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Offener Brief
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Nachtwei kritisiert Innenminister von Brandenburg

Veröffentlicht von: Webmaster am 11. September 2010 22:24:53 +01:00 (95255 Aufrufe)

In einem Brief an den Innenminister des Landes Brandenburg kritisiert W. Nachtwei seine Entscheidung, keine Polizisten mehr zum Aufbau der afghanischen Polizei zu entsenden. Der Brief im Wortlaut:

Winfried Nachtwei

Mitglied des Bundestages
1994 - 2009

 

Innenminister des Landes Brandenburg

Herr Rainer Speer
Henning-von-Tresckow-Straße 9-13
14467 Potsdam

 

Ausstieg des Landes Brandenburg aus der Aufbauhilfe für die afghanische Polizei

 

Sehr geehrter Herr Minister Speer,                                                      11. September 2010

 

mit Pressemitteilung vom 4. September bestätigte Ihr Haus eine Meldung des SPIEGEL, wonach Sie schon im Februar entschieden hätten, aus Brandenburg keine Polizisten mehr zur Unterstützung des Polizeiaufbaus nach Afghanistan zu entsenden.

 

Gestatten Sie, dass ich Ihnen hierzu meine kritische Meinung vortrage. Ich tue das vor dem Hintergrund meiner langjährigen Mitgliedschaft im Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages und meiner vielen Besuche bei deutschen Polizisten im Auslandseinsatz seit 1996. Im Dezember 2002 waren wir Obleute des Verteidigungsausschusses die ersten Parlamentarier, die das German Police Project Team in Kabul aufsuchten. Seitdem begegnete ich den deutschen Polizisten in Afghanistan fast jedes Jahr, zuletzt vor wenigen Wochen Ende August: es waren durchweg sehr kompetente, engagierte und bei den Einheimischen sehr angesehene Polizisten und Polizistinnen. Ich erlebte aber auch die enorme Unterschätzung der Aufgabe Polizeiaufbau Afghanistan durch die verantwortliche Politik und die desaströse Startphase von EUPOL im Jahr 2007.

Selbstverständlich muss ein Dienstherr überprüfen und bewerten, ob er die Entsendung von Polizisten in die vom Bundeskabinett beschlossene Polizeimission Afghanistan angesichts der Sicherheitslage verantworten kann. Angesichts des Zustandes der afghanischen Polizei und der keineswegs kohärenten internationalen Polizeihilfe stellen sich auch berechtigte Fragen zu Ausrichtung, Wirksamkeit und Sinnhaftigkeit der Polizeimission.

Ihre Begründung für den Ausstieg aus der Polizeihilfe Afghanistan halte ich aber angesichts der realen Lage im Einsatzgebiet der Polizisten für viel zu pauschal und nicht stichhaltig. Wo Ausbildung und Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte - hier der Polizei - elementar und unverzichtbar sind, um nachhaltige Sicherheit in einem von 30 Jahren Krieg zerstörten Land zu fördern, Krieg und Gewalt einzudämmen und einen Rückfall in Bürgerkrieg zu verhindern, ist der von Ihnen angeordnete Ausstieg sicherheits- und friedenspolitisch unverantwortlich und hinsichtlich seiner Signalwirkung schädlich.

Außenminister Westerwelle hatte am 9. Februar 2010 in seiner Regierungserklärung vor dem Bundestag erklärt, auch im Norden Afghanistans handele es sich um einen „bewaffneten Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts". Angesichts des Guerilla- und Terrorkrieges und der militärischen Aufstandsbekämpfung in Teilen der Provinzen Kunduz, Baghlan und Faryab lässt sich die Tatsache eines nicht-internationalen bewaffneten Konflikts nicht bestreiten.

Es ist aber ein Kurzschluss und verfehlt, aus dieser juristischen Einordnung abzuleiten, in der ganzen Nordregion herrsche unterschiedslos ein bewaffneter Konflikt und alle deutschen Kräfte seien nun an dem bewaffneten Konflikt beteiligt.

  • Fakt ist die höchst unterschiedliche Konfliktintensität in den neun Provinzen und 123 Distrikten der Nordregion, die sich über einen Gebiet von 1.200 x 400 km erstreckt: Acht Distrikte gelten als Guerillakriegsgebiet. In den anderen Distrikten kommt es bisweilen zu Sicherheitsvorfällen. Sie sind aber nicht an der Tagesordnung. Hier kann nicht  von bewaffneten Konflikt (Krieg) gesprochen werden. Bei meinen letzten Besuchen in Badakhshan und Balkh konnte ich bei Ausfahrten mit Vertretern von AA, BMZ und BMI selbst die relative Ruhe dieser Provinzen erleben. (vgl. die Zweiwochen- und Quartalsberichte des Afghanistan NGO Security Office, www.afgnso.org,  und meine seit drei Jahren zusammengestellten Materialien zur Sicherheitslage Afghanistans, s. Anlage)
  • Fakt ist, dass die deutschen Polizisten ihren Auftrag in Distanz zu den Guerillakriegszonen ausführen, sich risikobewusst und unter erheblichen Sicherheitsvorkehrungen bewegen und sich erst recht nicht an bewaffneten Auseinandersetzungen beteiligen.
  • Fakt ist schließlich, dass der UN-Auftrag von ISAF - und insbesondere der Polizisten - kein Kriegsauftrag ist.

Ihre Absage an eine - vermeintliche - Kriegsbeteiligung brandenburgischer Polizisten bedeutet im Umkehrschluss, dass Sie die Kollegen und Kolleginnen der anderen Bundesländer, von Bundespolizei und BKA der Kriegsbeteiligung bezichtigen. Das entspricht wohl einem von der Linken seit 2002 gepflegten Zerrbild, aber nicht der Realität des Einsatzes der deutschen Polizeibeamten in Afghanistan.

Ihr Alleingang raus aus einer Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern wird damit zu einem Affront gegenüber Ihren Minister- und vor allem Polizistenkollegen.

Sehr geehrter Herr Minister Speer,

acht Jahre lang trugen sozialdemokratische Mitglieder der Bundesregierung wesentliche Führungsverantwortung für den deutschen zivilen-militärischen-polizeilichen Afghanistaneinsatz. Sie waren somit auch mitverantwortlich für die jahrelange politische Vernachlässigung der deutschen Polizeihilfe, die dem Anspruch der deutschen Lead-Rolle ganz und gar nicht gerecht wurde. (Bis 2005 trug hierfür auch ein grüner Außenminister Mitverantwortung.) Mit Ihrer oberflächlich begründeten Entscheidung knüpfen Sie an diese ungute Tradition an.

Es  würde die Glaubwürdigkeit sozialdemokratischer Friedens- und Sicherheitspolitik fördern und nicht schädigen, wenn Sie Ihre Entscheidung noch einmal überprüfen könnten. Nicht zuletzt würden es Ihnen viele afghanische Polizeikollegen danken, die die Polizeiausbilder aus Deutschland immer als besonders kollegial und hilfreich erfahren - übrigens schon seit Ende der 60er Jahre.

Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie meine Argumente berücksichtigen könnten.

In Verbundenheit mit dem Land Brandenburg, dessen Menschen und Natur mir gerade beim Kampf für die zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide ans Herz gewachsen sind,

verbleibe ich

mit freundlichen Grüßen
gez. Winfried Nachtwei

 

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