Ein Tag in Khulm und Mazar

Von: Webmaster amMo, 27 Dezember 2010 13:17:44 +01:00

Auf seiner letzten Afghanistanreise im August besuchte W. Nachtwei auch den Distrikt Khulm im Norden. Dort lernte er den deutschen Entwicklungsexperten kennen und schätzen, der vier Monate später ermordet wurde. Die Fotos zeigen "sein" Khulm und entstanden aus seinem Wagen heraus.



Ein Tag im August - bei der deutschen Entwicklungszusammenarbeit in Khulm und Mazar-e Sharif

Winfried Nachtwei, MdB a.D.

Im Rahmen meiner letzten (15.) Afghanistanreise besuchte ich am 31. August 2010 mehrere Entwicklungsprojekte in der Provinz Balkh. Im Unterschied zu den Tagen mit Bundeswehr und Polizei/Feldjägern bewegen wir uns heute frei in unauffälligen Pkws.

Khulm Vom Camp Marmal auf der gut ausgebauten Ringstraße nach Osten Richtung Khulm. Nach ca. 20 Minuten liegt südlich der Straße ein neu errichteter Industriepark. Das Gelände ist voll erschlossen, die Grundstücke sind weitgehend verkauft/verpachtet.

Kurz später treffen wir auf eine Kreuzung der ganz besonderen Art: Hier überquert das Gleis der neuen und bisher einzigen Eisenbahnstrecke von Heraton (westlich Termez) an der usbekischen Grenze nach Mazar die Ringstraße. Anfang des Jahres wurde mit dem Bau der 75 km langen Strecke begonnen. Die Baukosten von 170 Millionen US-$ wurden zum großen Teil von der Asian Development Bank finanziert. Im kommenden Frühjahr soll sie nach dem Bau von fünf Bahnhöfen in Betrieb gehen. Es ist die erste Eisenbahnlinie in einem Land, wo die mangelhafte Verkehrsinfrastruktur ein Hauptentwicklungshindernis ist. Es gibt Pläne, die Bahnstrecke nach Herat im Westen sowie nach Osten fortzuführen. Die Umsetzung dieser Pläne würde für Afghanistan einen enormen Entwicklungssprung bedeuten. Zusammen mit dem jungen Entwicklungsexperten (Berater beim Programm für nachhaltige Wirtschaftsentwicklung) lasse ich mich auf dem Gleis fotografieren. Die lokale „Münstersche Zeitung" veröffentlicht es mit dem richtigen Gespür groß unter der Überschrift „Auf der Trasse der Hoffnung". (MZ 13.9.2010)

KhulmAls ich dem afghanischen Fahrer über die Schulter schaue, staune ich: Wir fahren tatsächlich 140 km/h. Der gute Zustand der Straße lässt das zu. Zwischen Ringstraße und Marmalgebirge führen Hochspannungsleitungen nach Süden.

60 km östlich von Mazar liegt die Distriktstadt Khulm (Tashkurgan). Vor der Kriegszeit befand sich hier der letzte traditionell überdachte Bazar des Landes. Von der Hauptstraße gehen wir zu Fuß einige hundert Meter durch ein Viertel zu einer traditionellen Ledergerberei. In einem tausend Jahre alten Verfahren werden hier die Häute zu Leder verarbeitet: Sie durchlaufen verschiedene Gruben, wo ein Jahr altes „Wasser" („horrible water") voller Bakterien ist, werden mit Füßen gestampft, getrocknet und salzgehärtet. Der Gestank dieser Produktionsweise ist noch das geringste Problem. In der in Bau befindlichen Gerberei am Ortsrand sollen die Produktion quantitativ und qualitativ gesteigert und die giftigen Begleitfolgen für Mensch und Umwelt reduziert werden. Von zzt. 400 Häuten pro Monat will man auf 500 pro Tag kommen. In der neuen Gerberei sollen ca. hundert Menschen beschäftigt sein. Auf den Märkten stammen 80% der Lederwaren aus Pakistan.

In der angegliederten Ausbildungswerkstatt erstellen Jungens Sandalen, Taschen und Gürtel.

Das Straßenbauprojekt Khulm - Kunduz, finanziert von der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW): Uns führt der verantwortliche deutsche Ingenieur M.S., Consultant von Gauff Ingenieure GmbH & Co. KG aus Frankfurt/Main. Er ist sehr landeserfahren, wohnt in Khulm und ist dort unter den Menschen sehr anerkannt. Ich fahre in seinem Wagen mit. Die Hauptstraße ist unbefestigt und tief zerfurcht. Am Khulm-Fluß geht die Piste die Böschung herunter durch eine Furt. Beim Queren muss man schon aufpassen, nicht plötzlich stecken zu bleiben. Einige Meter weiter Wagenwäsche im Fluß.

Die einzige ausgebaute Straßenverbindung von Mazar nach Kunduz (und danach weiter nach Kabul) geht über 290 km über Pol-e Khomri im Südosten. Der Wiederaufbau der zerstörten West-Ost-Straße verkürzt die Strecke um ein Drittel auf 160 km. Umgangen wird damit zugleich die enge, 300 Meter tiefe Schlucht des Khulm-Flusses (Tangi Tashkurgan) , die bei einem Erdrutsch oder Erdbeben völlig unpassierbar werden könnte. Es ist ein Projekt von hoher Priorität.

Gerade wird an dem ersten Bauabschnitt von 8 km gearbeitet. Ende des Jahres soll der fertig gestellt sein. Flankiert wird das Straßenbauprojekt durch Begleitmaßnahmen: komplette Schulbuchsätze für zwei Schulen und Instandsetzungsmaßnahmen, Solarenergie für den OP-Bereich und die Apotheke des Krankenhauses.

Direkt neben einer Moschee wurde ein 138 Meter tiefer Brunnen errichtet. Die Solarpumpe fördert täglich 5-10.000 Liter sauberes Trinkwasser für 1.000 Menschen. Das reduziert die Magen- und Darmerkrankungen. Bisher hatten die Menschen ihr „Trinkwasser" aus Gräben schöpfen und etliche Kilometer tragen müssen. Auch wenn die Zeit drängt, will uns M.S. noch unbedingt einen anderen Aufbauerfolg zeigen. Über die Ringstraße fahren wir durch die spektakuläre Schlucht des Khulm-Flusses im sich weitenden Tal zu einer eingefassten Quelle, durch die der Fluss jetzt ganzjährig Wasser bekommt. „Wasser ist hier immer der erste Wunsch!" sagt der Ingenieur.

Auf dem Weg dorthin passieren wir den Bagh-e Jahannameh Palast, errichtet unter Abdur Rahman Khan im späten 19. Jahrhundert im indischen Kolonialstil.

Khulm hat ca. 30.000 Einwohner, mit Randgebieten sind es 60.000. Die Bevölkerung ist konservativ und zugleich aufgeschlossen, die Gegend gilt als sehr sicher.

Eine Grundaversion bestehe gegenüber den USA. Die könnten machen, was sie wollen. Zugleich wachse eine Grundstimmung, wonach die Taliban zunehmend als Ordnungsfaktor gelten.

Am 24. Dezember 2010 wurde M.S., der zusammen mit drei Afghanen in einem Fahrzeug am Straßenprojekt unterwegs war, bei Kharschhargan von zwei Männern auf Motorrad beschossen. M.S. wurde schwer, ein Mitfahrer leicht verletzt. Die Verletzten wurden im Bundeswehrlazarett von Camp Marmal behandelt. M.S. starb kurz nach Mitternacht.

Er galt als Vorbild. Er wird es bleiben.

In Mazar-e Sharif Besuch einer Rule-of-Law-Versammlung im früheren Deutschen Haus: Aus sechs Distrikten sind hier die Chefs von Staatsanwaltschaft und Polizei versammelt. Moderatoren sind zwei Jura-Professoren, die früher Staatsanwälte waren. Ich frage nach den größten Problemen. Das sind zu allererst die viel zu niedrigen Personalstärken. In einem Distrikt mit 64 Dörfern und über 100.000 Einwohnern sieht der Stellenplan 90 Polizisten vor. In Wirklichkeit sind nur 64 vor Ort. 25 Polizisten sind außerhalb im Einsatz. In einem anderen Distrikt sind 45 Polizisten für 185.000 Einwohner vorgesehen. Das zweit drängendste Problem sei die mangelhafte Ausstattung. Die Gesprächsatmosphäre ist sehr lebendig.

Solche Veranstaltungen mit 30-40 Teilnehmern finden alle drei bis vier Wochen statt. Bisher organisierten die RoL-Experten 75 solcher Workshops.

Zum dritten Mal seit 2008 und 2009 besuche ich das Teacher Training College in Mazar, heute erstmalig in dem mit KfW-Geldern neu errichteten Gebäude. Bei den früheren Gesprächen mit Studierenden und Lehrpersonen war mir die starke Motivation dieser Menschen aufgefallen. Es waren die hoffnungsvollsten Begegnungen bei all meinen Afghanistanreisen. Die angeschlossenen Wohnheime bieten Platz für jeweils 300 Frauen und Männer. Wegen der Schulferien treffe ich dieses Mal nur einige pädagogische Mitarbeiterinnen und den Schulleiter. Zum TTC Mazar gehören fünf Sub-TTC`s und zehn Experimentalschulen. Provinzweit sind ca. 1.500 Studierende in der Ausbildung und 2.250 in der Lehrerfortbildung. GTZ und DED finanzieren afghanische Didaktikexpertinnen.

(In der Kriegszeit waren zwei Drittel der 473 Schulen der Provinz Balkh zerstört oder beschädigt worden. In Mazar hat nur die Hälfte der Lehrerinnen und Lehrer einen Ausbildungsabschluss, auf dem Land sind es nur 8%. 2007 nahm in Mazar eine Lehrerausbildungsstätte mit Unterstützung der GTZ wieder ihre Arbeit auf.)

Deutsche Entwicklungszusammenarbeit förderte in fünf Provinzen des Nordens die Errichtung von Teacher Training Colleges. Bis 2013 sollen jährlich 9.000 Studierende die Colleges absolvieren.

Im Camp Marmal Gespräch mit deutschen Experten der GTZ für Fluglotsenausbildung (Flight Controller Training). In der Region um Mazar leben fast eine Million Menschen. Den Internationalen Flughafen Mazar nutzen zzt. mehr als 100.000 Passagiere pro Jahr. Nach dem von Deutschland (KfW) und Vereinigten Arabischen Emiraten finanzierten Ausbau im Januar 2012 sollen es mehr als 400.000 sein. Der Flughafen ist sieben Tage die Woche rund um die Uhr in Betrieb und benötigt 18 Fluglotsen. Bisher gibt es keine afghanischen Fluglotsen. Sie werden von ISAF gestellt, in Mazar sind es zehn der Bundeswehr. In Kabul existiert wohl ein Institut für Flugsicherung. Es soll aber bisher wenig produktiv sein.

Die Fluglotsenausbildung in Mazar startete Anfang 2010 und soll bis 2013 gehen. Von den anfangs über 200 Auszubildenden sind noch 47 in zwei Kursen übrig. Die sechs deutschen Trainer kommen jeweils für einen Monat her. Elementares Grundwissen (Unterscheidung von Himmelsrichtungen, von rot und grün) muss vermittelt, anfängliche Scheu, Fragen zu stellen (man will den Lehrer nicht bloßstellen), überwunden werden. Ende des Jahres soll die Ausbildung am Simulator beginnen.

Die Einnahmen aus der Flugsicherung sind erheblich und bilden zzt. den zweithöchsten Einnahmeposten im Staatshaushalt. Die Gebühren (z.B. 500 US-$ für die Überquerung des afghanischen Luftraums) müssen aber für die Flugsicherung eingesetzt werden. Die Deutsche Flugsicherung (DFS), die als eine der besten der Welt gelte, ist hier zunehmend beratend tätig. Man drängt auf den Aufbau einer Flugsicherungsorganisation, für die auch wieder qualifiziertes Personal gebraucht wird.

Hier gebe es jede Menge Chancen. Es wäre ein Jammer, wenn die künftigen Fluglotsen mit ihren 90 US-$ Lohn zzt. abgeworben werden könnten.

Die deutschen Trainer sind unbürokratisch beim German Police Project Team untergebracht. Man arbeite sehr gut mit Bundeswehr und Bundesinnenministerium zusammen. Es ergeht der Appell, die folgenden Ausbildungsvorhaben nicht fremdzuvergeben, sondern selber zu übernehmen.

Abendrunde mit elf Entwicklungsexperten im neuen Deutschen Haus. Der neue Komplex liegt unweit des Bazar, besteht aus mehreren Gebäuden und ist zwei- bis dreimal so groß wie das frühere Deutsche Haus. Ich treffe wieder Stefan O., dem ich zuletzt im September 2009 in Kabul begegnete und vor Jahren in Tiflis/Georgien. Einzelne sind seit 2007/8 in Afghanistan, mehrere seit wenigen Monaten. Der Anteil junger Frauen und Männer unter den Experten ist auffällig groß.

- Angesichts der politischen Großwetterlage besteht ein großer Wirkungs- und Erfolgsdruck.

- Deutsche NGO`s gibt es im Norden nur noch wenige: Die Dt. Welthungerhilfe arbeitet seit 1980 in Afghanistan, hat sich aber seit einigen Jahren aus Kunduz zurückgezogen. (Zzt. Förderung des Anbaus von Ölrosen in drei Distrikten der Ostprovinz Nangarhar, aus denen Rosenöl und -wasser gewonnen wird. Die Nachfrage ist hoch, das Einkommen solide.) Am breitesten ist im Norden KinderBerg International e.V. aktiv. Seit Februar 2002 in Afghanistan führt KBI seit Ende 2006 das vom AA vollfinanzierte Projekt „Community-Building in Nord-Afghanistan" in den Provinzen Kunduz, Takhar und Badakhshan durch. Im Mittelpunkt steht der Aufbau einer basismedizinischen Grundversorgung. KBI arbeitet mit dem afghanischen Gesundheitsministerium, mit den informellen, traditionellen Strukturen und der Bundeswehr zusammen. (www.kinderberg.org) Der Afghanische Frauenverein e.V. (Vorsitzende Nadia Nashir-Karim) fördert Projekte in Nord- und Südostafghanistan: Brunnenbau in der Provinz Kunduz, Distrikt Daste Archi und Qalai Zal, die Khazani Jungen- und Mädchenschule bei Kunduz mit 1.000 Mädchen und Jungen, die kleine Schule im Dorf Nurzai, Distrikt Chahar Darreh/Kunduz mit 50 Mädchen und Jungen. (www.afghanischer-frauenverein.de) „Afghanistan-Schulen", 1983 von Ursula Nölle gegründet, unterstützt vor allem Schulprojekte im Nordwesten um Andkhoi. Der Dachverband des afghanischen medizinischen Fachpersonals (DAMF e.V.) führte medizinische Ausbildungskurse u.a. in Mazar und Kunduz durch. Katachel e.V. (Vorsitzende Sybille Schnehage) arbeitet seit 1994 in der Provinz Kunduz, ausgehend von dem Dorf Katachel. Insgesamt wurden bisher mit erheblicher Unterstützung von AA und BMZ 24 Schulen errichtet und ausgestattet (u.a. in Ali Abad, Omar Khel, Chahar Darreh), außerdem Brunnenbau, Brücken- und Straßenbau, Ausbildungsvorhaben. (www.katachel.de)

- Die US-Aufbauoffensive stehe noch am Anfang. Von den angekündigten 90 Millionen US-$ für Badakhshan und den 600-700 Millionen für den Norden sei noch nichts zu sehen. Aber die Amerikaner repräsentieren einen Geldstrom, die GTZ ein „Bächlein".

- Im Rahmen des National Solidarity Program (NSP) bieten die gewählten Gemeindeentwicklungsräte eine flächendeckende, gute Struktur für die Entwicklungszusammenarbeit auf Dorf- und Distriktebene. In der Provinz Kunduz gibt es 719 dieser Councils (landesweit in zwei Drittel aller Dörfer). Die GTZ bietet seit Mai 2008 in Kunduz, Takhar und Badakhshan Trainings für Finanzmanagement, Beschaffungswesen, technische Grundbildung an.

- Zur zivil-militärischen Zusammenarbeit: Eine zivile Leitung von PRT`s sei inzwischen denkbar. (Einige Tage vorher im PRT Kunduz drängte darauf vor allem ein Bundeswehroffizier.) Ein anderes Problem sei, dass Bundeswehr in viele Teile der Region gar nicht dürfe. Zum Beispiel habe man Bundeswehrunterstützung beim Transport von Dynamit für den Straßenbau benötigt, diese aber nicht bekommen. Es war außerhalb des Aktionskreises der Bundeswehr.

- Bei der Nothilfe sei das größte Problem die schnelle Personalfluktuation: Da gebe es ein erstes Gespräch - und nichts weiter folge. Eine nur deutsche Runde reiche nicht, Afghanen müssten dabei sein.

- Der Diskurs in Deutschland und anderswo um angeblich unrealistische Aufbauziele, die jetzt reduziert werden müssten, sei hier nicht spürbar, auch nicht beim Genderprojekt.

Das anschließende leckere Iftar-Essen (Fastenbrechen im Ramadan) im Garten des Deutschen Hauses schließt einen Afghanistan-Tag ab, wie es ihn nach deutscher Wahrnehmung gar nicht geben kann: friedlich, hoffnungsvoll - und bei alledem nüchtern. Um die entspannte und lockere Runde nicht abzubrechen, gehe ich nicht auf das Angebot ein, mal eben noch einen Spaziergang zur Blauen Moschee zu machen.

Dankbar bin ich für die heutigen Erfahrungen und vor allem Begegnungen. Es sind schon tolle Frauen und Männer, die sich hier im Auftrag der Bundesregierung für Aufbau und Entwicklung in Afghanistan engagieren.

(Der Bericht über die gesamte Reise ist noch in Arbeit.)

Fotos

Straße im Bau und Hauptstraße in Khulm (aus dem Wagen von M.S. fotografiert)

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