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Vor 10 Jahren: Interner Brandbrief zu Afghanistan-Krieg

Veröffentlicht von: Nachtwei am 8. Oktober 2011 07:21:49 +01:00 (36094 Aufrufe)

Am 2.11.2001 wandte sich W. Nachtwei in einem Brief zu "Afghanistan-Krieg/Innere Lage" (INTERN EILT) an Fraktions- und Parteivorstand und Minister der Grünen.

Winni Nachtwei                                                                   Münster, 2.11.2001

 

Fraktionsvorstand

AK-IV                                                                  INTERN

Parteivorstand                                                       EILT

Minister

Afghanistan-Krieg/Innere Lage

Liebe Freundinnen und Freunde,

bevor wir ab Montag wieder in den Sitzungsmarathon stürzen und Meinungsbildung unter Zeitdruck statt findet, möchte ich Euch eine Zwischenbilanz aus meiner Sicht mitteilen. (Politische Konsequenzen unter (10) ) Sie gründet sich auf den Erfahrungen von elf Veranstaltungen während der Sitzungspause in- und außerhalb der Grünen und dem üblichen intensiven Pressestudium.

(1) Die Diskussion focussiert sich längst auf die US-Luftangriffe und die zunehmende humanitäre Katastrophe in Afghanistan. Die „uneingeschränkte Solidarität" der Bundesregierung mit den USA wird aller meistens als Angebot „bedingungsloser Solidarität" verstanden und durchweg abgelehnt. Zusammen mit den geradezu aufdringlichen Angeboten militärischer Unterstützung vor allem durch den Kanzler besteht vielfach der Eindruck, als stehe die Bundesrepublik an der Seite der USA im Krieg gegen Al-Qaida und die Taliban. Nicht selten wird von einem entsprechenden Beschluss des Bundestages ausgegangen.

Das Abkanzeln von „Abweichlern" - z.B. Claudias und der IG Metall durch den Kanzler - macht äußerst misstrauisch und bringt Sympathien für grüne Diskussionsbereitschaft.

(2) Demgegenüber tritt die für Grüne und unsere Gesellschaft neue Bedrohungserfahrung und die Ausgangs- und Schlüsselfrage (Was tun gegenüber der fortdauernden terroristischen Bedrohung?) in den Hintergrund. Wo sie thematisiert werden, weitet sich aber auch die Diskussion.

Im Unterschied zu den viel beachteten und zumindest als irritierend empfunden Solidaritätsworten der Bundesregierung wird ihre praktische nichtmilitärische Politik nur wenig wahrgenommen - die hervorragenden Beiträge zur Anti-Terror-Allianz (diplomatische Rolle vor allem in Nah- und Mittelost), die geheimdienstliche und finanzpolitische Zusammenarbeit, die federführende Rolle bei der internationalen Afghanistanhilfe, die Vorschläge zu einem politischen Prozess in Afghanistan, die Unterstützung des gemäßigteren Powell-Kurses in der US-Administration, die ganz besondere Rolle unseres Außenministers dabei. Diesem wird nirgendwo widersprochen, aber es spielt gegenüber den Kritikpunkten nur eine nachgeordnete Rolle. Diese Art der Wahrnehmung scheint besonders im Grünen Umfeld verbreitet zu sein.

(3) Die auf Militär und Krieg fixierte Wahrnehmung wird nicht nur durch die Macht der Bilder in der medialen Welt und ihrer Gewaltorientierung befördert. Sie trifft zusammen mit einer friedenspolitischen Grundorientierung, wie ich sie seit vielen Jahren bei Grünen und der Mehrzahl der Friedensbewegten erlebe: In ihr ist die Ablehnung von Krieg - vorrangig der eigenen Beteiligung - und Militär, also eine verallgemeinerte KDV eine Grundeinstellung. Wenn dieser Identitätspunkt betroffen ist, entwickeln sich reaktiv Aufmerksamkeit, Kritik, Protest.

Für die Bekämpfung, Eindämmung und Verhütung von Kriegen allgemein - sei es vor der Haustür, in Ruanda oder Afghanistan - besteht demgegenüber kaum mehr Interesse als in der allgemeinen Öffentlichkeit. Entsprechend gering ist auch das Interesse an den konkreten Anstrengungen der Bundesregierung und insbesondere der Grünen, die Fähigkeiten zur Krisenprävention und Zivilen Konfliktbearbeitung auszubauen und zu stärken.

Seit Bosnien empfinde ich schmerzhaft diese Diskrepanz zwischen verbreitetem verbalen und prinzipiellem Antimilitarismus und dem nur schwachen praktischem und politischem Pazifismus.

Eine erhebliche Rolle spielen aber auch die Nachwirkungen des Kosovokrieges: die damaligen Enttäuschungen, die nachfolgenden Delegitimierungen des NATO-Krieges und der Vertrauensverlust der rot-grünen Spitzen dadurch.

(4) Verschärft wird das durch ein jetzt auch von stern und Spiegel verbreitetes Bild der Grünen als „Friedenspartei a.D." und „Verrätern" pazifistischer Prinzipien. Unser Kollege W. liefert dafür seit Wochen immer massivere Pauschalvorlagen.

Beiseite gewischt werden dabei alle unsere Erfahrungs-, Lern- und Umorientierungsprozesse in den 90er Jahren, wo wir uns zu realen Kriegen verhalten mussten und wo rein gewaltfreie Antworten wichtig, aber nicht ausreichend sind. Ignoriert werden die Erfahrungen der „Neuen Kriege" und der Vereinten Nationen mit Friedensmissionen. Statt sich den Herausforderungen heutiger Gewaltkonflikte, ihrer Eindämmung und Verhütung zu stellen, wird ein nostalgisches „zurück zu den Wurzeln" bedient. Da wir unsere Haltung zu Krieg, Militär und Gewaltfreiheit nur immer wieder in Krisensituationen und auf der Ebene von Länderrat- und BDK-Resolutionen, nicht aber tiefer gehender mit der ganzen Partei diskutiert haben, gehen Belastungssituationen wie die jetzige schnell an unsere Substanz.

Viele uns grundsätzlich Nahestehende sind unsicher bis misstrauisch, wieweit auf die Grünen friedenspolitisch (noch) Verlass ist und wo die Grenzen für uns sind.

Das alles sind Grundströmungen, die man kurzfristig nicht ändern kann, aber unbedingt berücksichtigen muss.

(5) Zur Beurteilung des internationalen Kampfes gegen den Terrorismus allgemein und in Afghanistan im Besonderen steht uns seitens der Regierung bisher nichts Zusammenfassendes zur Verfügung: kein Konzept, keine Grundlinien, kein Aktionsplan - nur Reden und Teilberichte. Zugleich proklamiert der Kanzler einen fundamentalen Kurswechsel der Außen- und Sicherheitspolitik, ohne genauer zu sagen, wo es lang gehen soll. Das erschwert von vorneherein die Vermittlung der Regierungspolitik.

Noch viel dünner ist die Informationsgrundlage zum Krieg in Afghanistan: Unbekannt sind Strategie und Konzept der USA, angewiesen sind wir auf eigene Interpretationen. Nichts wissen wir von der militärischen Wirksamkeit der Militäreinsätze. Über die Medien erfahren wir Widersprüchliches: Nach den ersten drei Tagen meldete das Pentagon eigene Luftüberlegenheit, nach 10 Tagen den Einsatz eines langsam und tief fliegenden Artillerieflugzeugs, den Ausgang von Zielen - „schnelle Erfolge" also. Inzwischen äußern Spitzenmilitärs Überraschung über die Hartnäckigkeit der Taliban.

Um den - zum Teil unvermeidlichen - Informationsmangel eine Weile aushalten zu können, müssten die Regierungen einen Vertrauensvorschuss besitzen. Dafür gibt es gegenüber der US-Regierung keine Veranlassung, zu Kriegszeiten generell kaum Veranlassung und gegenüber der rot-grünen Regierung mehr (Joschka) oder weniger (Scharping) Veranlassung.

(6) Mehr ist hingegen zu sehen von Fehlschüssen und einer zunehmenden Zahl ziviler Opfer. Citha Maaß, swp-Südasienreferentin: „Westliche Medien haben sich offenbar einer freiwilligen Zensur unterzogen und zeigen nur begrenzt die zivilen Schäden, die in Kabul, Kandahar und anderen Städten durch die Bomben verursacht wurden." (SZ 31.10.) Auch wenn genaue Zahlen nicht bekannt sind, auch wenn die Taliban massiv Propaganda treiben, auch wenn die Luftangriffe zu 99,9 % zielgenau sein sollten - schon die zugegebenen Fehlschüsse und der Einsatz von Streubomben „reichen", vor allem aber entfalten die Bilder ihre eigene Massenwirkung, hierzulande und noch viel mehr in der islamischen Welt: Es verdichtet sich das Bild eines Krieges gegen Afghanistan, gegen ein extrem armes Land, gegen die Muslime insgesamt. Das fördert eine emotionale Solidarisierung, die viel weiter geht als es Radikalen-Demonstrationen zeigen. Der frühere CDU-Politiker und Afghanistan-Kenner Jürgen Todenhöfer warnte: „Jede Bombe, die ein afghanisches Kind tötet, treibt Bin Laden Hunderttausende neuer Sympathisanten in die Arme". (FAZ 29.10.01) Er erinnert auch an die flehentlichen Bitten seines gerade von den Taliban ermordeten Freundes Abdul Haq nach dem 11. September, auf Bombenangriffe gegen Afghanistan zu verzichten.

(7) Die humanitäre Lage wird immer prekärer. Auch wenn sie zum großen Teil durch Bürgerkrieg, Dürre und Taliban verursacht wurde, so verschärfte sie sich seit dem 11.9. und vor allem 8.10. Um ihre schlimmste Eskalation nach Winterbeginn zu verhindern, muss der Zugang in entlegene Gebiete möglich sein. Dafür ist nach überwiegenden Aussagen die Aussetzung der Luftangriffe notwendige Voraussetzung. Die bisher vorgebrachten Gegenargumente leuchten mir immer weniger ein. In Veranstaltungen waren sie nicht rüberzubringen. Wer den Sturz des Talibanregimes zur Voraussetzung einer Lösung der humanitären Katastrophe erklärt, konnte dies nur verantworten in Erwartung ihres schnellen Sturzes. Dieser Erwartung hat die US-Führung inzwischen widersprochen.

Jetzt dürfen die Möglichkeiten, durch Soforthilfe die humanitäre Not zu mildern und eine Hungerkatastrophe zu verhindern, nicht den politischen Zielen geopfert werden.

(8) Die Luftangriffe sind nicht mehr verhältnismäßig und politisch immer kontraproduktiver. Cita Maaß konstatiert, seit Beginn der Luftangriffe sei der Rückhalt für die Taliban gestärkt werden: Die USA gerieten zunehmend in die Rolle eines „äußeren Feindes" statt eines „Befreiers" von den Taliban. Die sich verschlimmernde humanitäre Lage nehme den Menschen die letzten Kräfte, sich gegen die Taliban zu erheben.

Die Luftangriffe fördern inzwischen die Polarisierung Richtung „Kampf der Kulturen". Mit Beginn des Ramadan Mitte November würde diese Tendenz verschärft.

Was anfangs völkerrechtlich legal und für die Bekämpfung terroristischer Infrastruktur notwendig erschien, wird nun von Tag zu Tag weniger verantwortbar und illegitim.

(9) Politische Konsequenzen: Ich empfehle, von grüner Seite aus keinerlei Rechtfertigung und Unterstützung mehr für die Luftangriffe zu geben! Ihre Realität läuft den Anforderungen des Länderratsbeschlusses, den wir ernst gemeint haben, zuwider. Alles andere bringt uns immer stärker in Mithaftung.

Eine Aussetzung der Luftangriffe ist aus humanitären Gründen und im Hinblick auf eine längerfristig wirksame Bekämpfung des Terrorismus unbedingt geboten.

(Dafür können wir in verschiedenen Rollen in unterschiedlicher Weise sprechen bzw. arbeiten.)

Dies empfahl inzwischen auch General a.D. Reinhardt, der als ehemaliger KFOR-Kommandeur in komplizierten Gewaltkonflikten besonders erfahren ist, bei einer Veranstaltung des I. Deutsch-Niederländischen Korps in Münster:

„Dringend warnte er die Amerikaner davor, den schneereichen afghanischen Winter zu unterschätzen sowie die Angriffe im Ramadan nicht auszusetzen. Bei einer Nicht-Berücksichtigung des Fastenmonats würden die Amerikaner in der islamischen Welt unnötig viel Kredit verspielen." (Münstersche Zeitung 31.10.01)

Ähnlich Cita Maaß: Der Ramadan biete den geeigneten Anlass für eine Feuerpause, vor allem als politische Geste. „Das schafft genügend Raum, um die Strategie zu überprüfen und die politischen zu Lasten der militärischen Komponenten aufzuwerten."

In den letzten Tagen habe ich unter reflektierten Normalbürgern und Jüngeren sehr viel Dankbarkeit gegenüber Claudias Initiative erfahren. Die Zustimmung wird von Tag zu Tag größer und drängender.

Unsere Aufgabe ist, das mit der Unterstützung der hervorragenden Politik Joschkas zusammenzubringen.

(10) Angesichts der Informationslage und des realen Kriegsverlaufs (aber auch der realen Fähigkeiten der Bundeswehr) kann ich mir eine deutsche militärische Unterstützung (im Sinne Entsendung bewaffneter Streitkräfte) nicht vorstellen. Der Spürpanzer Fuchs wäre nur im Kontext eines dauerhaften Bodeneinsatzes (etwa im Irak?, wie FAZ-Feldmeier spekuliert) einsetzbar. Vor einer Entsendung deutscher Kampftruppen (KSK, Gebirgsjäger) warnte ausdrücklich General a.D. Reinhardt („Schnapsidee").

Es fehlt bisher jede Voraussetzung für eine verantwortliche Beratung. Das vom Kanzler angedeutete Motiv „Hauptsache dabei" halte ich angesichts des völlig ungeklärten und fragwürdigen Auftragskontextes und der wahrscheinlich tödlichen Folgen für eigene Soldaten für völlig undiskutabel und unverantwortlich.

(11) Perspektiven für Afghanistan und Ordnungspolitik gegenüber „ordnungslosen Räumen": Hierzu hat die Bundesregierung gute Anstöße gegeben. Bei der Stabilisierung Afghanistans nach den Taliban wird eine Friedensmission der VN eine bedeutsame Rolle spielen. Angesichts der komplizierten Aufgabe und schwacher VN-Kräfte ist die Beauftragung der VN nur zu verantworten, wenn sie dafür auch befähigt wird. Deshalb müssen

j e t z t  die Vorbereitungen dafür beginnen. Unsere Fachtagung am 12. Oktober („Stärkung der zivilen Säulen internationaler Friedensmissionen") fand nicht nur unter Kennern und Praktikern von Friedensmissionen eine hervorragende Resonanz. Sie erbrachte auch sehe wichtige und hochaktuelle Schlussfolgerungen und Handlungsvorschläge. Die Dokumentation ist in Arbeit, die Zusammenfassung liegt in wenigen Tagen vor.

Gerade erschienen ist auch das neueste Faltblatt „Gewalt verhindern - Frieden fördern".

Mit herzlichen Grüßen

Winni Nachtwei

 


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

Tagebuch