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Gespannte Ruhe: Kosovo nach der Unabhängigkeitserklärung

Veröffentlicht von: Webmaster am 13. Mai 2008 10:22:21 +01:00 (84941 Aufrufe)
Der folgende, von Winfried Nachtwei verfasste Bericht "Gespannte Ruhe: Kosovo nach der Unabhängigkeitserklärung" von seiner Reise in das Kosovo Anfang April gibt einige interessante Einblicke:

Gespannte Ruhe: Kosovo nach der Unabhängigkeitserklärung

Winfried Nachtwei, MdB, 4/08

Zusammen mit den Obleuten des Verteidigungsausschusses besuchte ich am 3./4. April 2008 den Kosovo. Vorher hatten wir politische Gespräche in Ankara und Istanbul geführt.

Ziel der Reise war, die Situation und Perspektiven nach der international umstrittenen Unabhängigkeitserklärung vom 17. Februar zu erkunden. Gesprächspartner waren in Pristina Präsident Dr. Fatmir Sejdiu, Parlamentspräsident Jakup Krasniqi und Mitglieder des Ausschusses für Inneres und Sicherheit, der stellvertretende Premierminister Hajredin Kuci, der Sonderbeauftragte des UN-General-sekretärs Dr. Joachim Rücker, der stellvertretende Kommandeur KFOR Generalmajor Gerhard Stelz, der neue deutsche Botschafter Hans-Dieter Steinbach, Vertreter des International Civilian Office/ICO EU Special Representative Preparation Team, der Leiter des deutschen Polizei-Kontingents bei UNMIK und der künftige Leiter der EULEX-Polizei; in Prizren der bisherige und der künftige Kommandeur des Dt. Einsatzkontingents KFOR, die Brigadegenerale Robert Bund und Wilhelm Grün plus Stab, der Kommandeur des Einsatzbataillons, Oberstleutnant Prill plus Stab sowie Soldaten aller Dienstgrade.

Für mich war es der 9. Kosovo-Besuch seit 1999. Die fast jährlichen Besuche ermöglichen Vergleiche und viele persönliche Wiederbegegnungen: Wo gibt es positive Entwicklungen, wo kritische, wo Stagnation? Inwieweit haben die internationalen Akteure aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt?

Eine Schlüsselerfahrung bleibt der Kosovo-Besuch vom März 2004, als Kollegin Silke Stokar und ich vor Ort die Startphase der Märzunruhen miterlebten. Damals brachen binnen weniger Stunden landesweit organisierte gewalttätige Demonstrationen los, serbische Klöster und Kirchen wurden attackiert, UNMIK und KFOR verloren zeitweilig die Kontrolle. Polizisten verglichen das mit einem Szenario, wenn in Deutschland an 20 Orten zeitgleich Demo-Ausnahmezustände wie bei dem früheren Kreuzberger 1. Mai stattfinden würden.

Zeitgleich mit uns bereisen zwei weitere deutsche Delegation den Kosovo: drei KollegInnen des Haushaltsausschusses des Bundestages - darunter Grünen Kollege Alex Bonde. Diese besuchten auch Mitrovica und widmeten sich in besonderer Weise dem deutschen Polizeikontingent bei UNMIK. Zweitens das Sicherheitspolitische Seminar der Bundesakademie für Sicherheitspolitik/BAKS, bei dem ich einer Woche später über die Beteiligung des Parlaments an internationaler Krisenbewältigung zu referieren hatte.

Zusammenfassung:

Die Ausschreitungen am 17. März 2008 zeigten eine neue „Qualität" der Gewalt. Die Wochen um die Wahlen in Serbien (11. Mai) und das Inkrafttreten der Kosovo-Verfassung (15. Juni) sind hochkritisch, die Unsicherheitsfaktoren erheblich. Die Staatengemeinschaft, angefangen bei den UN, ist in ihrer Handlungsfähigkeit mangels Einigkeit und Kapazitäten (schrumpfende UNMIK, gebremste EULEX) stark beeinträchtigt.

Nachdem die kosovo-albanische Seite seit Monaten eine bemerkenswerte Besonnenheit zeigte, hängt es nun entscheidend davon ab, wieweit auf serbischer Seite Gewaltbefürworter oder Verfechter einer gewaltlosen Konfliktlösung das Sagen haben.

Es kommt jetzt darauf an, letztere nach Kräften zu stärken - und zugleich auf die Eindämmung schlimmsten Entwicklungen vorbereitet zu sein.

Rahmenbedingungen

Die Rahmenprobleme scheinen nahezu unverändert: schwache Wirtschaft, hohe Arbeitslosigkeit, ernste Energieprobleme (bis zu 8 Stunden Stromabschaltungen/Tag), schlechte Infrastruktur, zugleich die jüngste Bevölkerung Europas und enorme Erwartungen. Ein Drittel der Importe gehen über serbisch-kosovarische Übergänge. Während es anderswo Territorien mit Organisierter Kriminalität gebe, könne man hier von „Organisierter Kriminalität mit Territorium" sprechen.

Von den ca. 2,5 Mio. Einwohnern sind ca. 10% Nichtalbaner. Von den ungefähr 120.000 Kosovo-Serben leben ungefähr 80.000 in Enklaven außerhalb des Nordens. Belgrad habe erheblich in die Gebiete der serbischen Gemeinschaft investiert, in Schulwesen, Gesundheitswesen, Altersversorgung. Zum Teil soll es den Menschen in den serbischen Enklaven besser gehen als in kosovo-albanischen Wohngebieten. Dahinter stehe das serbische Interesse, die Serben im Kosovo zu halten. Bürgermeister im Norden verfügen über kleine Privattruppen von 100, 200 gut ausgebildeten und organisierten Männern. Serbische Minister können ungehindert serbische Enklaven besuchen und sogar „aufwiegelnde Reden" halten. Diese funktionale Teilung und Parallelstrukturen bestehen schon seit Jahren und können von niemandem kurzfristig überwunden werden.

Zzt. verhalte sich die albanische Bevölkerung sehr diszipliniert, man arrangiere sich mit den serbischen Bevölkerungsteilen. Im Unterschied zu den früheren Jahren spiele interethnische Gewalt eine untergeordnete Rolle und sei ein Nahschutz für Angehörige serbischer Minderheiten nicht mehr nötig - ausgenommen symbolträchtige Orte wie Klöster, deren wenige Insassen mit einem so richtigen wie absurd erscheinenden Aufwand geschützt werden. Insgesamt seien die Enklaven aber nur dank der KFOR-Präsenz zu halten. Viele Serben sagen: „Wir bleiben im Land nur wegen KFOR".

Sicherheitslage

Verschiedene politische Ereignisse mit Risikopotenzial verliefen unspektakulär: So die Vorlage des Troika-Berichts am 10. Dezember 2007, die Parlamentswahlen am 19. November 2007 im Kosovo, die serbische Präsidentschaftswahl.

Die „Co-ordinated Declaration of Independence" am 17. Februar 2008 verlief in fröhlicher und gelöster Stimmung. Die kosovo-albanische Führung inszenierte das lang ersehnte Ereignis betont zurückhaltend. In Prizren waren bis zu 5.000 Menschen auf der Straße. KFOR hatte bewusst aus den März-Unruhen 2004 gelernt: enge Kooperation mit UNMIK und KPS (Kosovo Police Service); Vorausverlegung in „Foward Assembly Areas", um Einschließungen vorzubeugen, Informationskampagnen und Ankündigung der eigenen Reaktionsweise bei Gewalt (adressiert ausdrücklich an Nichtgewaltbereite); schrittweise Absenkung der Bereitschaftsgrade bis auf 30 Minuten; Reservekräfte. Zusätzlich beruhigend wirkte wohl auch die Temperatur von -15° C.

Anders war die Lageentwicklung im Norden. Dort wurden am 19. Februar die Grenzstation Gate 1 und DOG 31 niedergebrannt, am 21.2. gab es Ausschreitungen (Steinwürfe, brennende Reifen) am Gate 3. Sie hörten auf, als KFOR anrückte.

Am 14. März wurde das Gericht von ehemaligen Justizangestellten in Nord-Mitrovica besetzt. Bei einem Vermittlungsgespräch zwischen UNMIK und dem für Kosovo zuständigen serbischen Minister verweigerte dieser ein Einwirken auf die Besetzer. UNMIK erfuhr, dass für den 17. März auch die Besetzung der Polizeistation und des Gefängnisses beabsichtigt war. Damit wäre das UN-Mandat für Nord-Kosovo erledigt gewesen. Um dem zuvor zu kommen, wurde das Gericht am Morgen des 17. März geräumt. Nachdem das ohne Widerstand geschafft war, entwickelten sich Ausschreitungen, wie sie das UN-Protektorat Kosovo noch nicht erlebt hatte. Erstmalig wurden tödliche Waffen (Handfeuerwaffen, Splitterhandgranaten) auch gegen KFOR eingesetzt. 47 Personen wurden leicht verletzt (22 KFOR, 25 UNMIK Polizei), 4 schwer (2 UNMIK Polizei, 2 KFOR) schwer verletzt. Ein ukrainischer UNMIK-Polizist verblutete an 50 Splittern. Obwohl KFOR inzwischen breit auf Crowd + Riot Control (CRC) eingestellt ist - mit solcher Art Gewalt hatte man nicht gerechnet.

Wir sehen ein internes Video der Ausschreitungen, die offenkundig vorbereitet und organisiert waren. Etliche Gewalttäter werden identifiziert: Es sind Angehörige des serbischen Innenministeriums (MUP)!!!

Der 17. März war übrigens der Jahrestag des Beginns der Märzunruhen von 2004, eine Woche vor dem Jahrestag des Beginns des NATO-Luftkrieges am 24. März 1999.

Ein taktisches Versäumnis war, dass KFOR nicht über die geplante Räumung informiert worden war und unmittelbar nicht genug Fahrzeuge zum Abtransport der 53 serbischen Besetzer bereitstanden.

Im Unterschied zu früheren Gewalteskalationen im Kosovo, wo Einzelereignisse schnell zu einem Flächenbrand führen konnten, kam es dieses Mal nicht zu einem „spill over". Die kosovo-albanische Bevölkerung blieb ruhig. Dazu wird wesentlich die albanische Führung beigetragen haben.

Gewaltfreier Protest gegen die Unabhängigkeit: Von ca. 800 serbischen KPS-Angehörigen sei ca. die Hälfte dem Dienst ferngeblieben. Sie seien vom Belgrad unter Druck gesetzt, ihre Gehaltskonten seien geschlossen worden. Die albanische Seite sei damit sensibel umgegangen und bemühe sich um die Rückkehr ihrer serbischen Kollegen: Das Fernbleiben werde als Krankheit bewertet und eine Barauszahlung des Solds ermöglicht. Zivilen Ungehorsam gab es auch bei der Justiz, der Eisenbahn und der Regionalverwaltung.

Täglich um 12.44 Uhr kommen Studierende an der Ibar-Brücke in Mitrovica zusammen, um friedlich gegen die Unabhängigkeit zu demonstrieren.

Warnung!

Für den Fall der Festnahme von Gewalttätern, der Wiederherstellung der Zollhoheit an den Grenzübergängen im Norden oder die Ankunft von EULEX-Personal kündigte die serbische Seite erneut Gewalt an. Das gilt als glaubwürdig. Deutsche KFOR-Offiziere betonen überaus deutlich, dass KFOR - schon aus Gründen der Selbstverteidigung - dann Waffen gegen Gewalttäter einsetzen würde. Verkompliziert werde es dadurch, dass bei Ausschreitungen gezielt Frauen und Kinder „nach vorne" geschickt und die internationale Presse dazu eingeladen würde. Man stellt sich ganz offensichtlich auf eine neue „Qualität" von Auseinandersetzungen ein - eingeschlossen das Risiko „hässlicher Bilder".

KFOR steht nach KPS und UNMIK-Police eigentlich in der „3. Reihe". Angesichts der Reduzierung der UNMIK Special-Police-Units komme KFOR künftig schneller in die 1. Reihe.

Dabei wären deutsche KFOR-Soldaten dann erheblich involviert: Mehr als 50% der deutschen Einsatzkräfte im Kosovo sind zzt. im Norden stationiert: die 2. Kompanie des dt. Einsatzbataillons in Camp „Nothing Hill" sowie das ORF(Operational Reserve Force)-Bataillon, dessen Einsatz im Kosovo wegen der Lageverschärfung um 6 Wochen bis Ende Mai verlängert wurde. (Das ORF-Btl war vom 4.-14.3. in den Kosovo verlegt worden und sollte bis zum 23.3. wieder zurück in Deutschland sein.) Das ORF-Btl ist südlich und östlich Mitrovoca stationiert.

Deutsches Einsatzkontingent

Von den insgesamt ca. 16.000 KFOR-Soldaten stellt Deutschland für KFOR ca. 2.700 dt. Soldaten (19. Einsatzkontingent), davon 390 Einsatzbataillon und 512 ORF Btl, zu 55% aus Uffzen, 28% Mannschaften und 16% Offiziere. Die Soldaten kommen aus mehr als 250 Standorten.

Leitbrigade ist die PzBrig 12 (Weiden), die zugleich auch Kräfte für ISAF stellt. Das Einsatzbataillon wird im Wesentlichen vom PzGrenBtl 112 in Regen gestellt, das inzwischen zum 5. Mal im Kosovo ist (1999, 2004, 2005, 2006) und damit über große Erfahrungskontinuität verfügt. Vom Bataillon sind 367 im Kosovo und 509 am Heimatstandort.

Die Stehzeiten sind inzwischen richtigerweise flexibilisiert: für die Truppe gelten weiterhin vier Monate, für Stäbe, CIMIC etc. 6 Monate plus, für den Kommandeur 12 Monate. Am 6. April übernimmt General Grün das Kommando von General Bund.

KFOR ist in fünf Multinational Task Forces (MNTF) untergliedert. Das Bundeswehrkontingent gehört traditionell schwerpunktmäßig zur MNTF South (ca. 4.000), die derzeit von einem türkischen General geführt wird und zu der sieben Nationen (Schweiz/172, Georgien/182, Türkei/741, Österreich/417, Azerbeidschan/34, Bulgarie/32) beitragen. Ein Handicap des türkischen Kontingents ist, dass es nur im eigenen Verantwortungsbereich (im Wesentlichen zum Schutz von Türken und Goranern) eingesetzt werden darf und der Kommandeur stark weisungsgebunden gegenüber Ankara ist.

Die Area of Responsibility der MNTF S erstreckt sich über 84 km Nord Süd und 42 km West Ost und hat ca. 500.000 Einwohner, darunter nur 581 Kosovo-Serben.

In 52 Tagen wurden 1.161 Patrouillen und 592 Tactical Checkpoints durchgeführt. Bei den ca. 2.100 Kfz-Kontrollen und ca. 6.700 überprüften Personen wurden keine Waffen gefunden.

Ein Offizier konstatiert deutliche Unterschiede gegenüber seinem letzten Kosovo-Einsatz in 2004: Die Kosovo-Albaner verhielten sich jetzt viel gelassener und gingen nicht auf Provokationen ein. Man wisse, was ein Vorgehen gegen Minderheiten bedeuten würde.

Zur Zusammenarbeit mit der KPS heißt es: Bei der Übergabe seit die KPS als korrupt und unfähig geschildert worden. Das gelte so nicht mehr. Überhaupt gebe es längst nicht eine solche Bestechlichkeit wie in Afghanistan. Professionalität und Ansehen der KPS würden sich von Monat zu Monat verbessern.

Im Sommerhalbjahr sind ein Dauerthema die im Unterschied zu den Containern nicht klimatisierten Feldhäuser. Wo sich Räume und Matratzen bis 40° aufheizen, da ist Erholung nicht möglich.

Politische Perspektiven

Der neue EU-Sonderbeauftragte Pieter Feith stimmte gerade dem Verfassungsentwurf zu. Am 15. Juni soll die neue Verfassung des Kosovo in Kraft treten. Dann müsse die KOS-Regierung die Vorgaben des Ahtisaari-Plans umsetzen. Die Rechtsstaatlichkeitsmission EULEX soll die UNMIK-Aufgaben im Bereich Rechtsstaatlichkeit und Polizei übernehmen und neben Beobachtung und Beratung auch begrenzte exekutive Befugnisse in den Bereichen schwerwiegende und organisierte Kriminalität, Justizvollzug, Kriegsverbrechen, Korruption, Grenzkontrolle haben. EULEX soll 1.829 Personen umfassen, davon 1.400 Polizisten (460 in geschlossenen Einheiten), 225 Justizpersonal, 66 Verwaltungs- und 26 Zollexperten. EULEX steht vor zwei Riesenproblemen:

(a) Der Übergang von UNMIK zu EULEX: Während die EU von der Möglichkeit ausgehe, Infrastruktur und Logistik von UNMIK übernehmen zu können, betone die UN-Zentrale in New York die Neutralität von UNMIK. Die fertigen Übergangspläne könnten deshalb nicht umgesetzt werden. UNMIK sei blockiert und könne nur reagieren. Die UNMIK-Säule IV (Wirtschaft) ende am 30.6., dann übernähme die EU-Kommission. Auf jeden Fall soll eine „Restpräsenz" der UN bleiben.

(b) Die fehlende Akzeptanz von EULEX auf serbischer Seite. EULEX gilt als illegal. Besprechungen unter Beteiligung des EU Preparation Teams werden boykottiert. EULEX könnte nur mit KFOR-Schutz nach Norden - das aber würde die Mission ad absurdum führen. Der Schlüssel liegt bei der Regierung in Belgrad, die zumindest für eine Duldung von EULEX sorgen müsste.

Das alles behindert den Aufwuchs von EULEX nach Plan.

Insgesamt gab es vier politische Optionen: Annahme des Ahtisaari-Plans; „kontrollierte Unabhängigkeit" in Nähe des Ahtisaari-Plans, „wilde Unabhängigkeit", Durchwursteln. Ohne eine neue Sicherheitsratsresolution gebe es nur schlechte Optionen.

Auf der anderen Seite habe die EU in Belgrad noch die relativ besten Zugänge.

Meine Frage, ob es auch bei westlichen Mitgliedern der Staatengemeinschaft eine verborgene Agenda zum Kosovo gebe (Teilung), wird wohl als Schlüsselfrage gewertet, aber nicht klar beantwortet.

Schlüsseldaten sind die Wahlen in Serbien am 11. Mai und das Inkrafttreten der Verfassung am 15. Juni.

Das junge Parlament hat inzwischen 28 Gesetze zur Umsetzung des Ahtisaari-Plans verabschiedet, bis Mitte Juni stehen weitere 15 an. Die albanische Parlamentsmehrheit wolle den Minderheiten ein gutes Angebot machen. Die serbischen Abgeordneten arbeiten im Parlamentspräsidium und in den Ausschüssen mit. Nachdem das Unterstützungsprojekt des Bundestages abgeschlossen sei, benötige man weitere Hilfe.

Unter Bildern von Ex-Präsident Rugova mit dem Papst und Mutter Teresa betont Präsident Dr. Sejdiu: „Wir haben uns für Frieden entschlossen. Wir wollen, dass alle zu einem normalen Leben zurückkehren können." Er besuche oft serbische Familien und habe Serben hier empfangen. Er sei nicht gegen friedliche Proteste. Aber die Verhandlungen seien abgeschlossen.

Der junge und sehr präsente stellvertretende Ministerpräsident Hajredin Kuci empfängt uns in einem neuen Sitzungssaal mit modernster Konferenztechnik. Nach einem „Gelöbnis" zu Demokratie und demokratischer Staatengemeinschaft, zu Kooperation + Integration statt Konflikten betont er: „Wir erwarten Ihre Hilfe, Kritik und Empfehlungen. Sie werden es nicht bereuen, dass Sie uns unterstützt haben."

In den nächsten 3-5 Jahren werden Kosovo Security Forces (KSF) aufgebaut. Ihre 2.500 Aktiven und 800 Reservisten werden nach strengen Kriterien ausgewählt. Aus dem Kosovo Protection Corps, der Auffangorganisation für viele Ex-UCK-Kämpfer zum Zwecke des Katastrophenschutzes, sollen nur 800-1.000 Mann übernommen werden. Der Rest der 3.500 soll abgefunden werden.

Freispruch des ehemaligen UCK-Führers und Ex-Ministerpräsidenten Ramush Haradinaj vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag vom Vorwurf der Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Als wir uns per Hubschrauber dem Flughafen Pristina nähern, landet unter uns gerade die Austrian Airlines Maschine mit Haradinaj. Er wird von einem großen Medien- und Demonstrantenaufgebot empfangen. Die Lage ist heikel, weil sich an dem Freispruch krass die Geister scheiden. Die serbische Seite wertet ihn als Bestätigung der eigenen Opfererfahrung: „Von der Internationalen Gemeinschaft erfahren wir nur Unrecht". Es ist ein Freispruch aus einem ganz speziellen Mangel an Beweisen: vier Zeugen wurden umgebracht und sogar auch ein ermittelnder Polizist. Es besteht der Verdacht auf Protektion von höchster Ebene. Haradinaj galt bei KFOR und UN als verlässlicher Ordnungsfaktor. Ein solcher Verfahrensausgang läuft allen Bemühungen zuwider, im Kosovo die Herrschaft des Rechts zu verankern.

Flüchtige Eindrücke

In Pristina ist das große Gebäude der UNMIK-Polizei inzwischen an die KPS übergeben. Die Hauptstraße Boulevardi Nena Tereze ist zu einer großzügigen Fußgängerzone geworden. Am Denkmal für den UCK-Kämpfer treffen die politischen „Traditionslinien" zusammen: Schräg gegenüber hängt ein Großposter mit Ibrahim Rugova, dem langjährigen Führer des gewaltfreien kosovarischen Widerstandes. An einige Hauswände sind Absagen an UNMIK und EULEX gesprayt.

Am Flughafen freudige Wiederbegegnung mit einem Beamten vom German Police Support Team, den ich zuletzt im heißen März 2004 getroffen hatte.

In der Zeitung des Forum Ziviler Friedensdienst „Frieden braucht Fachleute" 1/2008 berichtet die bisherige Regionalkoordinatorin für den Westlichen Balkan, Sarah Degen, von der Plattform von Friedensorganisationen „ProPeace" im Kosovo, die auf beiden Seiten für Gewaltfreiheit haben. In Nord-Mitrovica wurde zwischen den Fronten vermittelt.

Rückblick

25.-28. Juni 2007 Besuch der Obleute des Verteidigungsausschusses in Kosovo und Bosnien-Herzegowina, an dem aber nur je ein Vertreter von SPD, Linksfraktion und Grünen teilnahm.

In Pristina Gespräche mit dem Leiter des Dt. Verbindungsbüros Eugen Wollfahrt, Vertretern des dt. Kontingents bei der UNMIK-Police, dem Kommandeur KFOR Generalleutnant Kather, dem Präsidenten des Kosovo, Dr. Sejduk, dem Parlamentspräsidium, dem Sonderbeauftragten des VN-General-sekretärs Rücker, dem OSZE-Vertreter; in Prizren Gespräche mit dem Kommandeur des 17. Dt. Einsatzkontingents KFOR, Brigadegeneral Bund, und seinem Stab, mit dem Kommandeur der Multinationalen Brigade Süd, dem türkischen Brigadegeneral Tarcin, sowie Einweisung in das Schutzkonzept Novake und Besuch der Heeresflieger (Hubschrauber) in Toplicane.

Angesichts der immer wieder enttäuschten Hoffnungen auf eine politische Lösung/Unabhängigkeit sei das Glaubwürdigkeitskapital der Internationalen Gemeinschaft wie auch der politischen Klasse bei den Kosovoalbanern fast aufgebraucht. Eine Stimmung wachse, dass es „Zeit wird, die Dinge in die eigenen Hände zu nehmen." Die Lage sei ruhig, aber nicht stabil und nicht vorhersehbar. Wenn es nicht bald eine Perspektive gebe, dann sei eine ganz neue Lage zu befürchten. KFOR sei ganz anders als 2004 auf Unruhen vorbereitet: von der Kommunikations- und Dialogstrategie („walk + talk") und interethnische Verständigungs-PR über gemeinsame Patrouillen von KFOR mit serbischen, mazedonischen, albanischen und montenegrinischen Sicherheitskräften bis zur gemeinsamen Führung, Ausstattung, Ausbildung, Luftbeweglichkeit und der Befreiung von nationalen Vorbehalten. In der serbischen Enklave Novake führt uns KFOR einen Schutzeinsatz gegen „anrückende gewaltbereite Demonstranten" vor. Trotzdem: Nicht jede Lage sei beherrschbar. Und eine kosovarische Unabhängigkeitserklärung, die unilateral von einem KFOR-Mitglied unterstützt würde, sei ein Super-GAU. Damit verlören UNMIK und KFOR ihre völkerrechtliche Grundlage und Handlungsmöglichkeit.

Erschwerend kommt hinzu, dass UNMIK personell schwächer wird. In Erwartung des absehbaren Endes von UNMIK bewerben sich erfahrene MitarbeiterInnen auf andere VN-Posten. Die „3. Reihe" rückt nach vorne. Der Kosovo Police Service (KPS) gehört zu den wenigen Erfolgsgeschichten des Statebuilding im Kosovo. Ihre Grenzen sind bei der Organisierten Kriminalität.

Ãœber UNMIK erhalten wir eine beeindruckende 12-seitige Liste mit Minderheitenprojekten der kosovarischen Regierung.

Die nächsten Monate werden besonders heikel und explosiv. Mit Deutschen an der Spitze von UNMIK, KFOR und OSZE sowie der Spezialisierten UNMIK-Einheiten, der Abteilung Organisierte Kriminalität, der Grenzpolizei und des UNMIK-Police-Stabes ist die Bundesrepublik ganz unmittelbar in besonderer Verantwortung.

„Wie verhält sich die Bundesregierung bei einseitiger Unabhängigkeit? Das bewegt hier jeden!"

Nach einem spektakulären Hubschrauberflug über Albanien, Montenegro, Kroatien/Dubrovnik, Mostar und das Türkis der Neretwa in Sarajevo Gespräche mit dem dt. Botschafter Michael Schmunk, Ministerpräsident Spiric und Verteidigungsminister Cikotic, dem Verteidigungsausschuss von Bosnien + Herzegowina, dem Kommandeur des 8. Dt. Einsatzkontingents EUFOR, Oberst Giegeling, und Flottillenadmiral Witthauer, COMEUFOR.

In BOS & HERZ herrsche eine totale Reformblockade. Die Zeitungen seien reine Kampfinstrumente, die Zivilgesellschaft sei besonders schwach. Der top down Ansatz der Internationalen Gemeinschaft habe hier nicht funktioniert. Aber immerhin: Die massive Gewalt sei gebannt. Von den 166 gesuchten Kriegsverbrechern auf der Fahnungsliste von Den Haag sind noch vier (!!) übrig. Eine so überraschende wie gute Nachricht! Wo IFOR 1995 mit 60.000 Mann begann, umfasst EUFOR heute noch 6.000. In einigen Monaten werden es nur noch 2.500 sein, davon ca. 250 Bundeswehr. Der „Einsatz" findet dann überwiegend mit Hilfe der über`s ganze Land verteilten 45 LOT-Häuser (Liaison + Observation Teams) mit ihren jeweils neun Soldaten statt. Mit anderen Worten: In BOS&HERZ läuft zzt. die erste große Rückführungs(Exit)operation eines lang andauernden Kontingenteinsatzes, an dem die Bundesrepublik beteiligt ist.

Bei der abendlichen Altstadtführung durch Botschafter Schmunk begegnen uns nicht nur viele sommerfrohe junge Menschen, sondern auch die dicht beieinander stehenden Gotteshäuser des „Jerusalem des Balkan" - und die Orte, wo Zivilisten über drei Jahre bis 1995 von den serbischen Belagerern erschossen und zerfetzt wurden.

Weitere Informationen

- International Crisis Group: Kosovo`s First Month, Policy Briefing N° 47, März 2008

- Bundestagsdebatte zum Antrag der Fraktion „Die Linke" für einen sofortigen Abzug der Bundeswehr aus dem Kosovo vom 24. April 2008, dabei insbesondere die Rede von Jürgen Trittin (http://www.bundestag.de/)

- Kosovo-Berichte von W. Nachtwei:" Kosovo ein Jahr nach den März-Unruhen: viel Stagnation und wichtige Fortschritte", März 2005; „Polizeimissionen auf dem Balkan - Gewaltexplosion im Kosovo. Besuch bei EUPM und UNMIK Police 15.-17. März 2004; „Studienfahrt Friedensarbeit auf dem Balkan - Zivile Konfliktbearbeitung in Kosovo - Mazedonien", 26. Oktober-2. November 2003 (www.nachtwei.de)

 


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

Tagebuch