Persönliche Erklärung zur Mandatsabstimmung ISAF/Tornado im Bundestag

Von: Webmaster amFr, 12 Oktober 2007 12:24:00 +01:00
Zur heutigen Mandatsabstimmung ISAF/Tornado im Bundestag haben 15 grüne Abgeordneten, unter Ihnen Winni Nachtwei, Jürgen Trittin, Kerstin Müller, Katrin Göhring-Eckardt, Bärbel Höhn und Wolfgang Wieland, folgende Persönliche Erklärung abgegeben:

 

Erklärung nach § 31 GO

Schriftliche Erklärung zur namentlichen Abstimmung am 12. Oktober 2007 über den Antrag der Bundesregierung "Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001), 1413 (2002), 1444 (2002), 1510 (2003), 1563 (2004), 1623 (2005), 1707 (2006) und 1776 (2207) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen", Drucksache 16/6460

In den zurückliegenden Jahren haben wir nach sorgfältiger Prüfung immer dem Antrag der Bundesregierung zur deutschen Beteiligung an ISAF zugestimmt und die deutsche zivile und militärische Beteiligung am internationalen Afghanistan-Engagement intensiv begleitet.

Gerade weil wir eine im Sinne des afghanischen Aufbaus und Friedensprozesses erfolgreiche ISAF wollen, können wir in diesem Jahr dem Antrag der Bundesregierung nicht zustimmen. Wir werden uns enthalten.

Die von den Vereinten Nationen mandatierte ISAF-Schutztruppe bleibt für die Absicherung des Aufbaus in Afghanistan weiterhin notwendig und unverzichtbar. Darauf haben in den letzten Tagen nicht zuletzt auch deutsche Hilfs- und Entwicklungsorganisationen hingewiesen. Der führende Beitrag der Bundeswehr zur ISAF-Region Nord ist auf Seiten der Verbündeten und insbesondere der Afghanen hoch angesehen. Das zeigte sich besonders nach dem Anschlag in Kunduz am 19. Mai, dem drei Bundeswehrsoldaten zum Opfer fielen. In einer Solidaritätsresolution erklärten die Rechtsgelehrten, Ältestenvertreter, Lehrerschaft, Schülerinnen und Schüler, Jugendorganisationen und Handwerksgenossenschaft der Provinz Kunduz: "Die Anwesenheit des deutschen PRTs in der Provinz Kunduz ist so notwendig wie das Wasser zum Leben. Die leidgeplagten Einwohner der Provinz Kunduz brauchen weiterhin die Unterstützung des PRTs." Solange afghanische Polizei, Justiz und Armee nicht selbst die Sicherheit im Land gewährleisten können, hätte ein Abzug von Bundeswehr und ISAF den Rückzug der meisten UN-Organisationen, NGOs, Entwicklungshelfer und Polizeiberater zur Folge, die in dem gewaltträchtigen Umfeld ohne Rückhalt wären. Alleingelassen würden die friedensbereiten Kräfte, ermutigt die verschiedenen Gewaltakteure. Die Tür würde geöffnet für eine Machtergreifung der Taliban im Süden und Bürgerkrieg in anderen Landesteilen.

So sehr wir einerseits von der Notwendigkeit der weiteren ISAF-Beteiligung überzeugt sind, so sehr sind wir zugleich besorgt über die halbherzige Politik der Bundesregierung und die widersprüchliche und z.T. kontraproduktive Politik der Staatengemeinschaft in Afghanistan.

Wir wissen um die vielen, oft weniger sichtbaren Aufbauerfolge und die Notwendigkeit von langem Atem. Die Leistungen der engagierten und mutigen Soldaten, Entwicklungsexperten, Polizeiberater, Diplomaten und Friedensfachkräfte verdienen unser aller hohen Respekt und Anerkennung.

Angestoßen durch Besuche vor Ort und Gespräche mit Afghanistan-Praktikern weist die Grüne Fraktion seit mehr als einem Jahr in Schreiben an die zuständigen Minister, in Bundestagsdebatten und Anträgen eindringlich auf die kritische Lageentwicklung in Afghanistan hin und fordert einen Strategiewechsel sowie eine Forcierung der Aufbauanstrengungen. Im November letzten Jahres verweigerte die Grüne Fraktion der weiteren deutschen Beteiligung an der Operation Enduring Freedom erstmalig ihre Zustimmung. Verdichtet hatten sich Hinweise über kontraproduktive Operationsweisen im Süden und Osten, durch die Gewalt mehr gefördert als eingedämmt wurde.

Unsere Warnrufe fanden volle Zustimmung bei vielen zivilen und militärischen Afghanistan-Insidern - aber kaum ein Echo auf Seiten der Regierung.

Deutlich wird das im jüngsten Afghanistan-Konzept der Bundesregierung und ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage zur Afghanistan-Politik: Verharmlost wird die kritische Entwicklung der politischen und Sicherheitslage, wo die Enttäuschung und Frustration in der afghanischen Bevölkerung - mit regionalen Differenzierungen - gravierend zugenommen haben: über eine vielfach versagende und korrupte Regierung, über grassierende Kriminalität, über eine weit hinter ihren Versprechen zurückbleibende Staatengemeinschaft. Der richtige Anspruch des Primats des zivilen Aufbaus wird durch eine Praxis der Bundesregierung konterkariert, in der der Anteil der Mittel für den Aufbau nur ein Fünftel beträgt von denen, die für die militärische Absicherung eingesetzt werden. Beschönigt wird das Ergebnis von fünf Jahren deutscher Führungsrolle beim Polizeiaufbau: Ein grundsätzlich richtiger Ansatz wurde mit völlig unzureichenden Mitteln verfolgt. Mit der Polizeimission EUPOL ist da bisher keine Besserung in Sicht, zzt. eher im Gegenteil. "Durchgewunken" wird OEF, wo ausgeklammert bleibt, wie sehr Operationsweisen gerade von OEF immer wieder das Ansinnen von Regierung, ISAF und Staatengemeinschaft zunichte machen, die Köpfe und Herzen der Menschen zu gewinnen.

In Afghanistan drängt die Zeit, wird das Zeitfenster für eine Wende zum Besseren schmaler. Dringend notwendig sind eine neue und besser konzertierte Anstrengung der Internationalen Gemeinschaft und der Bundesrepublik und ein substanzieller Strategiewechsel. Hundert im Verband Entwicklungspolitik (VENRO) zusammengeschlossene deutsche Hilfs- und Entwicklungsorganisationen haben dies vor wenigen Tagen noch einmal nachdrücklich eingefordert.

Wenn die Bundesregierung die Aufwendungen für Aufbau und Entwicklung um 25% erhöhen will, wo Fachleute mindestens eine Verdoppelung fordern, zeigt das, wie wenig die Bundesregierung die Dringlichkeit der Lage erkannt hat. Um in Afghanistan dazu beizutragen, das Vertrauen der Bevölkerung zurück zu gewinnen und den Abwärtstrend umzukehren, sind ganz andere Anstrengungen erforderlich!

Hinzu kommt der Umgang der Bundesregierung mit dem umstrittenen Einsatz der Tornado-Aufklärer. Der Nutzen von Luftaufklärung für den ISAF-Stabilisierungseinsatz ist für uns unstrittig. Bisher hat es die Bundesregierung aber versäumt, erhebliche Bedenken auszuräumen: Wie kann eine nur restriktive Weitergabe von Tornado-Bildern an OEF garantiert werden, wenn im Osten der ISAF-Regionalkommandeur und Kommandeur OEF Afghanistan identisch sind, wenn im Süden und Osten Einheiten von ISAF und OEF dicht zusammen und z.T. unter wechselnder Unterstellung operieren? Auch wenn die Tornados kaum zur "Zielmarkierung" geeignet sind: Wieweit tragen sie mittelbar zu den dortigen Kampfeinsätzen bei? Schließlich bleiben die teuren Tornados Symbol für eine falsche finanzielle Prioritätensetzung.

Wir wollen eine im Sinne des afghanischen Aufbaus und Friedensprozesses erfolgreiche ISAF. Die Politik der Bundesregierung gefährdet die Erfolgschancen von ISAF, statt sie zu verbessern. Deshalb können wir in diesem Jahr dem Antrag der Bundesregierung nicht zustimmen.

Den Menschen in Afghanistan sagen wir ganz deutlich: "Wir lassen Euch nicht im Stich! Wir setzen uns zugleich für eine wirksamere deutsche und internationale Unterstützung ein!" Das versprachen wir unseren Kolleginnen und Kollegen aus dem afghanischen Parlament bei jeden Zusammentreffen aus tiefer Überzeugung und vollem Herzen. Das gilt unverändert weiter. Deshalb wäre ein Nein zu dem Mandat falsch. Weil wir Verlässlichkeit und Erfolg, weil wir effektiven Multilateralismus wollen, werden wir dem Antrag der Bundesregierung in diesem Jahr nicht zustimmen, sondern mit Enthaltung stimmen.

Wir bitten unsere Freundinnen und Freunde in Afghanistan, wir bitten die von der deutschen Politik nach Afghanistan entsandten Soldaten und Zivilexperten, unser Abstimmungsverhalten in diesem Sinne zu verstehen: ganz und gar nicht als Signal zum Rückzug aus Afghanistan, sondern als konstruktiven Warnruf der Grünen, die sich seit den 80er Jahren in besonderer Weise den Menschen und den Menschenrechten in Afghanistan verpflichtet fühlen und die ihre Kontrollfunktion als Opposition ernst nehmen.

Winfried Nachtwei
Jürgen Trittin
Kerstin Müller
Katrin Goering-Eckardt
Bärbel Höhn
Rainder Steenblock
Wolfgang Wieland
Irmingard Schewe-Gerick
Christine Scheel
Kai Gehring
Thilo Hoppe
Gerhard Schick
Grietje Bettin
Ulrike Hoefken
Markus Kurth