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Sicherheitspolitik und Bundeswehr + Artikel von Winfried Nachtwei für Zeitschriften u.ä.
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Auseinanderdriftende Welten - Nachbemerkungen zum feierlichen Gelöbnis am 20. Juli vorm Reichstagsgebäude und zur Rede des Bundespräsidenten

Veröffentlicht von: Nachtwei am 8. August 2013 10:40:39 +01:00 (84665 Aufrufe)

1996 fand erstmalig ein Feierliches Gelöbnis für Bundeswehrrekruten in Berlin statt. Seit etlichen Jahren findet das zentrale Gelöbnis der Bundeswehr demonstrativ am 20. Juli mal im Berliner Bendlerblock (Sitz des Ministeriums), mal vor dem Reichstagsgebäude statt. Die heftigen Proteste der vergangenen Jahre sind inzwischen abgeklungen. In diesem Jahr hielt erstmalig Bundespräsident Joachim Gauck die Gelöbnisrede. Sie verdient Beachtung und Diskussion. Hier mein Bericht und Kommentar zu einer Veranstaltung, an der sich weiter die Geister scheiden.

Auseinanderdriftende Welten: Hochglanz-Gelöbnis vor dem Reichstag, Grundwerte-Rede des Bundespräsidenten, Distanzattacken gegen die angebliche „Kriegspolitik" - einige Nachbemerkungen

Winfried Nachtwei, MdB a.D. (Anfang August 2013)

 

Glänzender und symbolträchtiger konnte die Veranstaltung kaum sein am 20. Juli in Berlin: Das  Reichstagsgebäude in der Sommersonne, der fahnengerechte Wind, die Blöcke der Rekrutenkompanien, die demonstrative Perfektion von Wachbataillon und Musikkorps, um die Tausend beifallsfreudige Ehrengäste, Angehörige und Freunde auf der Zuschauertribüne, der Einzug von Verteidigungsminister, Generalinspekteur, Bundestagspräsident, dann die Einfahrt des Bundespräsidenten. In der sechsköpfigen Rekrutenabordnung zum Ablegen des feierlichen Gelöbnisses sehe ich auch eine Luftwaffensoldatin und einen farbigen Marinesoldaten. Das weiträumige Sperrgebiet hält jeden Protestversuch außer Sicht- und Hörweite; und auch alle Bürgerinnen und Bürger ohne Einladung.

Das feierliche Gelöbnis von ca. 500 Bundeswehrrekruten aus ganz Deutschland vor dem Reichstag - es ist inzwischen  d i e  Inszenierung bundesdeutscher Staatsmacht, am heutigen Tag zugleich  d i e  Demonstration ihrer Wertebindung: Armee in der Demokratie, Armee für die deutsche Demokratie und der deutschen Demokratie, eine Armee von Staatsbürgern in Uniform - so Minister de Maizière in seiner Begrüßung. Die Veranstaltung gibt Hinweise auf die Verortung der Bundeswehr in Politik und Gesellschaft. Zugleich wirft sie die Frage nach der Glaubwürdigkeit auf: Sind die Reden mit ihren hohen Ansprüchen nur Sonntagsreden am Samstag?

(Der Bericht erscheint aus Urlaubsgründen erst jetzt. Er setzt meine Beitragsreihe zur öffentlichen friedens- und sicherheitspolitischen Kommunikation fort, in der ich zuletzt über den „Tag des Peacekeepers 2013" am 12. Juni - www.nachtwei.de/index.php/articles/1220 - und „50 Jahre Entwicklungshelfer" am 28. Juni - www.nachtwei.de/index.php/articles/1224 - berichtete. In den 80er Jahren war ich einer der damals vielen Demonstranten bei öffentlichen Gelöbnissen. Hauptkritiken waren der Widersinn der "atomaren Heimatverteidigung", die das Gelöbnisversprechen konterkarierte, und eine empfundene „Verklärung des Militärischen".)

Die Reden

Der Minister betont das Vermächtnis der Frauen und Männer des 20. Juli, „ja all der unterschiedlichen Widerstandsgruppen", als Verpflichtung. Mit ihrem staatlichen, demokratischen Auftrag diene die Bundeswehr „keiner Partei, keiner bestimmten Regierung, sondern dem Gemeinwohl, dem Land, Ihrem, unserem Deutschland."

Bundespräsident Joachim Gauck hält die Gelöbnisansprache (die ganze Rede unter

www.bundespraesident.de/SharedDocs/Downloads/DE/Reden/2013/07/130720-Geloebnis-Bundeswehr.pdf?_blob=publicationFile ):

Vor dem nachfolgenden Versprechen des Gelöbnisses formuliert er das Versprechen von Staat und Gesellschaft, die Bundeswehr einzusetzen aus „Verantwortungsbewusstsein für Frieden, Freiheit und die Wahrung der Menschenrechte". Der Dienst der Soldaten sei ein besonderer mit der Pflicht zu verschiedenen Rollen - „Beschützer und Kämpfer, Katastrophen- und Aufbauhelfer". „In letzter Konsequenz kann er bedeuten, das eigene Leben einsetzen zu müssen, (...) Menschen zu töten - und den Tod von Kameraden mitzuerleben."

Deutlich betont der Bundespräsident die Pflichten der Vorgesetzten, der Bundeswehr, des Parlaments: gute Ausbildung und Ausrüstung für die Aufgaben; aufmerksame Behandlung körperlicher wie seelischer Verletzungen; offene und ehrliche Debatten, verständliche und erfüllbare Einsatzaufträge ohne falsche Erwartungen („Sind sich alle bewusst, dass die Bundeswehr allein keine Konflikte lösen kann?" Sie könne nur Zeit schaffen für politische Lösungen); Fähigkeit zur Selbstkorrektur und Lernfähigkeit, wenn gesteckte Ziele sich als nicht erreichbar erweisen, wenn Einschätzungen irrig waren.

Zu Recht gebe es in Deutschland „eine gewisse Scheu, den Einsatz von militärischer Gewalt als Mittel der Politik zu unterstützen. (...) Aber gerade unsere Geschichte sagt uns doch: Wir dürfen uns nicht aus der Verantwortung stehlen. Wir wollen vielmehr - wie es in der Präambel unseres Grundgesetzes steht - „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt (...) dienen" - mit politischen Mitteln zu allererst, aber, wo nötig und nach Abwägung, auch mit militärischer Gewalt. Denn Verzicht auf Gewalt kann in bestimmten Situationen bedeuten, Unterdrückern oder Aggressoren das Feld zu überlassen. Deutsche Soldatinnen und Soldaten werden heute mit internationalem Mandat und aus Solidarität eingesetzt - und nicht mehr aus Wahn der Überlegenheit und in feindlicher Absicht gegenüber anderen Völkern. Nicht aus Verantwortungslosigkeit, sondern im Gegenteil aus Verantwortungsbereitschaft schicken wir Sie in Einsätze. „Dieser Staat wird Euch nicht missbrauchen!" - das hat Helmut Schmidt vor fünf Jahren Ihren Vorgängern zugerufen. Das ist eines der großen Versprechen, die wir heute erneuern wollen."

Eine klare Absage erteilt der Bundespräsident jeder Kontinuität zwischen Wehrmacht und Bundeswehr: „Damals kämpften Millionen von Deutschen in einem verbrecherischen Krieg, den ein verbrecherisches Regime geplant hatte." Der 20. Juli erinnere daran, wie wichtig „neben Tapferkeit auch Zivilcourage sei - auch und vor allem in den höchsten Dienstgraden."

Einige Anmerkungen

Die Rede wurde mit dem gesamten Gelöbnis im ZDF übertragen. Die Presse brachte Kernaussagen der Gauck-Rede. Aber sie blieb ohne sonderliches Echo. Zu Unrecht. Die Gelöbnisrede des Bundespräsidenten verdient Beachtung, Reaktion und Auseinandersetzung. Ein Bürgerpräsident wie Gauck wird auch Widerspruch vertragen.

-         Die Rede ist betont friedens- und werteorientiert (Frieden, Freiheit, Menschenrechte), ohne den besonderen Härten des Soldatenberufes und den Dilemmata auszuweichen. Im Unterschied zum gängigen sicherheitspolitischen Diskurs kommen aber die zentralen Kategorien Sicherheit und Interessen explizit nicht zur Sprache, auch nicht kollektive Sicherheit im Rahmen der Vereinten Nationen. Im Mittelpunkt steht für den Präsidenten der Friedensauftrag, nicht Interessenverteidigung und -durchsetzung.

-         Auffällig ist auch sein Motiv eines Gelöbnisses auf Gegenseitigkeit, der Appell an das verantwortliche Handeln von Vorgesetzten, Auftraggebern, Parlament, die Selbstverpflichtung der Politik durch das Staatsoberhaupt. Diese Selbstverpflichtung gipfelt in der Bekräftigung des Versprechens von Helmut Schmidt: „Dieser Staat wird Euch nicht missbrauchen!" Sehr richtig dieser Anspruch, dieses Gelöbnis - nur Vorsicht vor Selbstzufriedenheit dabei! Es gibt eben auch Missbrauch durch Halbherzigkeit, Unterlassung, Nachlässigkeit. (Da könnte ich etliche Beispiele nennen, angefangen bei den notorisch vernachlässigten Wirkungsanalysen und einer oft unzureichenden Lernfähigkeit.)

-         Vertrauensbildung? Offen ist für mich, wieweit die heute demonstrative Nähe zum (Mit-)Auftraggeber Parlament bei den Soldatinnen und Soldaten überhaupt ankommt und darüber hinaus geht, nur mal an dem Ort gewesen zu sein, den man sonst nur aus dem Fernsehen kennt. Denn Fakt ist, dass die Distanz der Bundeswehrangehörigen, die schon eine Weile dabei sind, gegenüber „der" Politik erheblich und das Vertrauen gerade von Einsatzsoldaten in die verantwortliche Politik sehr gering ist. Ich vermute aber, dass der Bundespräsident mit seinem großen Glaubwürdigkeitsbonus und einer solchen Rede der politischen Selbstverpflichtung vertrauensbildend wirken kann; zumindest bei den ein oder anderen. Nüchtern ist festzustellen, dass bei den ParlamentarierInnen diese „Annäherung" nur sehr begrenzt ankommt. Seit Jahren etwa ist nur ein Bruchteil der Abgeordneten am 20. Juli dabei.

-         Alles eine Sonntagsrede am Samstag? Nicht ernst gemeint, nicht ernst zu nehmen? Für den Redner trifft das mit Sicherheit nicht zu. Ein Teil der Zuhörer werden die Gauck-Rede  als Politpredigt empfunden und als solche abgehakt haben. Viele andere, gerade auch viele Bundeswehrangehörige, werden dem Tenor seiner Rede zugestimmt haben. (Die Ernsthaftigkeit des Bezugs auf den 20. Juli erlebte ich auch zwei Tage vorher abseits einer breiteren Öffentlichkeit beim Einsatzführungskommando bei Potsdam, wo alljährlich des Generalmajors Henning von Tresckow gedacht wird. Er gilt als Kopf und Herz des militärischen Widerstandes gegen Hitler. In diesem Jahr hielt Außenminister a.D. Hans-Dietrich Genscher die Gedenkansprache. Zur Person von Tresckows und der Vorjahrsveranstaltung mein Bericht unter www.nachtwei.de/index.php/articles/1149 )

-         Dass Militär in der Regel allein keine Konflikte  lösen, sondern im besten Fall nur Rahmenbedingungen zur Konfliktlösung schaffen kann, ist seit etlichen Jahren  weitestgehend Konsens, gerade auch unter einsatzerfahrenen Militärs. So weit so gut: Primat der politischen Konfliktlösung also. Die Vernachlässigung der zivilen Instrumente + Ansätze bei der Ressourcenausstattung wie bei der Öffentlichkeitsarbeit leisten aber dem entgegengesetzten Eindruck eines Primats des Militärischen Vorschub. Wo Auswärtige Politik auf breitenwirksame Öffentlichkeitsarbeit im Inland verzichtet, macht sie sich weitgehend „unsichtbar" und überlässt dem sowieso viel auffälligeren, auch weil riskanterem,  Militär die öffentliche Bühne. Diese strukturelle, mit der Unterausstattung ziviler Akteure einhergehende Militärlastigkeit scheint bisher für den Bundespräsidenten kein Thema zu sein. Wo er so sehr den Friedensauftrag des Grundgesetzes betont, wäre es nur konsequent, wenn sich der Blick noch weitet.

-         Die Rede des Bundespräsidenten steht im diametralen Gegensatz zu Aktionen und Kampagnen, die die Bundeswehr pauschal als Interventions- und Angriffsarmee und die von Bundesregierung und Bundestag beschlossenen und UN-mandatierten Auslandseinsätze unterschiedslos als Kriegspolitik verurteilen sowie das Konzept der Inneren Führung geschichtslos beiseite wischen. Zum Beispiel die „Blutbad-Kundgebung" der DFG-VK Berlin-Brandenburg zwei Stunden vor dem Gelöbnis an der Neuen Wache Unter den Linden, wo sich ein „Soldat" mit Schweinekopfmaske in „Blut" und „abgetrennten Gliedmaßen" suhlte. (Eine Demonstration kam mangels Masse in diesem Jahr nicht zustande.) Zum Beispiel die Verleihung des diesjährigen Aachener Friedenspreises an „Schulen ohne Bundeswehr" mit der Begründung, die deutschen Regierungen der vergangenen Jahre hätten die deutsche Gesellschaft über die Beteiligung an „Kriegs- und militärischen Gewalthandlungen (...) in eine Kriegsnation" zurückgeführt. Behauptet wird, Vertreter einer Armee könnten grundsätzlich nicht zum Geist der Menschlichkeit, der Demokratie und Freiheit, zur (...) Friedensgesinnung" (Bildungsauftrag der Schulen lt. Landesverfassung NRW) beitragen.

Abschließend

-         Es war eine Hochglanz-Veranstaltung der Bundeswehr-Community im Hochsicherheitstrakt, wo es um das Verhältnis  von Streitkräften und  Gesellschaft wohl immer noch besser steht, als es angesichts der von der Spree bis zum Tiergarten reichenden Absperrungen den Anschein hatte. Zugleich ist unübersehbar, wie die Aufmerksamkeit in der Gesellschaft für die Streitkräfte schrumpft und Distanz wächst.

-         An dem Tag und dem Ort wird mir besonders bewusst, dass Reden wie die von Bundespräsident Gauck historisch wie im internationalen Vergleich bei militärischen Großritualen keineswegs eine Selbstverständlichkeit sind, eher eine Ausnahme. Ob sie am Ende orientierend wirken oder doch zu Sonntagsreden verpuffen, liegt auch daran, wieweit sie an realen Erfahrungswelten anknüpfen und ob ihre Richtungssignale und Denkanstöße aufgenommen oder ignoriert werden. Die politischen Rahmenbedingungen (Sommerpause, Euro-Hawk-Untersuchungsausschuss, kommender Wahlkampf) waren für eine entsprechende Aufnahmebereitschaft nicht gerade förderlich.

 

 


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

Tagebuch