Nachtwei zum Luft-Boden-Schießplatz Wittstock

Von: Webmaster amSo, 26 Februar 2006 19:19:12 +02:00

Winfried Nachtwei hat am 16.01.2006 zum Luft-Boden-Schießplatz Wittstock eine Stellungnahme verfasst, deren aktualisierte Fassung (26.02.2006) wir im Folgenden hier veröffentlichen:



Winfried Nachtwei, MdB
Bündnis 90 / Die Grünen im Bundestag
Obmann im Verteidigungsausschuss und sicherheitspolitischer Sprecher

16.01./26.2.2006

Stellungnahme zur „Ergänzenden Begründung" des BMVg zur „Notwendigkeit der sofortigen Inbetriebnahme des TrÜbPl Wittstock durch die Bundeswehr als Luft-Boden-Schießplatz" vom 6. Dezember 2005

Die vom Verteidigungsministerium vorgebrachten Gründe für eine sofortige Aufnahme des Übungsbetriebes auf dem geplanten Luft-/Boden-Schießplatz Wittstock sind aus meiner Sicht sachlich nicht haltbar. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass im Schatten des Regierungswechsel und vor dem Hintergrund von Berichten, wonach auch in den Koalitionsfraktionen namhafte Vertreter (z.B. Schäuble, Schönbohm, Platzeck, Ringsdorff) für eine Überprüfung bzw. eine Entscheidung für die zivile Nutzung eintreten, die Gerichte überrumpelt und Fakten geschaffen werden sollen.

 

(1) Der neue Auftrag:
Richtig benennt das BMVg als primäre Aufgabe der Bundeswehr nicht mehr die Landesverteidigung sondern die Beteiligung an internationalen Einsätzen zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung einschließlich des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus. Auch wenn Kampfeinsätze nicht gänzlich auszuschließen sind, stehen gewaltarme Stabilisierungseinsätze im Mittelpunkt.

Der neue Auftrag ist in den Verteidigungspolitischen Richtlinien vom 21. Mai 2003 festgelegt. Dieses Dokument ist aber nur von begrenzter Autorität: Die VPR wurden ausdrücklich nicht vom Bundeskabinett beschlossen. Sie sind also kein zwischen den Ressorts vereinbartes Grundlagendokument der Bundesregierung, sondern gelten nur für den Geschäftsbereich des BMVg. Während diese Aufgabenbeschreibung im Kern vielfach von Bundesregierung und Parlament bekräftigt wurden, gab es in der damaligen Koalition erhebliche Differenzen, wenn es um die Interpretation der Folgen dieser Schwerpunktverschiebung ging.

Eine Inbetriebnahme des Luft-Boden-Schießplatzes in der Kyritz-Ruppiner Heide war in den VPR weder vorgesehen, noch ist dies aus den VPR abzuleiten. Die für die Bekämpfung von Bodenzielen vorgesehenen Kräfte der Luftwaffe, sollen sich auf die wahrscheinlichen Einsätze im Rahmen der o.g. primären Aufgabe vorbereiten. Unter Experten gibt es erheblichen Zweifel, dass die Bundeswehr hierfür - neben den Übungsmöglichkeiten im Ausland und über See - zwingend einen dritten und besonders großen inländischen Luft-Boden-Schießplatz braucht, um dort die Bekämpfung von Bodenzielen im Tiefflug zu üben. Wie der Gruppenantrag für eine zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide zeigt, gab es in der rotgrünen Regierungskoalition keine Mehrheit für eine militärische Nutzung.

(2) Einsatzerfahrungen:
Seit ca. zehn Jahren ist die Bundeswehr inzwischen an internationalen Kriseneinsätzen beteiligt, heute mit über 6.000 Soldaten schwerpunktmäßig auf dem Balkan, in Afghanistan und am Horn von Afrika. Einzig bei der Teilnahme am NATO-Luftkrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien im Jahr 1999 kamen deutsche Tornado-Kampfflugzeuge zur Bekämpfung von gegnerischen Radaranlagen zum Einsatz. Die ECR-Tornados verschossen bei insgesamt 436 Einsätzen 244 HARM-Lenkflugkörper (HARM-Reichweite bis 30 km). Zum Schutz der Soldaten und der Flugzeuge wurden die Raketen nicht im Tiefflug, sondern aus einer mittleren Höhe von ca. 5.000 m abgefeuert. Bei allen anderen (Stabilisierungs-)Einsätzen der Bundeswehr sind Tornados in der Luft-Boden-Rolle gar nicht eingeplant. Sie sind auch künftig im Rahmen der Stabilisierungseinsätze auf dem Balkan und in Afghanistan auszuschließen. Wittstock ist somit ohne Bedeutung für die laufenden und noch längere Zeit andauernden Einsätze der Bundeswehr und der NATO.

(3) Bewaffnungskonzept:
Die neue Aufgabe der Krisenbewältigung fordert auch von der Luftwaffe andere Fähigkeiten. Das vom Inspekteur der Luftwaffe im November 2001 erlassene „Bewaffnungskonzept für strahlgetriebene Kampfflugzeuge der Bundeswehr" stellt dazu fest:

„Präzise Einsatzplanung unter Nutzung aller Informationen sowie höchste Treffgenauigkeit durch Verwendung von Präzisionswaffen mit zielangepasster Wirkung sind unerlässlich, um Kollateralschäden mit größtmöglicher Wahrscheinlichkeit auszuschließen. (...) Zur Risiko- und Aufwandsminimierung für Besatzungen und Luftfahrzeuge sollte eine Zielbekämpfung aus sicherer Entfernung möglich sein. (...) Unter besonderer Berücksichtigung der Forderungen Effizienz der Zielbekämpfung, optimierte Wirkung gegen das Ziel, Vermeidung eigener Opfer, Vermeidung von Kollateralschäden sind ungelenkte und damit nicht präzise Waffen im Rahmen von Einsätzen im wahrscheinlichsten Aufgabenspektrum nicht oder nur noch bedingt einsetzbar." (S.9)

Das entspricht den Anforderungen der „Defence Cababilities Initiative" der NATO und der European Headline Goals" der EU, die die Fähigkeit zur Präzisions- und Abstandsfähigkeit hoch priorisiert haben. Weltweit verbreitete tragbare Luftabwehrsysteme (sogenannte MANPADS) sind eine herausragende Bedrohung für Flugzeuge und deshalb Abstandsfähigkeit - also Vermeidung des Zielüberflugs - ein dringendes Erfordernis.

(4) US-Erfahrungen:
Dieser Trend weg von Luft-Boden-Einsätzen im Tiefflug hin zur Präzisions- und Abstandsfähigkeit zeigt sich unübersehbar gerade auch in den letzten Kriegseinsätzen der US-Streitkräfte: Beim Golfkrieg 1991 lag der Anteil der gelenkten Präzisionsmunition bei 10%, beim Irak-Krieg 2003 bei 68%. (Stefan Aust/Cordt Schnibben (Hg.): Irak - Geschichte eines modernen Krieges, München 2003, S. 535. Genaue Aufschlüsselung nach Typen und Zahlen vgl. USCENTAF: Operation Iraqi Freedom - By The Numbers, 30.4.2003) Im Tiefflug agierten Kampfhubschrauber und langsame, aber schwer gepanzerte A-10-Kampfflugzeuge. Vermehrt werden auch unbemannte Drohnen zu Kampfeinsätzen herangezogen.

(5) Umrüstung der Luftwaffe:
Die Bundeswehr verfügt über drei Jagdbombergeschwader mit insgesamt 270 Tornado/IDS (Interdiction/Strike, Bekämpfung von Bodenzielen, Jabo-Geschwader 31 in Nörvenich und 33 in Büchel, letzteres eingeplant in die nukleare Teilhabe) und 35 Tornado/ECR (Electronic Combat & Reconnaissance, Bekämpfung von gegnerischen radargestützten Boden-Luft-Verteidigungs- und Führungseinrichtungen, Jabo-G 32 in Lechfeld).

Die im Luftwaffenführungskommando für den Tornado in der Luft-Boden-Rolle zuständigen Offiziere Häringer und Jelinek in „Soldat und Technik" (Januar 2003): Die bisherige konventionelle Bewaffnung des Tornado bestehe „vorwiegend aus ungelenkter ballistischer Abwurfmunition", die den Überflug oder nahen Vorbeiflug am Ziel erfordere. Dabei könnten „ungewollte Schäden grundsätzlich nicht ausgeschlossen" werden. Mit der lasergelenkten 1000-kg-Bombe GBU-24 wurde inzwischen Präzisionsfähigkeit erreicht, mit der „Modularen Abstandswaffe" MAW Taurus auch eine weit reichende Abstandsfähigkeit von max. 350 km. Am 21. Dezember 2005 übernahm die Luftwaffe in Büchel den Lenkflugkörper Taurus, der von der Bundeswehr als weltweit modernste Abstandswaffe gepriesen wird.

Das Tornado-Geschwader in Nörvenich wird bis 2010 auf den Eurofighter in der Luft-Boden-Rolle umgerüstet, das Geschwader in Büchel bis 2015. Von da an verfügt die Bundeswehr über keine für den Luft-Boden-Einsatz im Tiefflug optimierten Tornados mehr. Der EF fliegt seine Luft-Boden-Einsätze nur im mittleren und großen Höhenbereich. Für Bombenabwürfe im Tiefflug ist er ausdrücklich nicht vorgesehen.

Aus Sicht des BMVg ist optimale Abstandsfähigkeit dann gegeben, wenn bemannte Kampfflugzeuge gar nicht mehr in den Bedrohungsbereich eindringen müssen. Der Trend geht deshalb immer stärker in Richtung unbemannter Systeme (Unmanned Aerial Vehicles/UAV) und Marschflugkörper. Exemplarisch ist das ablesbar an der „Bw-Fachinformation", die z.B. in der Ausgabe Reihe 13 - 1/06 unter dem Stichwort „Luftangriff fast nur noch Titel zu UAV`s anführt.

Die Ausrüstungs- und Bewaffnungsentwicklung der Bundeswehr geht in den nächsten Jahren immer mehr weg vom Übungsangebot von Wittstock (und Nordhorn und Siegenburg). Vor dem Hintergrund der Spardiskussion im Bundeshaushalt ist deshalb auch im Gespräch, die Luftwaffe weiter zu reduzieren.

(6) Ãœbungsbedarf im Sinkflug
Gegenüber 764 Übungseinsätzen in 2003 flog die Bundeswehr 2004 nur noch 494 Einsätze im Inland. Zehn Jahre zuvor (1994) waren es noch 1.755. Wie sehr der Tiefflugübungsbedarf schon in der Vergangenheit zurückgegangen ist, zeigt auch die Schließung des Taktischen Ausbildungszentrums der Luftwaffe in Goose Bay/Kanada zum 31. März 2006. Hier wurde seit 1986 der extreme Tiefstflug geübt, für den der Tornado zu Zeiten des Kalten Krieges vor allem ausgelegt worden war. Jeder Jagd- und Jagdbomberverband der Luftwaffe trainierte dort vier Wochen im Jahr und mit der Möglichkeit zur scharfen Waffeneinsatzausbildung. Das Spitzenjahr war 1991 mit 4.363 Einsätzen. 2004 flog die Bundesluftwaffe nur noch 776 Einsätze. Laut Presseinformationszentrum der Luftwaffe kann die deutsche Ausbildung in Kanada eingestellt werden, weil „die reine Tiefstflugausbildung an ihrer ursprünglichen Bedeutung verloren hat" und „mittlerweile genügend Alternativen zur Verfügung stehen. Um nur einige zu nennen sind das große multinationale Übungen wie MAPLE FLAG, BATTLE GRIFFIN und COPE THUNDER ebenso wie das Fliegerische Ausbildungszentrum der Luftwaffe in Holloman/USA oder das Taktische Ausbildungszentrum der Luftwaffe in Decimomanu in Italien." (Hardthöhenkurier 4/2005, S. 25) Dafür sind Fähigkeiten, wie sie in Wittstock vor allem geübt werden sollen - Abwurf ungelenkter Bomben im Tiefflug - nicht zu gebrauchen.

(7) Vernetzte Operationen
„Vernetzte Operationsführung" gehört zu den jüngsten Lieblingsparolen im Militärjargon. Wittstock sei angesichts der „neuen Rahmenbedingungen" (digital) vernetzter Operationsführung unverzichtbar, heißt es. Warum die vernetzte Operationsführung in besonderer Weise ein räumlich dichtes Üben verschiedener militärischer Kräfte erfordern soll, und warum dies nicht im Gefechtsübungszentrum geübt wird, wird nicht erläutert. Es ist auch nicht nachvollziehbar. Vernetzte Operationsführung wurde erstmalig umfassend und im großen Stil im Irak-Angriffskrieg der USA praktiziert. Es ist nicht einfach eine militärische, sondern eine eminent politische Frage, ob die Bundesrepublik diese Fähigkeit zur hoch vernetzten Luft- und Landkriegsführung vom Übungsstand der Soldaten her binnen weniger Tage, in den nächsten Monaten bzw. grundsätzlich braucht. In näherer Zukunft sind Szenarien, bei denen Bundeswehr in solcher Weise eingesetzt würde, undenkbar. Auch ein CDU-Minister kann keine Bundeswehr-Tornados zur Bekämpfung von Bodenzielen einsetzen wollen - nicht im Irak, nicht in Afghanistan, auf dem Balkan, erst Recht nicht im Iran.

(8) Die für die NATO-Responce-Force (NRF) für das 1. Halbjahr 2006 gemeldeten Bundeswehr-Kontingente sind - einschließlich der Luftangriffskräfte - „zertifiziert", d.h. sie verfügen über die geforderten besonderen Fähigkeiten. Das war und ist offensichtlich auch ohne Wittstock zu bewerkstelligen. Dass zeitgleich auf Goose Bay mit seinen extremen Möglichkeiten verzichtet werden kann, ohne dass eine Nutzung von Wittstock in Sicht oder wahrscheinlich wäre, spricht Bände. Bemerkenswerterweise kommt eine offizielle Publikation des Ministeriums („aktuell - Zeitung für die Bundeswehr") in der Nr. 50 vom 19.12.2005 auch zu einer dem Eilantrag widersprechenden Aussage: Im Hinblick auf NRF 6 sei die Bundeswehr „fit für die NRF" und „für alle Aufgaben gerüstet". Die Luftwaffe habe ihre „Vorhaben und Übungen konsequent auf die Anforderungen der NRF abgestimmt", u.a. durch Übungen für komplexe „Crisis Response" Szenarien in Norwegen und USA. 12 Tornado-Kampfflugzeuge, darunter Jagdbomber mit Abstands- und Präzisionsbewaffnung, seien bereitgestellt.

Die im Rahmen der NRF und auch der EU-Battlegroups geforderte schnellste Reaktionsfähigkeit (Verlegung und Einsatzbereitschaft weltweit binnen 10 Tagen) ist ein Scheinargument, das auch gegen die reguläre Parlamentsbeteiligung bei Auslandseinsätzen vorgebracht wurde. Außer bei Rettungs- und Befreiungseinsätzen gibt es bei allen anderen Kriseneinsätzen einen wochen- bis monatelangen politischen und militärplanerischen Vorlauf in Brüssel (EU, NATO), New York (UNO), Berlin und anderswo. Dieser lässt Zeit für militärische Übungen wie für seriöse politisch-militärische Entscheidungsprozesse. Schnellsteinsätze sozusagen „aus der Hüfte" wären illusionär, brandgefährlich und nicht zu verantworten. Sie sind angesichts des Mangels an schnell verfügbarem großem Lufttransportraum auch gar nicht realisierbar.

(9) Zusammenfassung und Ausblick:
Die Bereitstellung eines Kontingents der Luftwaffe für die NRF ab 1. Januar u.a. mit Kampfflugzeugen für Luft-Boden-Einsätze macht die sofortige Inbetriebnahme des Schießplatzes Wittstock keineswegs unabdingbar. Insbesondere der gleichzeitige Rückzug aus Goose Bay verweist darauf, dass die Luftwaffe offenbar nicht an einem Mangel an Übungsmöglichkeiten leidet.

Der Übungsbedarf und Übungsumfang wird in den kommenden Jahren weiter sinken. Die Betonung der angeblich einzigartigen Eignungen des Übungsplatzes Wittstock legt die Konsequenz nahe, dass der gesamte inländische Übungsbetrieb der Bundesluftwaffe hier konzentriert wird. Auch Bündnispartner würden von diesem Übungsangebot im Herzen Europas verstärkt Gebrauch machen. Die Kyritz-Ruppiner Heide würde zum Bombodrom der NATO und EU-Tuppen. Das Reden von der „gerechten Lastenverteilung" zwischen West und Ost war offenbar vorgeschoben, um der Lastenkonzentration in Ostdeutschland den Weg zu bereiten.