Nachtwei zum ZEIT-Dossier "Das Kundus-Syndrom"

Von: Webmaster amDo, 18 März 2010 08:37:06 +01:00

In der ZEIT vom 18. März 2010 ist folgender Leserbrief von Winfried Nachtwei zum ZEIT-Dossier "Das Kundus-Syndrom" veröffentlicht:



"Sie schildern das Drama, die Falle von Kunduz so anschaulich, dicht und aufrüttelnd, wie ich ich es nirgendwo bisher vernommen habe und auch in den Besuchen in Afghanistan (zuletzt September) nicht erfahren habe.

Seit Monaten macht mich immer unruhiger, ja zornig, wie man in Berlin fast nur um den 4. September und den Umgang damit kreist, wie wenig die Lage vor Ort interessiert, die Fragen nach dem Warum des Absturzes und den Auswegen aus der Falle.

Völlig richtig benennen Sie die "Kaskade der Verschleierung" und die Grunderfahrung, dass "die Wahrheit keine Karriere fördert".

Als Ihr Dossier erschien, schloss ich gerade einen Beitrag für das diesjährige Friedensgutachten über den ISAF-Einsatz der Bundeswehr - Anmerkungen zu einer überfälligen Bilanzierung" ab. Ich hatte jetzt Zeit und Gelegenheit, den Einsatz über die Jahre nachzuverfolgen und dabei interne Berichte auszuwerten.

Deutlich zutage trat ein regelrechtes System von Realitätsverleugnung und Beschönigung, wo Brüchen im Einsatz politisch nicht angemessen begegnet wurde. Bei allem Schönschreiben von Berichten: Auch die Kontingentberichte sind noch deutlich genug. Die militärische Führung wusste also, was war und immer schlimmer lief. Aber darauf drückte der politische Deckel, der die Wahrheit nicht ans Licht der Öffentlichkeit lassen wollte.

Es ist ein politisches Führungsversagen, zu dem in arbeitsteiliger Mitverantwortung viele beigetragen haben - auch wir Fachpolitiker des Verteidigungsausschusses, die wir immer am dichtesten am AFG-Einsatz dran waren, an den strategischen Versäumnissen des Polizeiaufbaus etc.:

Von November 2006 bis September 2008 war der Verteidigungsausschuss vor allem durch seine Arbeit als Untersuchungsausschuss zu Murnat Kurnaz absorbiert. Wir erfuhren dabei erstmalig einiges über das erste Jahr des KSK-Einsatzes in Afghanistan. Zugleich litt darunter die parlamentarische Kontrolle des laufenden Einsatzes. Die Verschärfung und das Abdriften vor Ort bekamen wir so nur begrenzt mit.

Jetzt scheint sich für mich mit dem Verteidigungsausschuss als Untersuchungsausschuss ähnliches zu wiederholen: Konzentriert auf Einzelfallermittlung und punktuelle Vergangenheitsbewältigung scheint die äußerst kritische Gegenwart nur marginale Beachtung zu finden. Solche Schräglagen sind absolut unverantwortlich, wenn daran Menschenleben hängen."

Nochmals Ihnen großen Dank für Ihre Reportage! Ich bin gespannt, ob auch dieser Weckruf wieder überhört wird oder endlich wirkt.