Am Abend des 2. Juli hielt Winfried Nachtwei im Bundestag seine letzte (246.) Rede. Im vollen Plenarsaal spendeten ihm die Abgeordneten - viele stehend - besonders herzlichen Beifall. Dutzende PolitikerInnen aller Fraktionen dankten ihm persönlich, von den Grünen und Münsteraner KollegInnen über Peter Struck, Heidi Wieczorek-Zeul und Karl-Theodor zu Guttenberg bis zu Angela Merkel. Hier seine letzte Rede im Deutschen Bundestag:
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Winfried Nachtwei für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
(Beifall beim BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Winfried Nachtwei (BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der ersten Lesung vor 14 Tagen habe ich schon einiges zu den beiden folgenden Schlüsselfragen gesagt: Erstens: Ist der Einsatz von AWACS-Flugzeugen für die Schaffung von mehr Flugsicherheit notwendig? Zweitens: Führen sie zu mehr Krieg? Wichtige Fragen muss man beantworten. Meine Prüfung und weitere Informationen haben ergeben: Der Bedarf bei der Flugsicherung hat sich erhärtet.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Es gab in den letzten Jahren bei den Flugbewegungen einen Zuwachs von 25 Prozent. In den Jahren zuvor hat es zahlreiche kritische zivile Begegnungen bzw. Beinaheunfälle gegeben. Man muss feststellen, dass der Flugverkehr immer wieder unterbrochen werden muss, weil keine guten Sichtflugbedingungen herrschen. Dies ist für alle Nutzer des Luftraumes von erheblicher Bedeutung.
Ich möchte wiederholen, was ich in meiner Rede vor 14 Tagen bereits gesagt habe: Die AWACS-Flugzeuge ordnen den Luftraum für alle Nutzer; das ist ihre Fähigkeit und ihre Aufgabe. Ob mehr Luftangriffe geflogen werden und ob es mehr Ziviltote gibt, liegt nicht an den AWACS-Flugzeugen, sondern an der Strategie der ISAF und insbesondere der USA sowie an deren taktischer Umsetzung. Das ist der Knackpunkt.
(Beifall beim BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
In diesen Tagen komme ich zu einem anderen Ergebnis, als ich zum Beispiel vor einem Jahr gekommen wäre. Die Aussagen der verschiedenen Ebenen der amerikanischen Führung sind inzwischen eindeutig: A und O ist der Schutz der Bevölkerung. Wenn dieser nicht gewährleistet wird, kann man alles andere vergessen. Dies gilt inzwischen auch für die taktischen Weisungen. Überall dort, wo ein Risiko für die Bevölkerung besteht, will man keine Luft-Boden-Einsätze durchführen.
Ich mache es jetzt so, wie ich es in den letzten Jahren gemacht habe: Ich bin nach wie vor der Meinung, dass solche Fragen immer nach bestem Wissen und Gewissen geprüft werden müssen. Man darf dabei nicht auf etwas anderes Rücksicht nehmen.
(Beifall beim BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
Mein schlichtes Ergebnis lautet: Für die sehr kritische Flugsicherheit sind diese Geräte unabdingbar; denn die stationäre Flugsicherheit ist zurzeit nur lokal gewährleistet. Sie kann erst in einigen Jahren aufgebaut werden; da ist mehr Energie notwendig. Abhilfe ist aber hier und heute gefragt.
Ich komme zur Beantwortung der zweiten Frage: Die Befürchtung der Beihilfe zur Eskalation durch den Einsatz der AWACS-Flugzeuge halte ich für unbegründet.
(Beifall beim BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Von daher sind die AWACS-Flugzeuge für mich etwas anderes als die Tornados. Damals habe ich keine Zustimmung empfohlen. Jetzt werde ich mit der Mehrheit meiner Fraktion zustimmen. Andere Mitglieder meiner Fraktion werden sich aus legitimen Gründen der Stimme enthalten oder auch den Antrag ablehnen.
Dieses punktuelle Votum ändert nichts an meiner größten Beunruhigung, die Entwicklung in Afghanistan, und auch nichts an meiner großen Beunruhigung über die diesbezügliche Politik der Bundesregierung. Ihre Äußerungen - so muss ich immer wieder feststellen - sind von Selbstzufriedenheit geprägt. Offenbar ist der Ernst der Lage in Afghanistan bei der Regierung noch nicht angekommen.
(Beifall beim BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
Wo ist im achten Jahr des Afghanistan-Engagements eigentlich eine ehrliche Zwischenbilanz? Die Leute fragen zu Recht: Warum wird es immer schlechter? Da muss man eine nüchterne und ehrliche Antwort geben. Wo sind überprüfbare Zwischenziele für die deutschen Aufbauanstrengungen im Norden? Wo ist der forcierte Polizeiaufbau? Wie kann es geschehen, dass im vorigen Jahr in der Provinz Kunduz 537 afghanische Polizeistellen gestrichen wurden? Da soll man sich nicht wundern, wenn sich Aufständische in den verschiedenen Distrikten festsetzen.
(Beifall beim BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
Zusammengefasst muss ich sagen: Beim Thema Afghanistan ist bei der Bundesregierung viel zu viel Halbherzigkeit zu erkennen. Das ist gerade in der jetzigen Situation brandgefährlich.
(Beifall beim BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
Seit 1994 habe ich im Bundestag erhebliche Umbrüche in der deutschen Friedens- und Sicherheitspolitik miterlebt. Manchmal war es sehr schwierig, und es kann sein, dass die nächsten Wochen und Monate noch einmal um einiges schwieriger werden. Als umso ermutigender habe ich es erfahren, welche neuen Friedensfähigkeiten wir im Bundestag aufbauen konnten und wie vielen Menschen, Friedenspraktikern mit Herz und Verstand ich in Krisenregionen begegnen durfte.
Ich möchte ausdrücklich den verschiedenen Ressorts danken, dem Entwicklungshilfeministerium,
(Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD])
dem Innenministerium und den Polizisten, dem Außenministerium und den Diplomaten sowie dem Verteidigungsministerium und den Soldaten, die das genaue Gegenteil von dem tun, was die Wehrmacht angestellt hat. Ihnen allen gilt mein ausdrücklicher Dank!
(Beifall beim BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich danke Ihnen und euch allen für die hervorragende sowohl menschliche als auch politische Zusammenarbeit, die es immer wieder - natürlich nicht immer - gab. Ich danke meiner Fraktion für ihr Vertrauen, meinen Mitarbeiterinnen und meiner lieben Frau Angela.
Danke.
(Anhaltender Beifall beim BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN - Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollege Nachtwei, es begleiten auch Sie die guten Wünsche des gesamten Hauses in Ihren neuen Lebensabschnitt. Ich habe das heute schon mehrfach zu Kolleginnen und Kollegen gesagt und mit einigen auch darüber gesprochen, dass ich noch keine bessere Beschreibung für den Zustand gefunden habe, in dem Sie sich zukünftig wiederfinden werden. Alles, alles Gute!
(Beifall - Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir Veteranen wünschen auch euch alles Gute!)
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: