"Realitätsverleugnung und Schönrednerei" - mein Leserbrief zu "Krieg im toten Winkel" (SZ 17./18. Juni): Womit politisches Führungsversagen anfing und weiter ging

Von: Nachtwei amSo, 25 Juni 2017 12:55:53 +01:00

Zu Afghanistan gibt es seit Jahren nur noch Blitz-Berichterstattung und -Aufmerksamkeit, wenn gerade was passiert ist. Gut, dass die Süddeutsche den Schwerpunkt ihrer Wochenendausgabe dem deutschen AFG-Engagement widmete und dabei die Halbherzigkeit und Unehrlichkeit der Spitzenpolitik auf`s Korn nahm. Mein Leserbrief wurde am 26. Juni vollständig in der SZ abgedruckt. 



"Realitätsverleugnung und Schönrednerei"- Leserbrief zu

„Krieg im toten Winkel“ in Afghanistan in der SZ:

Womit politisches Führungsversagen anfing

Winfried Nachtwei (25. Juni 2017)

In der Wochenendausgabe der Süddeutschen vom 17./18. Juni 2017 erschien auf drei Seiten „Krieg im toten Winkel“ in Afghanistan von Nico Fried, Christoph Hickmann und Tobias Matern: http://www.sueddeutsche.de/politik/bundeswehreinsatz-in-afghanistan-krieg-im-toten-winkel-1.3547391?reduced=true

Seit einigen Jahren hat sich in der sicherheitspolitischen Community und Öffentlichkeit die Sichtweise festgesetzt, dass mangelnder Realitätssinn und Wunschdenken die zentralen Fehler des deutschen – und internationalen - Afghanistan-Engagements vor allem in den ersten Jahren waren. Ja, die Blauäugigkeit war ein strategischer Fehler. Aber längst nicht der einzige.

Die SZ-Autoren belegen, dass die Entscheidung, „nach Afghanistan zu gehen“, bei den damaligen deutschen Spitzenentscheidern einzig und allein durch die Bündnisloyalität gegenüber den USA motiviert war, dass gegenüber Afghanistan selbst kein Interesse bestand. (vgl. „Wie der Afghanistaneinsatz anfing“, Auswertung meiner persönlichen Notizen von 2001, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1074 )

Dass deutsche Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt werde (Peter Struck), war damals schon falsch, weil verkürzt (realiter ging es um Bedrohung internationaler Sicherheit). Es war aber vor allem von der politischen Führung nie ernst gemeint. Diese Grundtendenz eines nur nachgeordneten Interesses an Afghanistan, an seiner Stabilisierung und seinem Aufbau hielt sich auf der politischen Spitzenebene über die inzwischen mehr als 15 Einsatzjahre - bis zur notorisch anhaltenden Weigerung, gründlich und selbstkritisch aus dem Einsatz zu lernen.

Was müssen da die zigtausenden Frauen und Männer denken und fühlen, die von Bundesregierung und Bundestag in hoch strapaziöse und hoch riskante Einsätze entsandt werden – und wo es Kanzler und Ressortminister nicht ernst damit meinten und das Thema Afghanistan schon lange, lange hinter sich gelassen haben?

Mein Leserbrief vom 19. Juni:

Großen Dank, dass Sie aller Afghanistan-Müdigkeit zum Trotz den Blick auf den "Krieg im toten Winkel“ lenken.

Beim teuersten, kompliziertesten und opferreichsten deutschen Kriseneinsatz war der Knackpunkt ein kollektives politisches Führungsversagen:

Sie bestätigen, was mir seit etlichen Jahren immer deutlicher wurde, was ich aber als Abgeordneter nicht ernst genug nahm: Die Spitzen der Bundesregierung hatten kein sonderliches Interesse an Afghanistan, seinen Menschen und der Aufbauunterstützung dort. Ausschlaggebend war Solidarität mit den USA.

Da war es kein Wunder, dass in Berlin erst zwei Jahre nach Einsatzstart ein erstes dürftiges Afghanistankonzept entstand, dass die diplomatische und polizeiliche Komponente bis 2008/09 sträflich unterausgestattet war, dass auf Warnungen hoher Offiziere vor Lageverschärfungen ab 2006 notorisch mit Abwehr reagiert wurde, dass sich Realitätsverleugnung und Schönrednerei breit machten. Kein Wunder, dass trotz drängender Forderungen seit 2006 eine systematische, selbstkritischer Bilanzierung und Wirkungsanalyse verweigert wurde.

Zigtausende Frauen und Männer in Uniform wie in Zivil wurden von Bundesregierung, Bundestag und Durchführungsorganisationen nach Afghanistan entsandt, in enorme Herausforderungen, hohe Belastungen und z.T. extreme Risiken. Sie haben sich bewährt und Hoffnung gemacht. Tausende Einsatzsoldaten draußen mussten ab 2008/2009 immer häufiger schießen, töten, eigene Verwundete und Gefallene erleiden. Der Einsatz geht ihnen nicht mehr aus dem Kopf, bei nicht wenigen ist er eine jahrelang schmerzende Wunde.

Und dann realisieren müssen, dass es die Spitzen der verantwortlichen Politik gar nicht ernst gemeint haben mit dem Einsatzauftrag und den hehren Zielen des UNO-Mandats. Das ist zum Verzweifeln. So wurde Vertrauen in Politik und Innere Führung von höchst oben zersetzt  und von wechselnden sturen Koalitionsloyalitäten flankiert.

Trotz aller immer noch vorhandenen Teilfortschritte in Afghanistan – immer mehr Einsatzrückkehrer erleben einen nachtäglichen Sinnverlust ihres Einsatzes. Dem muss sich Politik stellen, die Außen-, Verteidigungs-, Innen- und Entwicklungsminister wie der Bundestag. Sich und die Öffentlichkeit zu Afghanistan ehrlich zu machen, selbstkritisch und gründlich zu lernen, wäre jetzt das Mindeste. Alles andere wäre verweigerte Verantwortung.

(bisher noch nicht veröffentlicht, 25.06.17)