenen Kapazitäten und Wirkungsmöglichkeiten  – zwischen Verbündeten, Ressorts, staatlichen und nichtstaatlichen, externen und internen  Akteuren.

Zwischen den verschiedenen Instrumenten der Krisenbewältigung besteht ein Gefälle der Verfügbarkeiten, das immer wieder zu einer Falle wird: Schnell verfügbar sind das Technische Hilfswerk und Streitkräfte mit ihrem besonders breiten Fähigkeitsspektrum. Nicht schnell verfügbar sind z.B. Polizisten, Experten für Sicherheitssektorreform, Rechtsstaatsförderung, Verwaltungsaufbau. Sie werden aber bei der Krisenprävention wie bei der Konfliktnachsorge und Aufbauunterstützung besonders dringend gebraucht. Viele Hilfs- und Nichtregierungsorganisationen hegen darüber hinaus den Verdacht, dass sie im Rahmen der vernetzten Sicherheit von Seiten des Militärs vereinnahmt werden und ihre Unabhängigkeit verlieren könnten.

Mit dem von Russland befeuerten Krieg in der Ukraine wurde in der NATO eine Rückbesinnung auf Bündnisverteidigung und Abschreckung in Europa angestoßen. Damit hat sich der sicherheitspolitische Großauftrag Umgang mit Fragilität, Krisenbewältigung, Stabilisierung und Friedenssicherung keineswegs erledigt – im Gegenteil, wie der Blick auf die Kriegsbrände in der europäischen Nachbarschaft und die Tagesordnung des UN-Sicherheitsrates zeigt.

Die Bilanz bisheriger Kriseneinsätze ist überwiegend ernüchternd und teilweise verheerend. Die sicherheitspolitischen Herausforderungen wuchern  und überfordern Staaten und internationale Organisationen.

Da ist kooperative Sicherheit nicht nur zwischen Staaten, sondern auch von zivilen und militärischen Akteuren mehr denn je das Gebot der Stunde! Wirksame Gewalt- und Konfliktverhütung, Stabilisierung und Friedensförderung sind angewiesen auf gemeinsames Erfahrungslernen, kooperative Strategieentwicklung,  ausgewogene Kapazitäten, kohärentes Handeln und Üben dafür.

Das Weißbuch 2016 soll  d a s  Grundlagendokument der Bundesregierung zur deutschen Sicherheitspolitik werden. Um strategische Weitsicht, Realitätsnähe und Orientierungskraft zu liefern, ist es zwingend auf die Einbeziehung derjenigen nicht-militärischen Akteure angewiesen, die für die Förderung von staatlicher und menschlicher Sicherheit arbeiten. Ihre Kompetenz und ihre Erfahrungen sind nicht nur hilfreich, sie sind unverzichtbar – im Einsatz wie bei der bunteren Weißbuchentwicklung. Notwendige Vorrausetzung dabei ist, dass Politik, militärische und zivile Akteure im Rahmen der UN-Normen agieren, dass ihre operativen Ziele zusammen passen und Respekt ihren Umgang prägt.

Erheblich erleichtert würde ein Zusammenwirken mit nicht-militärischen Akteuren, wenn neben die notwendigen Risiko- und Bedrohungsanalysen auch systematische Chancenanalysen treten würden: die Identifizierung  von konstruktiven Prozessen, Akteuren, Zusammenhängen. Statt nur hinter Risiken „herzulaufen“ könnten so gesellschaftliche und politische „Selbstheilungskräfte“ gefördert und Präventionschancen besser genutzt werden.