Ohne Kurswechsel droht Einsatz in Afghanistan zu scheitern

Von: Webmaster amDo, 28 August 2008 15:29:19 +01:00
Zu den vermehrten Zivilopfern bei Luftangriffen in Afghanistan erklären Winfried Nachtwei, sicherheitspolitischer Sprecher, und Kerstin Müller, außenpolitische Sprecherin:

Nach Angaben der afghanischen Regierung und UNAMA kamen am 21. August bei einem alliierten Luftangriff im westafghanischen Distrikt Shindand 90 Zivilpersonen, davon 60 Kinder ums Leben. Damit erreicht die wachsende Zahl von Luftangriffen mit Zivilopfern in den vergangenen Monaten ihren bisherigen Höhepunkt*. Diese Entwicklung ist unerträglich. Sie läuft dem Anspruch und Auftrag der internationalen Streitkräfte, in Afghanistan ein sicheres Umfeld für die Menschen und den Aufbau zu schaffen, diametral entgegen. Solche Luftwaffeneinsätze zerstören die Legitimität der internationalen Präsenz. Das wird in keiner Weise dadurch relativiert, dass zwei Drittel von Zivilopfern in Afghanistan auf das Konto regierungsfeindlicher Kräfte geht. Die Bundesregierung darf sich hier nicht weiter wegducken, "nur" weil diese Katastrophen bisher in den Hauptverantwortungsbereichen anderer NATO-Verbündeter geschehen sind. Kontraproduktive Aktionen im Westen oder Süden wirken sich auf das ganze Land aus. Die Bundesregierung muss politisch auf Ebene des NATO-Rates aktiv werden und für einen schnellen Kurswechsel sorgen.

Ende April 2007 forderte im selben Distrikt Shindand ein Luftwaffeneinsatz Dutzende von Zivilopfer. Danach seien - so hieß es seitens der Bundesregierung - die Einsatzregeln von ISAF und Operation Enduring Freedom (OEF) verschärft worden. Das wurde von Human Rights Watch bestätigt. Die Realität zeigt aber, dass eine Verschärfung von Einsatzregeln ganz und gar nicht ausreicht.
Im Kern geht es um die strategischen Prioritäten der Operationsführung. Und über die besteht unter den NATO-Verbündeten in Afghanistan in der Praxis keine Einigkeit!

Der Linie des Vorrangs des Schutzes und des Wohlergehens der Bevölkerung - repräsentiert zum Beispiel durch die Niederländer - steht die Linie des Vorrangs der aggressiven Gegnerbekämpfung - repräsentiert vor allem durch US-Kräfte - gegenüber. Die Special Forces von OEF agieren mit ihren "black operations" ganz außerhalb des Unterstützungs- und Stabilisierungsrahmens von ISAF. Wo an erster Stelle steht, gegnerische Kräfte militärisch zu jagen und zu "besiegen", sind vermehrte Einsätze zur Luftnahunterstützung und immer mehr Zivilopfer die logische Konsequenz.
Dieser strategische Dissens kann nicht von Militärs vor Ort, er muss politisch geklärt und entschieden werden. Die Absage an OEF ist ein überfälliger Bestandteil des notwendigen Kurswechsels.

* Seit Anfang Juli 2008 ohne Shindand bei 9 Vorfällen in den Provinzen Nuristan, Nangarhar, Farah, Kandahar, Uruzgan, Kapsia 121 Ziviltote. Bis Ende Juni habe es lt. UNAMA in 2008 ca. 700 Ziviltote gegeben.