Parlamentsrechte, militärische Integration, multilaterale Handlungsfähigkeit: Stellungnahme bei der Anhörung zur Parlamentsbeteiligung bei Auslandseinsätzen

Von: Nachtwei amDi, 16 September 2014 18:08:52 +02:00

Mehr als 20 Jahre deutsche Beteiligung an multinationalen Kriseneinsätzen, zehn Jahre Parlamentsbeteiligungsgesetz - Zeit zur selbstkritischen Überprüfung. Die Kommission "Parlamentsrechte und Auslandseinsätze" lud sieben Sachverständige zu einer öffentlichen Anhörung ein, darunter auch mich. Hier zu meiner und der Kollegen Stellungnahmen.



Stellungnahme vor der Kommission

„Parlamentsrechte bei Auslandseinsätzen“

Auf der fünften – und ersten öffentlichen -  Sitzung der Kommission zur Überprüfung und Sicherung der Parlamentsrechte bei der Mandatierung von Auslandseinsätze der Bundeswehr wurden am 11. September 2014 im Deutschen Bundestag „Think Tanks zum Stand der militärischen Integration auf der Ebene der NATO und der EU sowie der zu erwartenden Entwicklungen in diesem Bereich und deren Rückwirkungen auf das deutsche Parlamentsgesetz“ angehört. Die am 24. März 2014 gegen die Stimmen der Opposition eingesetzte Kommission wird vom ehemaligen Verteidigungsminister Volker Rühe geleitet.

Nähere Information zu den 12 Kommissionsmitgliedern, den Tagesordnungen der Sitzungen und die Statements der Sachverständigen am 11. September unter https://www.bundestag.de/bundestag/gremien18/auslandseinsaetze

Neben fünf Politikwissenschaftlern war auch ich geladen – nicht als Think Tank, sondern wegen gewisser Erfahrungen auf dem Feld: Von 1994 bis 2009 war ich an den Entscheidungsprozessen zu 70 Auslandeinsätzen in 13 Krisenregionen beteiligt, fünf davon waren politisch heiß umstritten. Im Rahmen der Einsatzkontrolle besuchte ich ca. 40 Mal Einsatzgebiete, davon Afghanistan allein 17 Mal, und machte dies in mehr als 30 Reiseberichten transparent. 2003/2004 wirkte ich unter Rot-Grün bei der Erstellung des Parlamentsbeteiligungsgesetzes mit.

Vor diesem Hintergrund hielt ich es für notwendig, wesentliche Erfahrung mit der Parlamentsbeteiligung insgesamt zu thematisieren und nicht bei dem – zweifellos wichtigen – Zusammenhang zwischen fortschreitender militärischer Verzahnung und Integration und Parlamentsrechten stehen zu bleiben. Bisher meist vernachlässigte Aspekte sind die multidimensionale, ressortübergreifende Dimension von Kriseneinsätzen und die UN-Ebene, der Informationszugang und die Wirksamkeitsorientierung (Evaluierung). In der breiteren Öffentlichkeit ist zugleich kaum bekannt, wie vielfältig, aber auch unübersichtlich inzwischen die Verzahnung und Integration der europäischen Streitkräfte in EU und NATO ist. Beispielhaft dafür steht das 1. Deutsch-Niederländische Korps in Münster, dessen Stab zu zwei Dritteln von den beiden Rahmennationen gestellt wird und dessen binationalen Unterstützungsbataillone bis zur Zug-Ebene integriert sind.

Meine zentralen Empfehlungen sind:

-Klarstellung zu den Zielen von Auslandseinsätzen im Parlamentsbeteiligungsgesetz, das bisher nur das Beteiligungsverfahren regelt;

- Übernahme der Regelung zu ständigen Hauptquartieren aus der bisherigen Begründung in den Gesetzestext; sorgfältige Abwägung zwischen nationalen Parlamentsrechten und Integrationserfordernissen bei den Fähigkeiten, wo deutsche Parlamentsbeteiligung auf ein exklusives Blockaderecht gegenüber den Verbündeten hinauslaufen würde;

- Truppen und Anteile zu schnellen Eingreifverbänden müssen dem Einzelfall-Parlamentsvorhalt unterworfen bleiben; Schnellsteinsätze „aus der Hüfte“ wären – außer bei Gefahr im Verzug – nicht verantwortbar; ein Rückholrecht nach Vorratsbeschluss ist ein Placebo;

- Für die zu erleichternde Unterstützung von UN-geführten Einsätzen sollten Mandate flexibler formuliert werden;

- Unterrichtungspflichten müssen ausdrücklich Evaluierungsberichte zu militärischen und politischen Aspekten beinhalten; nach Abschluss geheimhaltungsbedürftiger Einsätze ist eine Unterrichtung der Abgeordneten insgesamt nötig und auch möglich;

- Mandatsziele sind (ggfs. in einer Frist nach dem Startmandat) zu operationalisieren und überprüfbar zu machen – entsprechend der Forderung des Brahimi-Reports von 2000 nach klaren, glaubwürdigen und erfüllbaren Mandaten; bei Schwerpunkteinsätzen sollten in Parallelbeschlüssen die politischen, zivilen und polizeilichen Aufgaben, Kapazitäten und Ressourcen bestimmt werden (nicht im Sinne konstitutiver Zustimmung, sondern um die nichtmilitärische Handlungsfähigkeit zu stärken).

 

Winfried Nachtwei                                                                      Münster, 10. September 2014

MdB 1994-2009

Schriftliche Stellungnahme zur

Anhörung der Kommission zur Überprüfung und Sicherung der Parlamentsrechte bei der Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr am 11. September 2014

https://www.bundestag.de/bundestag/gremien18/auslandseinsaetze/oeffentlichesitzungen/-/287468

Vorbemerkung: Auslandseinsätze der Bundeswehr sind in der Regel nicht nur multinational (und streitkräftegemeinsam), sondern auch Teil eines ressortübergreifenden Krisenengagements, das „unter den Menschen“ operiert. Das hat erhebliche Implikationen für die Parlamentsbeteiligung.

Parlamentsbeteiligung geschieht durch Informationszugang, Mitsprache und Mitentscheidung und soll demokratische Legitimation schaffen, wo Einsätze zur multinationalen Krisenbewältigung in jedem Einzelfall neu begründet und gerechtfertigt werden müssen. Das Parlamentsbeteiligungsgesetz (PBG) regelt nur das Beteiligungsverfahren, nicht die Ziele und Normen von Einsätzen. Sinnvoll wäre, die Erfahrungen von 20 Jahren Parlamentsbeteiligung insgesamt auszuwerten – nicht nur im Hinblick auf die gesetzliche Regelung.[1]

1. Deutschlands sicherheitspolitische und militärische Rolle

Deutschland soll mehr internationale Verantwortung übernehmen: Bei der internationalen Kriegsverhütung und Friedenssicherung, bei der Förderung kollektiver und menschlicher Sicherheit auf europäischer und globaler Ebene. (Gemäß GG und UN-Charta Grundpflicht zur Friedenssicherung und -förderung) Hierbei muss es um die ganze Bandbreite außenpolitischen Handelns gehen – und ganz und gar nicht um eine militärfixierte Verkürzung. Nachholbedarf besteht insbesondere im Hinblick auf strategische Klarheit, die Operationalisierung der Schutzverantwortung (R2P), Fähigkeiten der ressortübergreifenden Krisenprävention und Friedenskonsolidierung.

Deutschland ist in Europa wegen seines Gewichts und der Außenwahrnehmung in einer führenden Gestaltungsrolle, die kooperativ, initiativ und solidarisch auszufüllen ist und auf dem Balkan und in Nordafghanistan seit Jahren verlässlich praktiziert und anerkannt wird. Dies gilt insbesondere auch für das Bemühen um eine zunehmende Verzahnung und Integration der europäischen Streitkräfte. Vor dem Hintergrund der Kriegsgeschichte Europas und gegenwärtiger Renationalisierungstendenzen hat die sicherheitspolitische Integration auch einen friedenspolitischen Eigenwert.

Neben EU und NATO müssen insbesondere die UN (und auch wieder die OSZE) ein zentraler Handlungsrahmen für deutsche Außen- und Sicherheitspolitik sein und immer mitgedacht werden. Vermehrte Verantwortungsübernahme muss sich in einer verstärkten personellen und materiellen Unterstützung von UN-Friedenssicherung niederschlagen. Ihre bisherige Vernachlässigung (zzt. Rang 52 der Personalsteller) ist angesichts der Bedeutung der UN-Missionen (größter Entsender von Militär- und Polizeikräften, integrierte Missionen unter politischer Leitung, Präsenz in den meisten Krisenländern, relativ höchstes Ansehen weltweit) außen- und sicherheitspolitisch kurzsichtig.

2. Trends der Verzahnung und Integration

(a) Am intensivsten ist die Integration auf den Ebenen der NATO-Kommandostrukturen und multinationalen Hauptquartiere sowie bei NATO-owned and operated forces wie dem AWACS-Verband (in Geilenkirchen mehr als ein Drittel des fliegenden und Bodenpersonals deutsch), der künftigen luftgestützten Bodenüberwachung (Alliance-Ground-Surveillance/AGS) und Führungsunterstützungsbataillonen.

Während Marine und Luftwaffe traditionell in multinationalen Großverbänden agieren, schreitet die Multinationalisierung und Integration der Heeresgroßverbände voran.

Besonders fortgeschritten ist sie wohl beim 1. Deutsch-Niederländischen Korps, wo Deutschland und die Niederlande als Framework Nations zwei Drittel des Stabes stellen bei 12 beteiligten Nationen insgesamt. Das Korps ist seit 2002 eines von insgesamt neun High Readiness Headquarters der NATO, ab 2017 Joint Task Force HQ für streitkräftegemeinsame Operationen. Die binationalen Stabsversorgungs- und Führungsunterstützungsbataillone des Corps sind bis zur Zug-Ebene integriert. Über die Stufe der deutsch-niederländischen Heereskooperation[2] kam es am 28. Mai 2013 zu einer Declaration of Intent zwischen den beiden Verteidigungsministern über eine verstärkte Kooperation der beiden Länder in der Sicherheits- und Rüstungspolitik, der Fähigkeitsentwicklung, Ausbildung und Übungen in allen Organisationsbereichen.

Verzahnung und Integration geschieht durch Spezialisierungen und Arbeitsteilungen (Air Policing im Baltikum, Patriot-Systeme, ABC-Abwehr) sowie durch Pooling (z.B. Europäisches Lufttransportkommando mit sechs Nationen) mit und ohne nationale Zugriffsrechte. In der europäischen Fähigkeitsentwicklung sind weitere Verzahnungen und Integrationsschritte beabsichtigt im Rahmen der „Multinational Approaches“ der NATO (81 Klasse-1 und 2-Projekte) und bei der EU im Rahmen von 11 Kooperationsprojekten im Rahmen von Pooling & Sharing. Deutschland hat die Führungsrolle beim Multinational Joint Headquarters ULM, beim Maritime Patrol Aircraft Pool und beim Einrichten einer Multinationalen Militärgeographischen Unterstützungsgruppe.[3] Im EU-Kontext ist Deutschland an insgesamt vier Projekten beteiligt: Luftbetankung (Führungsrolle mit Frankreich und Niederlanden), Seeraumüberwachung (Maritimes Lagebild), Gemeinsame Beschaffung zur logistischen Unterstützung der EU-Battlegroups, Hubschrauberübungsprogramm.[4]

Eine Konkretisierung erfuhr das Rahmennationen-Konzept beim NATO-Gipfel in Wales. Hier einigten sich einige NATO-Länder um Großbritannien auf ein weltweit einsetzbares „Gemeinsames Expeditionskorps“. Belgien, Dänemark, Kroatien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Polen, Tschechische Republik und Ungarn einigten sich mit Deutschland als Rahmennation auf dauerhafte militärische Zusammenarbeit u.a. in der Logistik, Führung, Aufklärung, Abwehr ballistischer Flugkörper sowie ein gemeinsames Einsatzkontingent. Eine dritte Kooperationsgruppe bildete sich um Dänemark.

(b) Unterhalb der proklamierten Wertegemeinschaft und des sicherheitspolitischen Konsenses der Grundlagendokumente ist die außen- und sicherheitspolitische Gemeinsamkeit recht unterschiedlich entwickelt: am weitesten beim „Bodenpersonal“ staatlicher Sicherheitspolitik mit ihrer z.T. vielfältigen multinationalen Praxis, wo Kooperation, gegenseitige Ergänzung, Solidarität und Abhängigkeit alltäglich erfahren werden. Unterschiedliche strategische und Militärkulturen, verbreitete nationale Sichtweisen und unterschiedliche Betroffenheit und Interessen gegenüber wechselnden Krisenlagen hemmen die Herausbildung eines breiteren und stabilen Konsens`.[5] Die Einsätze in Libyen, Mali, Zentralafrika zeigten das  beispielhaft.

(c) Ohne das Zusammenführen und Verteilen von Aufgaben, Arbeitsteilungen und komplementäre Spezialisierungen, ohne die Anlehnung kleinerer Nationen an größere Rahmennationen würde wohl die Einsatzfähigkeit von immer mehr europäischen Streitkräften zerbröseln. Insbesondere nationale Führungsfähigkeiten gehen zunehmend verloren.

Verzahnungen und Integration implizieren gegenseitige Abhängigkeiten, die aber je nach Ebene, Intensität und Fähigkeit stark variieren und die Handlungsfähigkeit im Bündnis unterschiedlich beeinflussen können.

Das Rahmennationenkonzept scheint dichter am Bedarf und an der Praxis zu sein. Als Rahmennation im Einsatz, insbesondere in Nordafghanistan, hat Deutschland mit diesem Ansatz umfassende Erfahrungen gemacht. Wo die sicherheitspolitischen und Militärkulturen so nah beieinander sind wie z.B. beim Deutsch-Niederländischen Korps, sind die Umsetzungschancen günstiger.

3. Erwartungen von Bündnispartnern

Bei Kriseneinsätzen gibt es keinen Teilnahmeautomatismus. Für jeden Einsatz muss neu ein Konsens gefunden und begründet werden. Politische Zustimmung bedeutet nicht zwingend auch aktive Teilnahme. Insider kennen die Mühen der Ebenen in Bündnissen – bei der Stellung von Truppen und Fähigkeiten für Einsätze, bei nationalen Vorbehalten, bei der Durchhaltefähigkeit. Nichtsdestoweniger ist Verlässlichkeit und Berechenbarkeit essentiell für ein Bündnis und eine selbstverständliche Erwartung gerade gegenüber größeren Verbündeten und einem Land wie Deutschland.

Mir scheint, dass die Realität und die Wahrnehmung deutscher Verlässlichkeit bei Auslandseinsätzen besser ist als der Ruf von Unzuverlässigkeit, wie er oft aus den zwei AWACS-Rückzügen (2010 und 2011) und der Libyen-Enthaltung abgeleitet wird, die von der Bundesregierung verantwortet wurden.

Von Seiten der UN gibt es seit Jahren ein hohes Interesse an Beiträgen Deutschlands und anderer europäischer Staaten zu UN-Friedensmissionen, vor allem an hochtechnisierten und spezialisierten Fähigkeiten (Lufttransport, Pioniere), auch für den Aufbau eigener UN-Fähigkeiten (z.B. Aufklärung). Viele UN-Mitglieder des Südens sehen die Vernachlässigung der UN-Missionen durch die reicheren Länder des Nordens kritisch.

Exkurs zu anderen zentralen Aspekten der Parlamentsbeteiligung

(a) Grundvoraussetzung für eine kompetente und verantwortliche konstitutive Mitbestimmung des Bundestages über Auslandseinsätze ist ein früher, verlässlicher und qualifizierter Informationszugang. Befördert durch einen parlamentarischen Hang zur Mikrokontrolle gab es selten einen quantitativen Informationsmangel. Für die Beurteilung des Einsatzerfolges notwendige Schlüsselinformationen und Evaluierungen kamen demgegenüber immer wieder zu kurz.

(b) Unzureichend blieben die Unterrichtungen über geheimhaltungsbedürftige Einsätze, wo jahrelang nicht einmal der kleine Kreis der unterrichteten Obleute die Sinnhaftigkeit der Antiterror-Operation beurteilen konnte.

(c) Die Parlamentsbeteiligung bei militärischen Auslandseinsätzen ging immer wieder mit der Vernachlässigung der zivilen und polizeilichen Komponenten eines Krisenengagements einher – in der öffentlichen Wahrnehmung und Debatte, in der Zuweisung von finanziellen und personellen Ressourcen. Beispielhaft dafür steht die über viele Jahre nur halbherzig betriebene deutsche Polizeiaufbauhilfe und schwache diplomatische Komponente in Afghanistan. Wo zivile Fähigkeiten, geschweige ressortübergreifende Führungsstrukturen, nur im Schneckengang aufwachsen, bleibt es bei der Verfügbarkeitsfalle für die Streitkräfte und einer strukturellen Militärlastigkeit von Sicherheitspolitik.[6]

(d) Über die viel besprochene Frage der schnellen Entscheidungsfähigkeit hinaus wird meist die andere Herausforderung, nämlich die der politische Durchhaltefähigkeit über die meist vielen Jahre eines Einsatzes, kaum thematisiert. Wie soll parlamentarische Einsatzbegleitung und –kontrolle verantwortlich auch auf längere Strecke erfolgen – und nicht in Routine und Abnicken versanden -, wenn im politischen Alltag Interessen und Mechanismen dem zuwider laufen?

4. Schlussfolgerungen für die Verbesserung der Parlamentsbeteiligung und multilateralen Handlungsfähigkeit

(a) Zunehmende Verzahnung und Integration könnte mit der Zeit strukturelle Beteiligungs-„Sachzwänge“ erzeugen. In Bündnissen unerlässliche Verlässlichkeit braucht deshalb zuerst außen- und sicherheitspolitische Konsensbildung. In den letzten Jahren ist aber in Deutschland eher das Gegenteil zu erleben: Die Skepsis gegenüber Auslandseinsätzen, die oftmals unterschiedslos Kriegseinsätze genannt werden, ist gewachsen. In der Frage, ob für Deutschland Krieg wieder ein Mittel der Politik sei, erfahre ich viel Durcheinander. Der vom Außenminister angestoßene Prozess „Review-2014“ bietet die Chance, die überfällige außen-, friedens- und sicherheitspolitische Kursbestimmung und Verständigung zu fördern. In den § 1 des PBG sollte die normative Zielsetzung von Auslandseinsätzen aufgenommen werden.[7]

Die Bundesregierung sollte dem Bundestag jährlich einen Bericht zur sicherheitspolitischen Lage Deutschlands vorlegen.[8] In Zeiten sprunghafter und unübersichtlicher sicherheitspolitischer Risiken und Herausforderungen ist eine solche sicherheitspolitische Orientierung notwendiger denn je.

(b) Lt. Gesetzesbegründung vom 23. März 2004 wurde die „Beteiligung von Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr an ständigen integrierten sowie multinational besetzten Stäben und Hauptquartieren der NATO und anderer Organisationen kollektiver Sicherheit (…) nicht als Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte im Sinne des Gesetzes angesehen.“ In einem Kommentar zum PBG nannte ich das im Dezember 2004 einen „Kompromiss zwischen Integration und Parlamentsvorbehalt. Würden die deutschen Anteile an ständigen Stäben und Hauptquartieren dem Parlamentsvorbehalt unterworfen (oft ein Drittel und mehr eines eingespielten Fachpersonals, das nicht schnell ersetzt werden kann), hätte einzig die Bundesrepublik ein exklusives Recht des Parlaments, Einsätze solcher Hauptquartiere zu blockieren. Dieser einseitige Parlamentsvorbehalt nur von deutscher Seite würde der Integration auf dieser Leitungsebene den Boden entziehen. Andererseits ist nicht zu bestreiten, dass Hauptquartiere das „Gehirn“ bewaffneter Einsätze sind.“[9] Da Begründungen nicht zum Wortlaut eines Gesetzes gehören, wäre es sinnvoll, diese Regelung in das Gesetz aufzunehmen. Zu berücksichtigen ist dabei, dass solche ständigen Hauptquartiere inzwischen über verlegbare Elemente verfügen.

Zwischenzeitlich zeigte sich das o.g. Spannungsverhältnis in aller Schärfe beim integrierten AWACS-Verband. Verzahnung und Integration gibt es nur bei Verlässlichkeit auf Gegenseitigkeit, wohl kaum bei einseitigen Sonderrechten. Zu prüfen und abzuwägen wäre hier, wo die Grenze des Einsatzes bewaffneter Streitkräfte zu ziehen ist, wo multilaterale und Bündnisfähigkeit tangiert oder gar infrage gestellt würde.

Auf jeden Fall müssen Truppen und Einsatzkräfte, auch Anteile an schnellen Eingreifverbänden, dem Einzelfall-Parlamentsvorbehalt unterworfen bleiben. Diese, für potenziell besonders intensive und riskante Operationen vorgesehenen Verbände aus der auf einen konkreten Einsatz bezogenen Parlamentsbeteiligung herauszunehmen, würde den Parlamentsvorbehalt im Kernbereich treffen. Vom Zeitbedarf wäre es zudem nicht nötig. Hier lassen die Regelung zu „Gefahr im Verzug“ und der Zeitbedarf für die internationale Einsatzabstimmung (incl. UN-Mandat) sowie die erwiesene Beratungsschnelligkeit des Bundestages genügend Spielraum. Eine regelmäßige sicherheitspolitische Vorausschau im Auswärtigen und Verteidigungsausschuss, ggfs. im Informationsaustausch mit Partner Parlamenten könnte die parlamentarische Entscheidungsfähigkeit verbessern.

Eine Kombination von „Vorratsbeschluss“ und Rückholrecht wäre ein Placebo. Nach aller Erfahrung geht Koalitionsdisziplin praktisch nie mit der Bereitschaft einher, gegen die eigene Regierung zu stimmen. Wer stellt schon einen Rückholantrag, der einem Misstrauensvotum gegen die eigene Regierung gleich käme!

Im Fall einer seriösen EU-Parlamentsbeteiligung ergäbe sich für die deutsche Parlamentsbeteiligung eine neue Lage.

(c) Das vereinfachte Verfahren bei Einsätzen geringer Intensität und Tragweite (§ 4 PBG) wurde 2004 mit der Absicht eingeführt, von den UN jeweils angefragte wenige Soldaten mit spezieller Qualifikation leichter in UN-Missionen entsenden zu können – ohne die Schwelle des aufwendigen Mandatsverfahrens, das oft zur Ablehnung von Anfragen geführt hatte. Diese Regelung wurde bis Ende 2013 nur viermal bei der Verlängerung von Sudan-Mandaten in Anspruch genommen, kein Mal in ihrem ursprünglichen Sinne. Zu prüfen ist, wie Mandate zur Unterstützung von UN-Missionen offener und flexibler für ad-hoc-Anfragen und Änderungen des UN-Mandats formuliert werden könnten. Wenn UN-Friedensicherung mehr von Deutschland unterstützt werden soll, sollte das durch die Bestimmungen des Parlamentsbeteiligungsgesetzes gefördert und nicht blockiert werden.

(d) Die bisher in der Gesetzesbegründung von 2004 aufgeführten Unterrichtungspflichten (jährlicher bilanzierender Gesamtbericht, Evaluierungsbericht zu militärischen und politischen Aspekten nach Einsatzende) sollten in den Gesetzestext übernommen werden. Regelmäßige Wirksamkeitsbewertungen müssen selbstverständlich sein. Bei geheimhaltungsbedürftigen Einsätzen müsste nach Abschluss eine Unterrichtung des Bundestages insgesamt möglich sein, ohne den Schutz von Personen und Operationen zu gefährden.

(e) Im Sinne der Klarheit, Glaubwürdigkeit und Erfüllbarkeit von Mandaten (Brahimi-Report 2000) und des umfassenden Ansatzes sollte die Bundesregierung bei Schwerpunkteinsätzen (ggfs. innerhalb einer Frist nach dem Startmandat) die Mandatsziele für den deutschen Beitrag operationalisieren und damit überprüfbar machen. Parallel zu den militärischen Aufgaben und Fähigkeiten sollten auch die zivilen und polizeilichen Aufgaben und Kräfte benannt und entsprechende Ressourcen bereitgestellt werden. Hiermit soll keineswegs Handlungsfreiheit der Exekutive eingeschränkt, sondern im Gegenteil angemessene Handlungsfähigkeit ermöglicht werden. Die nichtmilitärischen Komponenten sollen darüber nicht einer konstitutiven Zustimmungspflicht unterworfen werden, sondern einen angemessenen Platz in der politischen Debatte und öffentlichen Wahrnehmung bekommen.[10]

(f) Bundesregierung und Bundestag verantworten gemeinsam die Entsendung von Bundeswehrsoldaten in Auslandseinsätze. Das Parlament hat über den Antrag der Bundesregierung zu entscheiden, den diese formuliert – oft in vorheriger informeller Abstimmung zumindest in der Koalition. Wie flexibel oder eng ein Mandat formuliert wird, ob es am Bedarf eines Einsatzes und Wirkung orientiert ist oder primär an außen- wie innenpolitischen Opportunitätserwägungen, liegt wesentlich an der Bundesregierung und ihrer Initiative, Führungsbereitschaft und Überzeugungskraft. Hier täte es allen Beteiligten gut, die Empfehlungen des Brahimi-Report zu klaren, glaubwürdigen und erfüllbaren Mandaten, zur raschen und wirksamen Verlegung von Missionen etc. zu beherzigen.[11]

(g) Zivil-militärisch-polizeiliche Übungen wie „Common Effort“ bieten politischen Akteuren und Auftraggebern plastische Einblicke in die Komplexität eines Stabilisierungseinsatzes und des Zusammenwirkens im Rahmen des Comprehensive Approach. Hier werden die verschiedenen Dimensionen von Verzahnung, Integration, gegenseitiger Abhängigkeit und Stärkung konkret erfahrbar. Nachdem in der Vergangenheit die politische Seite bei diesen Übungen praktisch nicht vertreten war, bietet sich im Mai 2015 mit einer Übung des Deutsch-Niederländischen Korps in Berlin dazu eine hervorragende Gelegenheit. Den Kolleginnen und Kollegen, die fachpolitische Hauptverantwortung für die Auslandseinsätze tragen, ist eine Teilnahme herzlich zu empfehlen.

5. Gute Beispiele anderer Mitgliedsländer

Nicolai von Ondarzas Studie „Legitimatoren ohne Einfluss?“[12] gibt tiefe Einblicke in die komplexen Entscheidungsprozesse zu militärischen EU- und UN-Operationen und die Rolle Parlamente – einschließlich des EP – dabei. Er vergleicht die Parlamentsbeteiligung bei Einsatzentscheidungen für alle EU-Mitgliedsstaaten in Bezug auf Informationszugang, Mitentscheidungs- und Haushaltsrechte, sicherheitspolitische Präferenzen. Fünf EU-Staaten und das Europäische Parlament (EP) stehen exemplarisch für die ganze Spannweite parlamentarischer Beteiligungsrechte: (sehr) niedrig in Frankreich und Polen, mittel bis hoch in Spanien, (sehr) hoch in Irland, durchgängig sehr hoch in Deutschland. Ondarza widerlegt die verbreitete Annahme, eine Parlamentsbeteiligung verzögere multilaterale Entscheidungsprozesse. Er geht davon aus, dass eine stärkere Parlamentsbeteiligung eine verantwortungsvollere Sicherheits- und Verteidigungspolitik befördere.

Auf der Ebene der Unterrichtung, Operationalisierung von Zielen und der Evaluierung von Einsatzwirksamkeit möchte ich auf gute Beispiele im Kontext des Afghanistaneinsatzes von Kanada, den Niederlanden und USA verweisen.[13]

Schlussbemerkung

Für die Konsensfähigkeit einer künftigen Parlamentsbeteiligung bei Auslandseinsätzen ist von entscheidender Bedeutung

- wieweit über die sicherheitspolitische Community hinaus ein tragfähiger Konsens über den friedens- und sicherheitspolitischen Zweck und Stellenwert von Streitkräften und Auslandseinsätzen glaubhaft gemacht werden kann;

- wie ernst es dem Bundestag und seinen Fraktionen mit dem Bekenntnis zu effektivem Multilateralismus, Bündnissolidarität, europäischer Integration und UN-Solidarität ist.



[1] Zur Bilanzierung von 20 Jahren Parlamentsbeteiligung vgl. Winfried Nachtwei: „Im Auftrag“: Auslandseinsätze der Bundeswehr im politischen Prozess – 20 Jahre Parlamentsbeteiligung, Mai 2014; in der Fassung vom Dezember 2013 unter www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1273 ; Publikationsliste Berichte und Stellungnahmen von Winfried Nachtwei zu Krisengebieten (Afghanistan, Balkan, Afrika), Auslandseinsätzen und ziviler Krisenprävention unter www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1160

[2] Im Juni 2014 wurde die niederländische 11. Luftbewegliche Brigade in die deutsche Division Schnelle Kräfte (DSO) eingegliedert, die 43. Brigade soll in die 1. Panzerdivision integriert werden, die 13. Brigade wahrscheinlich bei den belgischen Streitkräften. 

[3] Beteiligt ist Deutschland an vier weiteren Projekten der Klasse I: Joint Logistics Support Group, Multinational Medical Treatment Facilities, ferngesteuerte Minenräumer auf Marschstraßen, universelle Schnittstelle für Kampflugzeuge.

[4] Vgl. Single Progress Report on the Development of EU Military Capabilities from November 2012 to October 2013, EU Military Staff, Brüssel 24. Oktober 2013

[5] Laut SOWI-Studie von 2011 gingen in der Bevölkerung von acht europäischen Ländern z.B. die Einstellungen der Bevölkerung zu militärischer Gewalt am meisten auseinander; in allen Ländern votierte eine Mehrheit für ein Mitspracherecht des Parlaments bei Auslandseinsätzen. Heiko Biehl u.a.: Strategische Kulturen in Europa. Die Bürger Europas und ihre Streitkräfte, Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr, Strausberg, September 2011

[6] Vgl. Öffentliche Sitzung des Unterausschusses Zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und vernetztes Handeln am 5. Mai 2014 im Deutschen Bundestag zu den „Lehren aus 10 Jahren Aktionsplan Zivile Krisenprävention – Wie weiter?“

[7] Mindestens die Formulierung aus der Gesetzesbegründung zu § 1, dass Einsätze „nach wie vor ausschließlich auf der Grundlage des Verfassungsrechts und des Völkerrechts“ zu erfolgen haben. Genauer könnte es heißen: Bewaffnete Streitkräfte dürfen außerhalb der Landes- und Bündnisverteidigung nur zur internationalen Friedenssicherung, Gewaltverhütung und internationalen Rechtsdurchsetzung im Dienste kollektiver Sicherheit und im Rahmen des Völkerrechts eingesetzt werden. Seit längerem befürworte ich, das Grundgesetz in diesem Sinne zu ergänzen und zu präzisieren.

[8] Neue Macht – Neue Verantwortung. Elemente einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für eine Welt im Umbruch, Stiftung Wissenschaft und Politik und German Marshall Fund oft he United States, 2013, S. 44

[9] Winfried Nachtwei: Parlamentsbeteiligungsgesetz: Stärkung oder Aufweichung des Parlamentsvorbehalts bei Auslandseinsätzen? Dezember 2004

[10] Winfried Nachtwei: Parlamentarische Begleitung und Kontrolle bei Internationalen Polizeimissionen, November 2013, www.nachtwei.de/index.php?module=articles%func=display=1256

[11] Bericht der Sachverständigengruppe für die Friedensmissionen der Vereinten Nationen, A/55/305-S/2000/809, New York 21. August 2000

[12] Nicolai von Ondarza: Legitimatoren ohne Einfluss? Nationale Parlamente in Entscheidungsprozessen zu militärischen EU- und UN-Operationen im Vergleich, Baden Baden 2012

[13] Die Quartalsberichte der kanadischen Regierung „Canada`Engagement in Afghanistan“ an das kanadische Parlament mit sechs Prioritäten, mit Benchmarks und Prozessindikatoren, wodurch die Fortentwicklung des kanadischen Engagements in der Provinz Kandahar nachvollziehbar und überprüfbar wurde.

Die Begleitung des niederländischen Engagements in der afghanischen Südprovinz Uruzgan durch das „The Liaison Office“/Kabul, das in der Bilanz „The Dutch Engagement in Uruzgan 2006-2010“ im August 2010 mündete.

Der halbjährliche Pentagon-Report „on Progress Toward Security and Stability in Afghanistan“ an den Kongress, flankiert von den Quartalsberichten des Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction an den US-Kongress seit Oktober 2008 sowie die kritischen Studien von Anthony H. Cordesman u.a. vom Center for Strategic & International Studies (CSIS)