Stellungnahme der Grünen zum Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr

Von: Webmaster amFr, 16 Juni 2006 12:47:26 +01:00
In einem Pressegespräch hat Winfried Nachtwei die Stellungnahme der Grünen zum Weißbuchentwurf ausführlich vorgestellt. Wir dokumentieren hier die Stellungnahme, die Winfried Nachtei und Alexander Bonde erarbeitet haben:

Winfried Nachtwei
Mitglied des Deutschen Bundestages
Obmann im Verteidungsausschuss
und im Unterausschuss Rüstungskontrolle

Alexander Bonde
Mitglied des Deutschen Bundestages
Mitglied im Verteidigungs- und Haushaltsausschuss

 

Berlin, 15. Juni 2006

Stellungnahme zum Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr:

Nicht zukunftsfähig - ein Weißbuch im Rückwärtsgang

 

Vorbemerkung:

In der ersten Maihälfte gelangten Exemplare des geheim erarbeiteten Entwurfs des Weißbuches an einige Medien. Während die Koalitionsfraktionen inzwischen den Entwurf erhielten, wurde er uns auf Anfrage hin vom Minister verweigert. Das ist ein Affront gegenüber der Opposition und ihrer gleichberechtigten Teilnahme an der sicherheitspolitischen Debatte. Er leistet damit einer seriösen Debatte um das Weißbuch einen Bärendienst. Dass die Koalitionsfraktionen am 1. Juni einen entsprechenden Antrag der Grünen gegen die Stimmen der gesamten Opposition ablehnten, macht alles noch unerfreulicher.

1. Zusammenfassung:

Zu begrüßen ist, dass die Bundesregierung in diesem Jahr ein Weißbuch vorlegen will. Die Chance, mit Hilfe des Weißbuches zu einer breiten sicherheitspolitischen Debatte in Politik und Gesellschaft zu kommen, muss endlich genutzt und darf nicht erneut vertan werden.

Der Entwurf des Weißbuches könnte Anstoß einer solchen Debatte sein, eine Antwort ist er mit Sicherheit nicht. Der Entwurf lässt die zentralen Schlüsselfragen nach der Rolle von Streitkräften in der deutschen Außenpolitik, nach deutschen Sicherheitsinteressen im Kontext kollektiver Sicherheit, nach den Konsequenzen aus bisher über zehn Jahren deutschen Krisenengagements und Auslandseinsätzen der Bundeswehr und nach neuen Grenzen deutscher Sicherheitspolitik offen.

Er bringt Kursänderungen gegenüber Rot-Grün: Sicherheitspolitik wird faktisch wieder auf Militärpolitik reduziert. Die Bedeutung der nichtmilitärischen Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung für eine wirksame Friedens- und Sicherheitspolitik wird verkannt. Der ressortübergreifende Anspruch wird nicht in die Tat umgesetzt. Im Gegenzug erobert das Militärische auch die innere Sicherheit. Der Verteidigungsfall wird entgrenzt.

Das Weißbuch bringt mehr NATO-Bekenntnis und Pentagon-Nähe, mehr nationale Orientierung. Es bringt weniger UN-Orientierung, weniger EU-Ehrgeiz, weniger Abrüstung.

Der richtige Anspruch einer umfassenden und gewaltvorbeugenden Sicherheitspolitik bleibt in Floskeln stecken und wird durch die militärische Engführung dementiert.

Das Weißbuch erfüllt die Anforderungen zukunftsfähiger Sicherheitspolitik nur mangelhaft.

Verglichen mit den 14 Seiten der Europäischen Sicherheitsstrategie wirken die 106 Seiten des Weißbuches wie ein plötzlicher Nebeleinfall. Im Hinblick auf die Entscheidung über eine deutsche Beteiligung an der Kongo-Mission EUFOR und die zunehmende Ernüchterung über die Wirksamkeit der gegenwärtigen Auslandseinsätze stellt das Weißbuch keinerlei Hilfe dar.

2. Ein Weißbuch zur deutschen Sicherheitspolitik ist dringend erforderlich und überfällig. Seit dem letzten Weißbuch aus dem Jahr 1994 hat deutsche, europäische und globale Sicherheitspolitik einen revolutionären Wandel erlebt. Deutsche Sicherheitspolitik entwickelte sich über gravierende Einzelentscheidungen (Bosnien, Kosovo, Anti-Terror) und auf der Grundlage von außenpolitischen Grundprinzipien und Teilkonzepten. Das Fehlen einer zusammenfassenden und schlüssig abgeleiteten Darstellung deutscher Sicherheitspolitik beeinträchtigte die Transparenz und Klarheit, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit deutscher Sicherheitspolitik.

Dass unter Rot-Grün das weitgehend erarbeitete Weißbuch nicht veröffentlicht werden konnte, lag an der Weigerung des damaligen Ministers Struck, statt eines Bekenntnisses zur Wehrpflicht eine konsensfähige Formulierung zur Wehrform in den Text aufzunehmen. Das war bedauerlich.

3. Das Weißbuch muss Stein des Anstoßes einer breiten sicherheitspolitischen Debatte und Klärung in Politik und Gesellschaft sein. Eine solche breite Debatte ist dringend erforderlich, wird seit Jahren gefordert - zuletzt von Bundespräsident Köhler -, kam aber bisher nicht zustande. Nachdem die Verteidigungsminister Scharping und Struck mit ihren „Eckpfeilern" (2000) und Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR, 2003) sicherheitspolitische Teilkonzepte jeweils verkündeten und damit eine breitere Debatte verhinderten, darf solches nicht zum dritten Mal passieren. Wir fordern deshalb Verteidigungsminister Jung eindringlich auf, das Weißbuch nicht wie angekündigt am 12. Juli im Kabinett zu verabschieden, sondern den Entwurf nur in erster Lesung im Bundeskabinett zu befassen. Nach einigen Monaten einer Debatte in Öffentlichkeit und Parlament könnte das Weißbuch dann mit einer ganz anderen Autorität beschlossen werden. Wo es um die Zukunft der „Parlamentsarmee Bundeswehr" geht, muss das Parlament bei der Entstehung des Weißbuches ein Wort mitreden können. Es darf nicht zum Zaungast degradiert werden.

4. Strategische Rahmenbedingungen: nur Risiken, keine Chancen

Hier werden nur die Risiken und Gefährdungen thematisiert, nicht aber die Chancen (Integrationsprozesse, zivilgesellschaftliche Potenziale). Deren Identifizierung und Unterstützung ist aber für eine Doppelstrategie der Gewaltverhütung + Friedensförderung unabdingbar.

Angesichts des allseits in Anspruch genommenen umfassenden Sicherheitsbegriffs ist fraglich, ob der internationale Terrorismus derzeit tatsächlich die „größte Gefahr" ist oder ob die Privatisierung von Gewalt von unten und oben, Staatsversagen und die dynamische Entwicklung von sozialen, kulturellen und ökologischen Konfliktpotenzialen die größeren Bedrohungen für internationale, europäische und deutsche Sicherheit sind. Risikoanalysen auf deutscher und UN-Ebene klaffen auseinander.

Dass Streitkräfte in der globalisierten Medienöffentlichkeit nur noch „unter den Menschen" wie in einem römischen Amphietheater agieren und dass ihre Botschaften und ihre Kommunikation elementar für Erfolg oder Misserfolg sind, findet in der Realität der Bundeswehreinsätze große, im Weißbuch hingegen kaum Beachtung.

5. Ziele, Prinzipien, Interessen: Vorrang für Interessenpolitik statt Ordnungspolitik?

Wo für etliche Verbündete Krieg selbstverständlich weiterhin ein Mittel der Politik ist, reicht es nicht aus, den Krieg vor allem terminologisch „abzuschaffen" durch den exzessiven Gebrauchs des Wortes Frieden („Politik für Frieden + Freiheit", „Friedenseinsätze") sowie ein weiches „den Werten der freiheitlich demokratischen Ordnung des GG und des Völkerrechts verpflichtet". Angesichts des sehr weiten Begriffs „Friedenseinsätze" ist eine unmissverständliche Bekräftigung des Friedensgebots des Art. 24 Grundgesetz notwendig: Militärische Gewalt darf ausschließlich im Rahmen der UN-Charta und zur Durchsetzung internationalen Rechts eingesetzt werden, nicht zur Durchsetzung partikularer und Machtinteressen. Die Feststellung der UN-Charta, dass „Krieg eine Geißel der Menschheit" ist, gilt unverändert weiter. Krieg darf kein Mittel der Politik mehr sein. Das in den VPR hervorgehobene Ziel deutscher Sicherheits- und Verteidigungspolitik, zusammen mit Partnern „vorbeugend und eindämmend Gewalt zu verhindern" (S.22), taucht im Weißbuch nicht auf.

Nationale deutsche Sicherheitsinteressen werden dagegen auffällig betont. Aufschlussreich ist hier der Vergleich mit den VPR. In beiden Dokumenten werden europäische und transatlantische Stabilität, Eindämmung von Regionalkonflikten, internationale Geltung von Menschen- und Völkerrecht, Überwindung der Kluft zwischen armen und reichen Weltregionen als vorrangige deutsche Sicherheitsinteressen betont. (VPR S.22, WB S.10) Im Weißbuch kommt an dritter Stelle neu hinzu das Interesse, „den Wohlstand des Landes durch einen freien und ungehinderten Welthandel zu ermöglichen."

Dass sichere Energie- und Ressourcenversorgung sowie freie Handelswege für Deutschland von vitalem Interesse sind, ist unbestreitbar. Der Knackpunkt ist nur, ob diese vitalen Interessen politisch vorbeugend, kooperativ und im Rahmen des Völkerrechts oder unilateral und militärisch wahrgenommen werden, wie es für traditionelle Machtpolitik selbstverständlich ist. Auch wenn das Weißbuch Ressourcen- und Seewegsicherung nicht explizit zur Aufgabe der Bundeswehr erklärt, so legt der Text es doch nahe: Für das „in besonderem Maße auf freie und sichere Seewege angewiesene" Deutschland sei die „Mitgliedschaft in einer Allianz mit bedeutenden maritimen Fähigkeiten und die Wahrung der Interoperabilität mit den USA als weltweit führender See-, Luft-, Raum- und Landmacht unverzichtbar." (S.17/18) Der Verzicht auf jede Klarstellung (Primat der vorausschauenden und kollektiven Ressourcenpolitik und der UN-Charta als verbindlichem Rechtsrahmen, vitales Interesse am friedlichen Interessenausgleich) öffnen einer Entgrenzung der Bundeswehraufgaben Tür und Tor und lassen die Grenze zwischen umfassender kollektiver Sicherheit und Neokolonialismus verschwimmen. Wo jeder Stärkere für sich und seine Coalition of the Willing angesichts zunehmender Ressourcenverknappung das Recht auf militärische Ressourcensicherung herausnimmt, zerbricht das Völkerrecht und sind die nächsten Ressourcenkriege vorprogrammiert.

6. Handlungsfelder: NATO first, UN third

(a) Es gilt wieder „NATO first": Die deutliche Orientierung auf die USA und das transatlantische Verhältnis als „Rückgrat der Wertegemeinschaft in der NATO" ist richtig, erfolgt aber unkritisch und allgemein. Die NATO und das transatlantische Verhältnis sind aber kein politischer Selbstzweck, sondern wichtige Zusammenhänge, die es politisch weiter zu entwickeln gilt. Dabei muss die Diskussion über den aufgebrochenen Wertedissens mit der Bush-Administration (neokonservative Sicherheitsdoktrin, Irakkrieg,"Global War against Terrorism") offen angesprochen werden. Dem entzieht sich das Weißbuch völlig. (In rot-grünen Dokumenten wurden zumindest die eigenen Werte und Grundsätze betont.)

(b) Demgegenüber entsteht der Eindruck von „UN third". Die Erfahrungen der internationalen Friedenssicherung, wie sie in Kofi Annans Bericht „In größerer Freiheit" von 2005 zusammengefasst sind, finden im Weißbuch keinen erkennbaren Niederschlag. Insgesamt zeigt das Weißbuch keinerlei Linie auf, wie und unter welchen Voraussetzungen NATO und EU VN-geführte Friedensmissionen besser unterstützen können.

Allerdings wird die „einzigartige Bedeutung" der UN betont, „einem notwendig werdenden Einsatz militärischer Gewalt mit der völkerrechtlichen Legitimität zu versehen". (S.33) Richtig ist, dass „das Recht auf Selbstverteidigung präzisiert" werden muss. Wenn danach gefordert wird, „präventives Eingreifen" müsse „auf völkerrechtlich gesicherten Grundlagen geregelt werden" (S.12), dann wird damit auch implizit Präventivkriegen das Wort geredet. Die „Responsibility to protect" der Staatengemeinschaft bleibt im Ungefähren und wird durch die allgemeine Formulierung, dass „der Schutz der Menschenrechte den Einsatz von Zwangsmaßnahmen erfordern könne" (S.33), eher missbrauchsanfällig.

(c) Das Kapitel zur EU/GASP/ESVP wird keineswegs der herausragenden Bedeutung gerecht, die die EU für deutsche Außen-, Sicherheits- und Friedenspolitik hat. Die europäische Sicherheitspolitik wird reduziert auf Krisenmanagement. Die besonderen Stärken der EU auf dem Feld der langfristigen, ursachenbezogenen Krisenprävention werden weitgehend ausgeklammert. Richtigerweise wird der parallele Aufbau ziviler und militärischer Fähigkeiten als „Kennzeichen und besondere Stärker der ESVP" herausgestellt. Dabei sehen die Schreiber des Weißbuches die Priorität offenbar bei den militärischen Fähigkeiten. Die neuen zivilen und polizeilichen Fähigkeiten werden nicht nur viel knapper, sondern auch nicht auf aktuellem Stand, ohne Berücksichtigung der Civilian Headline Goals 2008 und der Innovation der Civilian Response Teams beschrieben. Wie diese Fähigkeitsziele auch von Deutschland angesichts massiver Verfügbarkeitsprobleme erfüllt werden können, bleibt völlig offen.

7. Vernetzte Sicherheit: weder umfassend noch vorbeugend

Sicherheitspolitik ist weit mehr als Militärpolitik. Der Anspruch umfassender Sicherheitspolitik bleibt schmückendes Beiwerk und in Programmatik stecken („Sicherheit kann daher weder rein national noch allein durch Streitkräfte gewährleistet werden. Vielmehr sind politische und diplomatische Initiativen genauso erforderlich wie wirtschaftliche, entwicklungspolitische, rechtsstaatliche und soziale Maßnahmen (...)", S.12) und wird nicht umgesetzt. Sicherheitspolitik bleibt auf Politik mit Streitkräften beschränkt.

Wo es um Kohärenz und ausgewogene Fähigkeiten geht, begnügt sich das Weißbuch mit dem Begriff der Vernetzung - und dann vor allem nach Innen. Die über CIMIC hinausgehende gleichberechtigte zivil-militärische Zusammenarbeit bei Auslandseinsätzen findet kaum Erwähnung.

Richtig ist, angesichts der wahrscheinlicheren - und sinnvolleren - Einsätze den Schwerpunkt bei den Stabilisierungskräften zu belassen. Allerdings wird hier die von der Vorgängerregierung ererbte Lücke fortgesetzt: Wo Friedensmissionen inzwischen immer diplomatisch-militärisch-polizeilich-zivil angelegt sind, redet das Weißbuch engstirnig nur von der militärischen Säule und ignoriert die nichtmilitärischen Säulen, insbesondere die diplomatischen Kapazitäten sowie die polizeiliche und die Sicherheitssektorreform als Brücke zu einer nachhaltigen Stabilisierung. Der dringend notwendige ressortübergreifende und fähigkeitengemeinsame Ansatz fehlt völlig. Das ist eine strategische Lücke, die eine Verewigung von Stabilisierungseinsätzen bzw. ihr Umkippen in Besatzungseinsätze vorprogrammiert. Für ausgewogene Fähigkeiten der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung bedarf es neben militärischer dringend auch ziviler Headline Goals. Diese sind auf Bundesebene immer noch nicht in Sicht.

Alleine dieses konzeptionelle Manko belegt, wie wenig zukunftsfähig das Weißbuch ist.

Genauso bleibt der Anspruch der Gewaltvorbeugung und zivilen Krisenprävention uneingelöst. Wo der Koalitionsvertrag noch die Stärkung des Aktionsplans „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung" verspricht, taucht der Aktionsplan hier schon gar nicht mehr auf, ist nur die Rede vom Gesamtkonzept „Zivile Krisenprävention ..." der Bundesregierung - von 2000. Der inhaltsreiche 1. Bericht der Bundesregierung zur Umsetzung des Aktionsplans wurde wohl am 31. Mai vom Bundeskabinett verabschiedet. Weißbuch und Aktionsplan-Bericht scheinen aber völlig losgelöst voneinander entstanden zu sein.

8. Bundeswehr im Einsatz: keine Lessons Learned

Die Erfahrungen von über zehn Jahren deutscher Krisenengagements und Auslandseinsätze, ihren Leistungen und Ernüchterungen schlagen sich im Weißbuch nicht nieder. Peinlich beschönigend ist die „Erfolgsmeldung", dass es in Afghanistan gelungen sei, „das Land unter Führung einer demokratischen Regierung zu stabilisieren." (8) Überfällige Lessons Learned bleiben in der richtigen, aber unzureichenden Erkenntnis stecken, dass „nachhaltige Friedenssicherung Geduld und langen Atem erfordert." (58) Die Chance wird vertan, zu einem klareren Verständnis der Leistungsfähigkeiten und -grenzen von Streitkräften zu kommen.

9. Die Aufgaben der Bundeswehr: Ãœberdehnung der Verteidigung

a) Während im Bereich der Außenpolitik Sicherheit auf das Militärische reduziert wird, soll im Bereich der Inneren Sicherheit nun auch das Militärische von der verfassungsrechtlichen Leine gelassen werden. Terrorattacken im Innern werden „nach Art, Zielsetzung und Intensität mit dem herkömmlichen Begriff des Verteidigungsfalls" (S.43) gleichgesetzt. Das hätte eine neue Art von Notstandsverfassung zur Folge. Ein bewaffneter Einsatz der Bundeswehr im Innern darf nicht durch eine Umdefinition des Verteidigungsfalls entgrenzt werden. Diese weit über die Probleme Luft- und Seesicherheit hinausgehende Formulierung hätte die Ablösung des Polizeirechts durch das Kriegsrecht zur Folge und würde genau in die Falle der Terroristen laufen, die den Krieg predigen und die offene Gesellschaft zerstören wollen. Einer Bundeswehr, die bereits jetzt an den Grenzen ihrer Kapazitäten agiert, wird mit ihrer „Beförderung" zur Heimatschutzbehörde für Sicherheitsfragen im weitesten Sinne kein Gefallen getan.

b) Der Abschied von der territorialen Landesverteidigung wird wieder ein Stück weit zurückgenommen (entsprechende Bedrohungen gelten wieder wie unter Scharping als „unwahrscheinlich"; in den VPR von Struck wurden sie ausgeschlossen). Die Bundeswehr kann sich also nicht mit ihren Fähigkeiten und Strukturen auf die wahrscheinlicheren Szenarien ausrichten. Das traditionelle Bild der „kompletten" Bundeswehr mit allumfassenden Kompetenzen und Fähigkeiten ist überholt und unrealistisch. Angesichts der begrenzten Ressourcen muss ein Weißbuch eine sinnvolle Priorisierung der Bundeswehraufgaben leisten.

c) Schon unter Struck war der Verteidigungsbegriff grob fahrlässig ausgeweitet worden („Verteidigung am Hindukusch"). Auf dieser Rutschbahn geht es jetzt mit der neuen BW-Aufgabe Sicherung der Energie- und Ressourcenversorgung sowie freier Handelswege weiter. (Siehe unter Nr. 5, S. 2)

d) Zugleich erhält die militärische Terrorbekämpfung einen höheren Stellenwert: „Internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung und insbesondere der Kampf gegen den internationalen Terrorismus sind auf absehbare Zeit ihre wahrscheinlicheren Aufgaben." (S.52) In den VPR hieß es noch „... einschließlich des Kampfes gegen den ..." (S.28)

Angesichts der fundamentalen Differenz zwischen „Global War against Terrorism" und einem eher europäischen Verständnis einer umfassenden Terrorismusbekämpfung ist die Schweigsamkeit des Weißbuches zu Prinzipien, Methoden und Erfolgsausichten der Terrorbekämpfung - und dem sichtbaren Scheitern des Krieges gegen den Terror - grob fahrlässig. Wo die eigene Position nicht definiert wird, ist Anpassung an den „Großen Bruder" die nahe liegende Konsequenz.

e) Ähnliches gilt für die Herausforderung Drogenbekämpfung: In Afghanistan ist Bundeswehr erstmalig damit konfrontiert. Eine konsequent umgesetzte kohärente Strategie der Drogenbekämpfung entscheidet über Erfolg oder Scheitern des ganzen Stabilisierungsansatzes in Afghanistan und hat unmittelbare Auswirkungen darauf, inwieweit die Risiken dort für ISAF-Soldaten verantwortet werden können. In den Krisenprovinzen des Südens ist die Destabilisierung nicht zuletzt wegen der aggressiven Drogenbekämpfung fortgeschritten. Auf solche hoch akuten Schlüsselfragen gibt das Weißbuch keine Antwort.

f) Fortgesetzt wird der naiv-beschönigende Umgang mit der Teilaufgabe „Friedenserzwingung" und „Operationen hoher Intensität" - auf Deutsch Einsätze kriegerischer Militärgewalt. Dass diese Einsatzdimension besonders teuer, riskant, tückisch, fragwürdig und - vor allem in Deutschland - kaum akzeptiert ist, dass hier viel höhere Einsatzschwellen vonnöten sind, ist dem Weißbuch keinen Gedanken wert. Es spart sich sogar die Versicherung, dass Einsatz militärischer Gewalt nur das äußerste Mittel sein darf, dass zivile Konfliktbearbeitung strikt den Vorrang hat. Dabei ist gerade seit dem Irakkrieg offenkundig, wie politisch verheerend und Unsicherheit fördernd auch allermodernste, hoch vernetzte Kriegführung sein kann.

10. Struktur und Ausstattung der Bundeswehr

Bedingt durch die Ausweitung der Bundeswehraufgaben verzichtet der Entwurf auf genauere Zielvorgaben für Fähigkeiten und Ausstattung der Bundeswehr. Statt sich auf Aufgabengebiete zu konzentrieren und die Bundeswehr in das Umfeld von europäischen und transatlantischen Bündnispartnern einzubetten, bleibt für die Bundeswehr das Ziel allumfassender Fähigkeiten. Das führt angesichts begrenzter Ressourcen dazu, dass die Ausrüstung der Bundeswehr hinter den Anforderungen der wahrscheinlichen Einsätze zurückbleibt; denn die Aufgabe Landesverteidigung führt zur Bevorratung schwerer und teurer Waffensysteme a la Eurofighter zu Lasten benötigter Systeme wie z.B. den Dingo. Auf absehbare Zeit wird der Militäretat aber nicht steigen, sondern sich den zunehmenden Konsolidierungsbemühungen und den Anforderungen einer ausgewogenen Friedens- und Sicherheitspolitik stellen müssen. Erforderlich wären daher eine konsequente Überarbeitung der geplanten Beschaffungen und eine sinnvolle Priorisierung. Stattdessen werden Beschaffungen weiterhin unkritisch durch die Auftragslage der deutschen Wehrindustrie sowie Vorfestlegungen in der Vergangenheit geprägt und Finanzmittel ohne sicherheitspolitischen Nutzen verschwendet. Auf diese Weise ist eine bestmögliche Ausstattung der Soldatinnen und Soldaten nicht zu gewährleisten.

11. Kriterien für Auslandseinsätze

Das Weißbuch schweigt zu den notwendigen - und längst benennbaren - Kriterien für Auslandseinsätze der Bundeswehr. (Diese wären: Ziel der Gewalteindämmung und -verhütung/Friedensunterstützung im Rahmen kollektiver Sicherheit; politische Dringlichkeit für internationale, europäische und deutsche Sicherheit und zur Abwehr von Völkermord; völkerrechtliche Legalität; reale Erfolgsausichten (realitätsnahe Zielsetzung, Einbettung in ein politisches Gesamtkonzept/Kohärenz, ausgewogene diplomatisch-militärisch-polizeilich-zivile Anstrengungen und Fähigkeiten); verantwortbare Risiken, Leistbarkeit, politische Akzeptanz, Exit-Kriterien; Abgrenzung von machtpolitischem Interventionismus und Instrumentalisierung für andere politische Zwecke.)

12. Abrüstung

Abrüstung wird weitgehend auf Nichtverbreitung reduziert und durch das ausdrückliche Festhalten an der „nuklearen Teilhabe" (S.20) konterkariert. Wo die US-Regierung die Ersteinsatzschwelle von Atomwaffen ausdrücklich senkt und diese „konventionalisiert", ist es ein Hohn, die weitere nukleare Teilhabe Deutschlands mit dem „gemeinsamen Bekenntnis der Bündnispartner zur Kriegsverhinderung" zu begründen.

Von den „Massenvernichtungswaffen des Alltags", den Kleinwaffen und ihrer Kontrolle ist keine Rede. Der Anspruch einer restrikten Rüstungsexportpolitik wird gemieden und statt dessen ihrer Lockerung das Wort geredet.

13. Wehrpflicht

Die angebliche Unverzichtbarkeit der Wehrpflicht wird beschworen, aber nur mit ausgeleierten Argumenten begründet. Es bleibt dabei: Der Grundrechtseingriff der Wehrpflicht ist angesichts der neuen Aufgaben der Bundeswehr nicht mehr zu legitimieren; auch für die Bundeswehr bedeutet die Wehrpflicht längst mehr Last als Nutzen. Die Chancen eines flexiblen freiwilligen Kurzdienstes - wie u.a. von den Grünen gefordert - werden nicht aufgenommen. Kein Thema sind die Herausforderungen, zu denen die heutige Rest-Wehrpflicht kaum noch beitragen kann, die aber umso mehr Thema für Politik und Gesellschaft sein müssen: Die Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft und vor allem die Haltung der Gesellschaft gegenüber den Streitkräften.

14. Fazit

Kein Weißbuch ist besser als dieses! Der Entwurf bedarf einer gründlichen Überarbeitung. Seinen bisherigen Autoren sind ein Führungslehrgang bei der Bundesakademie für Sicherheitspolitik sowie Kurse beim Zentrum Internationale Friedenseinsätze dringend zu empfehlen.



Anmerkung :