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Eigene Geschichte im Vordergrund statt falsche Kontinuitäten - Vorschläge zur bundeswehreigenen Traditionspflege (Artikel in "Gegen Vergessen - Für Demokratie")

Veröffentlicht von: Nachtwei am 27. November 2018 22:06:06 +01:00 (108635 Aufrufe)

Streitkräfte, die -erstmalig in der deutschen Geschichte - der Wahrung des Friedens und dem demokratischen Rechtsstaat verpflichtet und an das Völkerrecht gebunden sind, brauchen ein gemeinsames Selbstverständnis. Traditionspflege kann + sollte leistet dazu beitragen. Es reicht ganz und gar nicht, wenn militärische Traditionspflege nur dann in Öffentlichkeit und Politik interessiert, wenn Verdacht auf Wehrmachtsbeschönigung besteht. Überfällig ist der Blick auf Ereignisse, Personen, Entwicklungen, die als beispiel- und vorbildhaft, gar traditionswürdig gelten können. Dazu mache ich Vorschläge.  

Eigene Geschichte im Vordergrund statt falsche Kontinuitäten –

Vorschläge zur bundeswehreigenen Traditionspflege

Winfried Nachtwei

(erschienen in „GEGEN VERGESSEN – FÜR DEMOKRATIE, Heft 98 November 2018, hrg. von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. Berlin, https://www.gegen-vergessen.de/fileadmin/user_upload/Gegen_Vergessen/Mitgliederzeitschrift/GVFD-Magazin_98-2018_web.pdf , S. 24 ff.)

In Politik und Öffentlichkeit wird militärische Traditionspflege in der Regel nur dann zu einem Thema, wenn etwas „passiert“ ist und Verdacht auf Wehrmachtsverharmlosung besteht. So war es auch 2017, als Verteidigungsministerin von der Leyen nach skandalträchtigen Vorkommnissen in der Truppe eine Überarbeitung des Traditionserlasses von 1982 anordnete. Dies war auch überfällig. Denn in 35 Jahren hatte sich Entscheidendes geändert: Ende des Ost-West-Konflikts, der neue Auftrag Krisenbewältigung, erste Kriegserfahrungen, die fortschreitende multinationale Integration, die volle Öffnung der Bundeswehr für Frauen und die Aussetzung der Wehrpflicht, die schärfere Bewertung der Wehrmacht und das Abtreten der Kriegsgeneration.

Stellenwert von Tradition in der Bundeswehr

Streitkräfte haben generell einen besonderen Bedarf an gemeinsamem Selbstverständnis, an innerem Zusammenhalt und damit auch an Vorbildern und Traditionen.

Die konkreten Traditionsbedürfnisse in der Bundeswehr sind sehr verschieden je nach Truppengattungen und Verbänden, nach Nähe und Ferne zum militärischen Kampf. Hauptträger von Traditionen sind Verbände. Bei der jüngsten Überarbeitung des Traditionserlasses wurde erstmalig auch nach den Traditionsbedürfnissen der Soldaten gefragt.

Tradition ist laut Erlass ein Prozess der „wertegeleiteten Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“ und zu unterscheiden von Brauchtum einerseits und (Militär-)Geschichte andererseits. In Streitkräften, die auf das Grundgesetz und das Völkerrecht verpflichtet sind und deren Soldaten eben keine Söldner sein sollen, gehören das WIE und das WOFÜR des soldatischen Verhaltens und Handelns untrennbar zusammen. Militärische Leistungen können militärfachlich sehr lehrreich und auch erinnernswert sein. Für sich allein und losgelöst vom WOFÜR und den Grundwerten des Soldatenberufs im Rechtsstaat können sie aber nicht traditionswürdig sein. Wehrmachtsverbände sind also generell nicht traditionswürdig.

Welche Ereignisse, Operationen und Personen aus der Bundeswehrgeschichte, aus der deutschen (Militär-)Geschichte sind für Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr beispielhaft, vorbildhaft, vielleicht traditionswürdig? Womit können sich Bundeswehr-soldaten identifizieren, worauf können sie berechtigt stolz sein?

Militärische Traditionen erlauben Rückschlüsse auf das Selbstverständnis und den Geist von Streitkräften. Sie beeinflussen ihr Bild in der Öffentlichkeit, das Vertrauen in ihren Friedens- und Schutzauftrag und damit auch ihre Akzeptanz. Insofern sind militärische Traditionen nicht einfach eine innere Angelegenheit der Truppe. Sie sollten auch gegenüber der Gesellschaft verständlich sein und überzeugen können. Dafür ist von entscheidender Bedeutung, dass die Traditionspflege glaubwürdig und ehrlich ist, Grautöne benennt und berechtigtes Selbstbewusstsein nicht mit Schönrednerei und Selbstbeweihräucherung verwechselt.

Vorschläge zu einer bundeswehreigenen Traditionsbildung

Jahrelang galt mein Hauptinteresse den Schattenseiten der Traditionspflege der Bundeswehr. Als Fachpolitiker im Verteidigungsausschuss wussten wir immer schnell, was nicht ging.

Konstruktive Vorschläge waren nicht unsere Stärke.

Der neue Traditionserlass richtet den Fokus auf über 60 Jahre Bundeswehrgeschichte – zu Recht. Konkrete Vorschläge zur bundeswehreigenen Traditionspflege mache ich vor dem Hintergrund zahlloser Begegnungen mit Bundeswehrangehörigen und rund vierzig Besuche in Einsatzgebieten seit Mitte der 1990er Jahre  – und vor dem Hintergrund langjähriger Beschäftigung mit dem deutschen Vernichtungskrieg im Osten, mit Kolonialkriegen und dem Vietnamkrieg. Die folgenden Ereignisse, Verhaltensweisen, Personen halte ich für beispiel- und vorbildhaft, zum Teil auch traditionswürdig. Sie wurden in Vorträgen bei Veranstaltungen des Heeres ausführlich dargestellt. (Erhältlich über den Autor) Bei allem Beispielhaftem spreche ich auch Schattenseiten, zwiespältige und schlechte Traditionen an.

Die frühe Bundeswehr Mitte der 60er Jahre: Die erste Wehrpflichtarmee in und für die Demokratie auf deutschem Boden! Wesentlich  mit aufgebaut von 40.000 ehemaligen Wehrmachtsangehörigen, von denen viele den fundamentalen Wandel zu einer neuen Art von Armee mittrugen. Auch wenn der Ton damals rauer war. Der Autor erlebte den „Staatsbürger in Uniform“, wo ein Soldat mehr verbriefte Rechte hatte als ein Student an der damaligen Ordinarien-Uni.

Internationale Hilfseinsätze begannen 1960 mit der Erdbebenhilfe für Agadir/Marokko. Seitdem leistete die Bundeswehr über 130 internationale Hilfseinsätze. Mit der Hamburger Sturmflut 1962 begann die Traditionslinie der innerdeutschen Katastrophenhilfe der Bundeswehr.

Bundeswehr im Kalten Krieg: Der Wille zur Kriegsverhütung und Friedenssicherung war ein historischer Paradigmenwechsel. Bei Großübungen bewährte sich der deutsche Führungs-prozess. Zusammen mit der praktizierten transatlantischen und westeuropäischen Integration entstanden hier zentrale Traditionslinien.

Dass dies einherging mit enormer Hochrüstung, mit der Gratwanderung der atomaren Abschreckung und „Heimatverteidigung“, die mehrfach knapp am Super-GAU vorbeischrammte, ist sehr erinnernswert, aber sicher nicht traditionswürdig.

Rückkehr des Krieges nach Europa: Von 1992 1996 unterstützte die Bundesluftwaffe mit 1.412 Hilfsflügen die Luftbrücke in das belagerte Sarajevo. Mit einer Spitzendelegation meiner Fraktion besuchte ich im Oktober 1996 das kriegszerstörte Bosnien. Ein Jahr nach dem Friedensvertrag von Dayton wurde für uns Kritiker von Auslandseinsätzen am Hang von Sarajevo die Erkenntnis unausweichlich, dass in bestimmten Situationen zum Schutz vor Massengewalt der Einsatz militärischer Gewalt notwendig, legitim und verantwortbar sein kann. Bei IFOR begegneten uns Bundeswehrsoldaten, die unter General Riechmann den VN-Auftrag der Kriegsverhütung überzeugt in die Tat umsetzten. Das Kommando Spezialkräfte  führte mehrere Zugriffsoperationen gegen mutmaßliche Kriegsverbrecher durch, die dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien überstellt wurden. Als im September 2012 nach 17 Jahren die deutsche Beteiligung am multinationalen Bosnieneinsatz endete, hatte die Bundeswehr gewaltarm, erfolgreich und vorbildhaft zum Auftrag Kriegsverhütung in Bosnien beigetragen. Wahrlich ein Grund, stolz darauf zu sein! Hierzulande fand dieser Großerfolg  keine Beachtung und wurde weitgehend vergessen.

Nachkriegsstabilisierung im Kosovo: Der Kosovo-Luftkrieg der NATO 1999 geschah ohne ein UN-Mandat und ist bis heute heftig umstritten. Letztlich wurde aber die Totalvertreibung der Kosovo-Albaner verhindert, ihre Massenvertreibung rückgängig gemacht. Sehr erinnerungswert, aber wenig traditionswürdig war der Rückschlag der Märzunruhen 2004. Umso mehr wurde danach aus Fehlern gelernt.

Afghanistan: vom Stabilisierungseinsatz zur Aufstandsbekämpfung: Bei einem Besuch in Kunduz im Mai 2007 waren die Aufbaufortschritte auffällig. Zwei Wochen später der Schock: Auf dem Markt fielen drei Bundeswehrsoldaten und sieben afghanische Zivilisten einem Selbstmordattentäter zum Opfer. Die Solidaritätsresolution der Rechtsgelehrten, Ältesten, Lehrerschaft, Schüler und Handwerksgenossenschaft der Provinz Kunduz erklärte, die Anwesenheit des deutschen PRT sei so „notwendig wie das Wasser zum Leben.“ Die schrittweise Verschlechterung der Sicherheitslage seitdem wurde in Berlin schöngeredet und verdrängt. Zutage trat eine beispielhaft schlechte Tradition.

Im Krieg: Am 29. April geriet eine Patrouille des PRT Kunduz in einen komplexen, militärisch geführten Hinterhalt. Der Hauptgefreite Sergej Motz vom Jägerbataillon 292 fiel als erster Bundeswehrsoldat im Gefecht.

Am 4. Juni 2009 behaupteten sich Kräfte der Quick Reaction Force (QRF) 3 in einem fünfstündigen Gefecht gegen bis zu 100 Aufständische ohne Verluste. Hauptfeldwebel Jan Hecht schilderte später, wie hervorragend selbständig seine Soldaten sich dabei bewährten und Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nahmen.

Mit der QRF 5 führte ab April 2010 erstmalig ein Gefechtsverband der Bundeswehr geschlossen über mehrere Monate außerhalb des Feldlagers einen Kampfeinsatz in der Provinz Baghlan. Hier gelang es in offensiver Operationsführung, die Aufständischen zurückzudrängen und Aufbaumaßnahmen zu ermöglichen. Das geschah in Abstimmung mit Ältesten, entschlossen, klug und mit besonderer Rücksicht auf die Bevölkerung.

(Dass der ISAF-Einsatz 2014 kein sicheres Umfeld zurückließ, lag an strategischen Fehlern des internationalen Einsatzes und einem kollektiven politischen Führungsversagen in maßgeblichen Hauptstädten.)

Die von mir geleitete unabhängige G36-Kommission brachte umfassende Einblicke in die scharfen Seiten der deutschen Auslandseinsätze. Militärische Gewalt wurde insgesamt zurückhaltend bis gar nicht, in der kriegerischen Phase des ISAF-Einsatzes auf der taktischen Ebene insgesamt kontrolliert und wirksam eingesetzt. Bei den über 150 befragten infanteristischen Kämpfern war der Staatsbürger in Uniform noch deutlich erkennbar.

Hoch angesehen sind die unbewaffneten deutschen Militärbeobachter In extrem fordernden UN-Missionen.

Andere Kameraden und Partner: Schon lange selbstverständlich ist die Multinationalität. Oft haben Bundeswehrsoldaten auch vorbildhaftes Verhalten bei verbündeten Kameraden erlebt. 14 US-Soldaten wurden im Mai 2010 mit dem Ehrenkreuz der Bundeswehr in Gold ausgezeichnet, weil sie beim Karfreitagsgefecht unter schwerem Beschuss tote und verwundete Bundeswehrsoldaten mit ihren Hubschraubern ausgeflogen hatten.

Im Stabsgebäude des Deutsch-Niederländischen Korps in Münster befand sich zur Kriegszeit der Sitz des Befehlshabers im Wehrkreis VI, aus dem 14 Divisionen in den Angriffskrieg gegen die europäischen Nachbarn geschickt wurden. Die seit 22 Jahren bestehende enge militärische Integration der ehemaligen Kriegsgegner ist ein Vertrauensbeweis sondergleichen. Das Korps ist zugleich ein Pionier des vernetzen Ansatzes, der Zusammenarbeit mit Polizisten, Diplomaten und Zivilexperten. Diese Tradition im Werden zeigt seit 2013 alljährlich am Tag des Peacekeepers Gesicht.

Wenn solche und andere Fälle von beispielhaftem Verhalten bekannt gemacht werden, können sie Identifikation und Zusammenhalt in einer Bundeswehr, die für kollektive Friedenssicherung steht, fördern und zugleich große Teile der Bevölkerung erreichen.

Das muss aber einhergehen mit einer Wirkungsbilanz der Einsätze, mit einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, mit verstärkter historisch-politischer Bildung in der Bundeswehr. Eine Traditionspflege, die gängige Schönrednerei auf den Umgang mit der eigenen Geschichte ausdehnt, wäre kontraproduktiv. Eine selbstbewusste und ehrliche Traditionspflege in der Parlamentsarmee Bundeswehr braucht nicht zuletzt das konstruktive, nicht nur reaktive  Interesse von Politik und Gesellschaft.

Winfried Nachtwei war 1994-2009 Mitglied des Bundestages (Verteidigungsausschuss) und ab 2002 sicherheits- und abrüstungspolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Er ist Mitglied des Beirats Innere Führung/Verteidigungsministerium und des Beirats Zivile Krisenprävention der Bundesregierung sowie des Vorstandes von Gegen Vergessen – Für Demokratie und der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen.

Hinweis: Viele Beiträge zu Auslandseinsätzen, Erinnerungsarbeit, Friedens- und Sicherheitspolitik  unter www.nachtwei.de


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

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