Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Winfried Nachtwei hat das Wort für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Winfried Nachtwei (BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte auf zwei Bereiche eingehen, und zwar ersÂtens auf die Einsätze in Afghanistan und zweitens auf unsere Fähigkeiten. Die Bundeskanzlerin hat heute MorÂgen zur Frage des weiteren Afghanistaneinsatzes die deutliche Position bezogen, dass es bei dem bisherigen Engagement bleiben soll und muss und dass dieses Engagement nicht erweitert wird. Das ist - das sage ich ausdrücklich - die richtige Positionierung.
(Beifall beim BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Auf der NATO-Parlamentarierversammlung vor einer Woche - das haben die Kollegin Mogg und andere beÂreits angesprochen - haben wir als deutsche ParlamentaÂrier zu spüren bekommen, welche Stimmung sich inzwiÂschen in dieser Frage aufgebaut hat. Ich glaube, in diesem Zusammenhang muss etwas klargestellt werden: Gerade diejenigen, die am lautesten waren und geäußert haben, die einen seien Tee- und Biertrinker und die anÂderen riskierten ihr Leben, haben zu denen gehört - ich habe das im Internet überprüft -, die den Irakkrieg deutÂlich mit unterstützt haben und damit Mitverantwortung dafür tragen, dass der Stabilisierungsprozess in AfghaÂnistan erheblich zurückgeworfen worden ist. Das ist der Hintergrund.
(Beifall beim BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN)
Allerdings ist der ISAF-Einsatz - das wurde schon mehrfach richtigerweise festgestellt - unter „anders schwierigen" Bedingungen ein ausgesprochen kluger und relativ wirksamer Einsatz einschließlich des UmÂgangs mit den auch dort vorhandenen Risiken und BeÂdrohungen. Die Obleute, die vor kurzem dort waren, haÂben selber erlebt, dass es immer wieder zu Ãœberfällen beispielsweise mit Panzerfäusten kommt. Man kann nur von Glück sagen, dass die dort nicht so gut zielen; aber riskant ist es trotzdem.
Falsch ist auf jeden Fall die Fixierung auf die ErwarÂtung, dass die Probleme in Afghanistan vor allem mit zuÂnehmend mehr Soldaten zu lösen seien. Es sei daran erinnert, dass die Sowjets am Ende 120 000 Soldaten in Afghanistan stehen hatten und trotzdem verloren haben. Es kommt also vor allem auf andere, politische HauptÂaufgaben an. Ich nenne einige.
Erstens. Die akute Hungerkrise vor allem im Süden Afghanistans muss schnell überwunden werden.
(Beifall beim BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN)
Zweitens. Es muss eine Wende bei der DrogenbekämpÂfung geben. Sie muss einheitlich erfolgen und langfristig angelegt sein. Hier herrscht zurzeit ein ziemliches Durcheinander in der Realität. Drittens. Beim Aufbau von Polizei und Justiz muss es einen Push geben. Beim Justizausbau sieht es bislang ziemlich mager aus.
Schließlich muss es - darüber haben wir bereits vor 14 Tagen gesprochen; allerdings sind wir zu unterÂschiedlichen Ergebnissen gekommen - eine KurskorrekÂtur bei der Antiterroroperation „Enduring Freedom" und - nicht unwichtig im Hinblick auf den NATO-Gipfel - eine Zusammenarbeit zwischen NATO und Europäischer Union geben. Außenstehende können gar nicht glauben, dass solche wichtigen, sicherheitspolitisch relevanten InÂstitutionen in der Realität eher aneinander vorbei arbeiÂten.
(Beifall beim BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN)
Hier muss angepackt werden und - das muss man deutÂlich sagen - muss die Bundesregierung einiges nachleÂgen. Selbstbewusstsein ist zwar richtig, aber zur SelbstÂbeweihräucherung - diese Tendenz habe ich in der heutigen Diskussion deutlich gespürt - haben wir keine Veranlassung. Auch mit der richtigen Position - diese hat die Bundeskanzlerin heute Morgen formuliert - werÂden wir dem wachsenden Druck nur standhalten können, wenn wir unsere Hausaufgaben nachholen und beim PoÂlizeiaufbau quantitativ enorm nachlegen. Gute Qualität allein reicht auf keinen Fall.
(Beifall beim BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN)
Afghanistan, der Balkan und Nahost sind schlagende Beweise für die Notwendigkeit umfassender und vorÂbeugender Sicherheit. Herr Minister, Sie betonen seit Monaten in diesem Zusammenhang den Begriff der verÂnetzten Sicherheit. Das Gebot des Zusammenwirkens bei Krisenbewältigung und Friedenskonsolidierung liegt auf der Hand. Aber wie sieht es damit in der WirklichÂkeit aus? Die Wirklichkeit steht in sehr großem GegenÂsatz zu dem, was alle für selbstverständlich halten. Was ist hier zu tun, damit man weiterkommt?
Erstens. Es muss Klarheit darüber geschaffen werden, was Militär, Polizei, Diplomaten und zivile Experten jeÂweils am besten leisten können, wenn es um bestimmte Bedrohungen, Risiken und Chancen geht. Mit dem Weißbuch ist die Chance vertan worden, hier Klarheit zu schaffen.
Zweitens. Insgesamt ist - entschuldigen Sie den umÂständlichen Begriff; aber mir ist noch kein besserer einÂgefallen - ein fähigkeiten- und ressortübergreifender Ansatz notwendig. Wir sollten als Erstes mit der AusbilÂdung der entsprechenden Kräfte beginnen. Wir haben bereits gute Ansätze: Zentrum für Internationale FrieÂdenseinsätze, Bundesakademie für Sicherheitspolitik soÂwie das UNO-Ausbildungszentrum der Bundeswehr. Diese Ansätze müssen ausgebaut werden. Kollege Kahrs, Sie haben schon angesprochen, dass es wahrhafÂtig nicht nur um Auslandseinsätze, sondern um KrisenÂengagements geht; das ist das Entscheidende. Daher muss von Anfang an eine entsprechende Planung und Organisation vorhanden sein. Es reicht nicht, wenn man sich erst mit der Zeit zusammenrauft!
Drittens schließlich - das ist ganz entscheidend - beÂdarf es ausgewogener Fähigkeiten in den verschiedenen Bereichen. Es darf nicht so sein, dass die Polizei und die zivilen Experten dem Militär, das einen natürlichen Startvorteil hat - dort gibt es natürlich eine schnelle perÂsonelle, finanzielle und materielle Verfügbarkeit -, hinÂterherhoppeln. Eine solche Verfügbarkeit erreicht man, wie im militärischen Bereich, nur mit Planzielen: Was wollen wir im nächsten und im übernächsten Jahr haben, was bis zum Jahr 2010 erreichen? Auf der EU-Ebene gibt es das schon. Das ist von ganz entscheidender BeÂdeutung und eine Hausaufgabe für das AA, für das BMZ und für das BMI.
Darüber hinaus muss die Ressourcenausstattung ausÂgewogener werden - auch hier sind die zivilen Bereiche im Rückstand - und ist eine Transformation der sicherÂheitspolitischen Strukturen insgesamt notwendig. Das Kanzleramt ist aufseiten der Exekutive viel stärker geÂfordert; die Ressorts sind, wie wir seit Jahrzehnten wisÂsen, mit der Einigung untereinander überfordert.
Auch wir im Parlament müssen uns gehörig anstrenÂgen. Es fragt sich, ob sich diese Notwendigkeiten in eiÂner zureichenden Haushaltsausstattung niederschlagen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Jetzt gibt es die Notwendigkeit, dass Sie zum Ende kommen.
Winfried Nachtwei (BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN):
Dann überschlage ich das und sage den Kolleginnen und Kollegen aus dem Haushaltsausschuss persönlich, welche Chance bei der strukturellen Krisenvorbeugung vertan worden ist.
Noch ein letzter Gedanke und damit komme ich zum Schluss: Aus den Auslandseinsätzen mussten wir lernen, dass wir Zeit und Geduld brauchen. In Afghanistan erÂfahren wir aber zugleich, dass in der Vergangenheit schon viel Zeit verloren wurde und die Zeit jetzt drängt. Es ist höchste Zeit!
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das stimmt. Die Zeit drängt und Sie müssen wirklich zum Schluss kommen.
(Heiterkeit)
Winfried Nachtwei (BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN):
Das langsame Lernen, das wir uns hier im Inland anÂgewöhnt haben, können wir uns bei solchen Auslands-einsätzen nicht mehr erlauben. Wir brauchen nicht nur einen langen Atem, sondern inzwischen auch eine konÂstruktive Ungeduld.
Danke schön.
(Beifall beim BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das war jetzt eine echte Probe für meine konstruktive Ungeduld.
Das Wort hat der Kollege Bernd Siebert von der CDU/CSU-Fraktion.
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: