Am 27, August wurde im und vorm Historischen Rathaus von Münster, der Stadt des Westfälischen Friedens, das 20-jährige Bestehen des 1. Deutsch-Niederländischen Korps begangen, in Anwesenheit des niederländischen Königs Willem-Alexander und der NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft. Einen so tief integrierten multinationalen Militärverband gibt es nicht noch einmal in Europa. Seine historische Einmaligkeit wird besonders deutlich beim Blick auf seine Vorgänger im Stabsgebäude am Schlossplatz - vor 75 Jahren, vor 32 Jahren.
20 Jahre Deutsch-Niederländisches Korps in Münster–
Positive Kontinuitätsbrüche, friedenspolitische Chancen
Winfried Nachtwei[1], MdB a.D. (August 2015)
Fotos unter www.facebook.com/winfried.nachtwei
Am 27. August 2015 beging das I. Deutsch-Niederländische Korps (1 (GE/NL) Corps) in Münster sein zwanzigjähriges Bestehen – und zehn Jahre Partnerschaft der Stadt Münster mit dem Korps. (http://1gnc.org/ ) Das Jubiläum begann mit einem Festakt im Historischen Rathaus, bei dem der Kommandierende General des Korps, Generalleutnant Volker Halbauer, Oberbürgermeister Markus Lewe, Generalinspekteur Volker Wieker, Chief of Defence General Tom Middendorp – und ein niederländischer Kabarettist sprachen. (Bisher ist nur die Rede des niederländischen General zugänglich: https://www.defensie.nl/actueel/nieuws/2015/08/27/20-jaar-1-gnc , https://www.defensie.nl/english ;)
Nach Empfang des Ehrengastes Willem-Alexander, König der Niederlande, im historischen Friedenssaal folgte vor dem Rathaus auf dem Prinzipalmarkt vor ca. 1.000 Zuschauern eine vergleichsweise bescheidene Militärparade – mit 30 Waffenträgern, ca. 100 unbewaffneten Uniformträgern verschiedener Nationalitäten und dem Luftwaffenmusikkorps Münster. Wahrlich keine militärische Machtdemonstration. Nach einer kurzen Rede verlieh NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft dem 1. Korps das Fahnenband des Landes NRW. Die Feier fand am Geburtsort der Niederlande statt: Mit dem „Vrede von Münster“ zwischen Spanien und den Niederlanden endete ein 80-jähriger Krieg und erlangten die Niederlande ihre Unabhängigkeit.
Über Münster heißt es, hier würde es entweder regnen oder die Glocken läuten. Heute geschah beides. Im Innenhof des – auch historischen - Korps-Gebäudes am Schlossplatz folgte dann das alljährliche Korps-Biwak.
Die lokale Medienberichterstattung kreiste überwiegend um den sympathischen König und zelebrierte schulterklopfende Geburtstagsstimmung.
Die CDU betonte im Vorfeld, das Korps sei „eine wichtige Einrichtung zur Friedenssicherung und (stehe) in der Tradition Münsters als Garnisonsstadt“. Die SPD nannte das Korps „ein leuchtendes Beispiel für die europäische Integration und den Einsatz für Frieden und Freiheit in Europa.“ Die Grünen erinnerten an die historischen Besonderheiten des Korps und betonten, dass Konflikte politisch gelöst werden müssten. (http://www.grüne-münster.de/2015/gruene-zum-geburtstag-des-deutsch-niederlaendischen-korps-konflikte-muessen-politisch-und-nicht-militaerisch-geloest-werden/ )
Ohne Rücksicht auf konkrete Tatsachen warf die LINKE dem Korps Verwicklung in die „NATO-Kriegspolitik“ vor. Über einen längeren Zeitraum habe das Korps „den Krieg in Afghanistan, welcher aus rein wirtschaftlichen Interessen geführt wird und die Probleme vor Ort nicht lösen kann, koordiniert.“ Als „sogenannte Speerspitze Ost“ solle das Korps „in einer möglichen Eskalation mit Russland fungieren“. Militärische Zeremonien würden auch immer dazu dienen, „die Bevölkerung von der angeblichen Notwendigkeit von Krieg und Militär zu überzeugen.“
Die historische Einmaligkeit des Deutsch-Niederländischen Korps wird deutlich vor dem Hintergrund seiner Vorgänger im Stabsgebäude am Schlossplatz (früher Hindenburgplatz).
Angriff gegen die Nachbarn
In dem Ende der 20er Jahre errichteten Gebäude befand sich im Jahr 1940 das Generalkommando des VI. Armeekorps der Wehrmacht und der Befehlshaber des Wehrkreises VI (Rheinland und Westfalen). Von hier wurden insgesamt 14 Divisionen in den Krieg gegen die europäischen Nachbarn geschickt, der Großteil davon in den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion.[2] Vor 75 Jahren, am 10. Mai 1940 griffen 29 Divisionen der Heeresgruppe B Holland und Belgien an, darunter aus dem Wehrkreis VI die 227. und die 253. Infanterie-Division.
Zum Beispiel die 227. Infanterie-Division aus Krefeld: Aus dem Raum Gronau Vorstoß über die holländische Grenze an Enschede vorbei Richtung Deventer. Fort Pannerden, Kämpfe an der Grebbelinie, Gent, Zwolle, Amersfort. Am Grebbeberg nahe Rheinen leisteten die Niederländer mehrere Tage unter großen Verlusten erbitterten Widerstand. Hierzu ausführlich die Webseite „de Slag om de Grebbeberg“. Dort auch Wehrmachtsberichte und –befehle, darunter Auszüge aus den Kriegstagebüchern der 227. ID und des SS-Regiments “Der Führer” (http://www.grebbeberg.nl/index.php?page=duitse-militaire-rapporten ) Der damals 7-Jährige Cor Crums erinnerte sich im März 2011 im Gespräch mit Schülern aus Almelo und Ostbevern/Münsterland an die Kämpfe am Grebbeberg und das Leben unter der deutschen Besatzung. Initiiert hatten das bi-nationale Projekt Horst Wiechers von „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ und Stefan Querl vom Geschichtsort Villa ten Hompel in Münster.
Zum Beispiel die 16. Panzerdivision. Das Denkmal der 16. Panzer-Division steht – von den wenigsten wahrgenommen - am Kalkmarkt jenseits des Parkplatzes hinter „Zigarren Lammerding“. Ihre Vorläuferin, 16. Infanterie-Division nahm am Überfall auf Luxemburg, Belgien und Frankreich teil. Im Juli wurden ihre rückkehrenden Verbände in den Heimatgarnisonen (in Münster auf dem Prinzipalmarkt) bei Paraden bejubelt.
Im Juni 1941 gehörte die westfälische 16. Panzerdivision beim Angriff auf die Sowjetunion zu der mit über 3 Millionen Soldaten größten Angriffsstreitmacht der Geschichte. Stationen der Division waren
- der Uman-Kessel im August 1941, wobei 15 sowjetische Divisionen vernichtet und 100.000 sowjetische Soldaten gefangen genommen wurden;
- Nikolajew am Schwarzen Meer, wo einen Tag später (17.8.) das Sonderkommando 11a von Sicherheitspolizei und SD eintraf. Bis zum 31.8.1942 ermordete das Kommando ca. 5.000 der 20.000 jüdischen Einwohner von Nikolajew;
- die Kesselschlacht bei Kiew im September 1941, wo 51 russische Divisionen vernichtet wurden und 665.000 Sowjetsoldaten in Gefangenschaft gerieten;
- der Charkow-Kessel im Mai 1942: allein 31.500 Gefangene durch die 16. Pz.-Div., eigene Verluste 700 Mann, insgesamt 240.000 Gefangene.
„Bis zum Februar 1942 waren von den etwa 3,3 Millionen sowjetische Soldaten, die bis dahin in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren, rund zwei Millionen gestorben – verhungert, erfroren, von Seuchen hingerafft und erschossen.“ (Reinhard Rürup (Hrsg.): Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941-1945, Berlin 1991, S. 108)
Die 16. Panzerdivision galt 1942 als „Speerspitze der 6. Armee“. Sie erreichte als erster Wehrmachtsverband am 23. August 1942 die Wolga nördlich Stalingrad. Schon Mitte November lagen die Leichen von über 4.000 ihrer Männer auf dem Divisionsfriedhof an der Bahnstrecke Nord-Stalingrad -Frolow. Nur 128 ihrer Soldaten kehrten nach Jahren der Gefangenschaft wieder in die Heimat zurück. („Stalingrad vor 70 Jahren - eine Division aus Münster + Westfalen, Speerspitze im Vernichtungskrieg, vernichtet in Stalingrad“,
http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1187 )
Atomarer Heimatschutz
Das I. Korps der Bundeswehr entstand 1956 und wurde mit ca. 105.000 und fünf Divisionen zum stärksten Großverband des Heeres.
1983 demonstrierte die damalige Friedensbewegung auch vor dem Gebäude des I. Korps der Bundeswehr gegen die geplante Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland („Nachrüstung“) und das atomare Wettrüsten insgesamt. Dass wir damals mit 600 Demonstranten über zwei Tage symbolisch das Stabsgebäude blockierten und dafür bewusst Gerichtsverfahren in Kauf nahmen, begründeten wir mit der Einplanung von Truppenteilen des I. Korps in eine Art „atomare Heimatverteidigung“.
Aus meinem Artikel „Atomarer Heimatschutz – Münsters Beiträge zur Sicherung von Frieden und Freiheit“ im Münsteraner Stadtblatt 101982:
„Seine 12 Panzerartillerie-Bataillone verfügen über mehr als 200 Panzerhaubitzen M 109 G (203 mm), die Atomgranaten zwischen 0,1 und 5 Kilotonnen Sprengkraft bis 17 km nah verschießen können. Je eins solcher Bataillone mit 18 Geschützen liegt – mit Atomwaffenlagern anbei – in Münster-Handorf und Dülmen. Darüber hinaus verfügt das Korps über 6 Raketenartillerie-Bataillone, die zum Teil mit der Lance-Rakete ausgerüstet sind. Diese ist ausschließlich mit Atomsprengköpfen zwischen 5 und 10 Kilotonnen bestückt (Hiroshima-Bombe 13,5 KT), sie reicht 110 km weit. In dem offiziellen Band „25 Jahre I. Korps“ heißt es lapidar über die Hauptaufgabe des Korpsartillerieführers, „den Kommandierenden General bei allen Fragen des konventionellen und nuklearen Feuerkampfes zu beraten und in Schwerpunkten den Feuerkampf der gesamten Artillerie des Korps zu koordinieren.“ Ihm steht hierfür (…) „als Schwerpunktwaffe das RakArtBtl 150 (Wesel) zur Verfügung, das, ausgerüstet mit der Lenkrakete Lance, Ziele in der Tiefe des Gefechtsfeldes bekämpfen kann.“ (Osnabrück 1982, S. 73)
Wie diese Waffen auf dem Boden der Bundesrepublik eingesetzt würden, ist dem Taktik-Lehrbuch „Convential-Nuclear Operations“ einer Generalstabsschule der US-Army in Fort Leavenworth/Kansas zu entnehmen: Vor allem gegen feindliche Panzerverbände würden diese Atomwaffen eingesetzt, aber nicht einzeln, sondern in sog. „Paketen“ von mehr als hundert Gefechtsköpfen als „atomares Sperrfeuer“. Dabei ist die Schwelle zum Atomkrieg offenbar sehr niedrig. Taktisches Kalkül gibt den Ausschlag für den Einsatz der „Atomartillerie“. Da angesichts dieses Einsatzzwecks eine Freigabe der Atomwaffen durch den US-Präsidenten viel zu lange dauern wird, vermutet z.B. der Generalmajor a.D. Löser, dass Entscheidungen für den Einsatz solcher Waffen wesentlich auf Ebene der Korps fallen würden. Im Klartext: Einige Herren vom Hindenburgplatz haben vermutlich den Finger am atomaren Abzug, für den „Einstieg“ in den Atomkrieg könnten sie eines Tages mitverantwortlich sein!!
Atomwaffen von der Größe der Hiroshima-Bombe, gedacht für den Einsatz im eigenen Land gar – offensichtlich sind das keine einen Gegner abschreckenden Waffen. Sie sind Ausdruck der NATO-Strategie der flexiblen Reaktion, die – schon lange vor Reagan – von der Begrenzbarkeit eines Atomkrieges ausgeht. Sie verkehrt den Soldateneid in den Auftrag, notfalls „das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes total zu vernichten“. Überdies verstößt diese „Verteidigungsstrategie“ gegen das humanitäre Kriegsvölkerrecht.
Atomverweigerung
1957 wurden in der Bundesrepublik die ersten taktischen Atomwaffen stationiert. Dazu sagte der damalige Bundeskanzler Adenauer:
„Die taktischen Atomwaffen sind im Grunde nichts anderes als eine Weiterentwicklung der Artillerie“ und „das sind ja besonders normale Waffen in der normalen Bewaffnung.“
In der NATO-Stabsübung „Schwarzer Löwe“ – beteiligt war auch das I. Korps – protestierte ein beteiligter Offizier schriftlich dagegen, dass ein General mehrere bereits eingekesselte sowjetische Divisionen durch einen Atomschlag vernichtete, nur weil er einige Atomwaffen auf Lager hatte! Damals führte auch ein Generalleutnant Röttiger den Begriff des Atomverweigerers“ ein, des Soldaten, der nicht bereit ist, „den Einsatz von Massenvernichtungswaffen mit seinem Namen zu decken oder auch nur mitzudecken.“
(…) Seit den 50er Jahren sind die in Ost und West aufgehäuften Vernichtungsarsenale ins Unvorstellbare gewachsen, ist die Bundesrepublik zum Land mit der größten Atomwaffendichte der Welt geworden. Die „Atomverweigerung“ steht auf der Tagesordnung. (…)“ (http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1246 )
Seit einigen Jahren höre ich immer wieder - nicht selten von ehemaligen Mit-Demonstranten - Einschätzungen zur damaligen Situation,
- als sei die Friedensbewegung damals eine Art „Jugendsünde" und die atomare Abschreckung + westliche „Nachrüstung" letztendlich erfolgreich gewesen;
- als seien das damals, wo es noch um Landes- und Bündnisverteidigung ging, die „guten alten", übersichtlichen Zeiten gewesen, verglichen mit der heutigen sicherheits- und friedenspolitischen Unübersichtlichkeit, angesichts heutiger Einsatzrealitäten.
Vergessen wird dabei, wie krass damals der Verteidigungsgedanke („das Verteidigungswerte erhalten") auf den Kopf gestellt wurde. Was letztendlich glücklich mit Hilfe der unglaublich- friedlichen Revolutionen im Osten endete, war vorher mehrfach knapp an der totalen Katastrophe, an der Selbstvernichtung vorbeigeschrammt.
Wohl am knappsten im Jahr 1983, wie sich später, ab 1989, herausstellte:
1983 nahmen die Spannungen zwischen den Supermächten zu, verstärkt durch mehrere Ereignisse: die Ankündigung des Raketenabwehrprogramms SDI durch US-Präsident Reagan, der Abschuss eines koreanischen Passagierflugzeuges mit 269 Menschen an Bord am 1.9. durch sowjetische Abfangjäger. Am 26. September um 0.15 Uhr meldete das sowjetische Frühwarnsystem - fälschlich - den Abschuss erst einer, dann einer zweiten, dritten, vierten, fünften US-Interkontinentalrakete. Der diensthabende Leiter der sowjetischen Satellitenüberwachung, Oberstleutnant Stanislaw Petrow, wertete die 17 Minuten andauernden Alarmmeldungen als Fehlalarm - und verhinderte damit einen Atomkrieg. (FAZ 19.2.2013, www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/offizier-petrow-im-gespraech-der-rote-knopf-hat-nie-funktioniert-12084911.html Am 2. November 1983 begann die zehntägige NATO-Kommandostabsübung „Able Archer", bei der ein Atomkrieg simuliert wurde. Verschiedene Besonderheiten der Übung nährten auf Seiten des Warschauer Pakts den Verdacht, dass unter dem Deckmantel einer Übung ein tatsächlicher Nuklearschlag vorbereitet wurde. Die Streitkräfte des Warschauer Pakts wurden alarmiert. (Dazu die ZDF History Doku: „1983 - Die Welt am Abgrund", vom 30.4.2012 ,www.youtube.com/watch?v=Vc2S1SkPzCE ; vgl. auch „Planspiel Atomkrieg" zweiteilige Dokumentation von Thomas Fischer und Gabriele Trost (SWR), www.daserste.de/planspiel/ )
In den 80er Jahren wurden die Atomwaffen vor unserer Haustür von Verwaltung wie Lokalpresse strikt ignoriert. Meine Anfragen im Feuerwehrausschuss der Stadt Münster zur Einbeziehung dieser Risikopotenzials in den Katastrophenschutz wurden mit „nicht zuständig“ beantwortet.
Bei aller Kritik: Angesichts der Verabschiedung eines Kommandierenden Generals des I. Korps der Bundeswehr stellte ich ihm gegenüber fest, dass er zu Recht besonders stolz darauf sein könne, dass in seiner Zeit der Frieden zwischen den Blöcken gehalten habe, dass er in seiner Generalszufriedenheit keineswegs auf das Führen von Schlachten und Kriegen angewiesen sei – ganz im Gegensatz zu den insgesamt 35 Kommandierenden Generalen in Münster von 1802 bis 1945.
Integration und UN-Friedenssicherung: „Gemeinsam sind wir stark“
Die Auflösung des I. deutschen Korps in Münster und des 1. Niederländischen Corps in Apeldoorn zugunsten des neuen I. Deutsch-Niederländischen Korps im August 1995 stand im Kontext des enormen Streitkräfteabbaus nach Ende des Ost-West-Konflikts und war eine Premiere in der europäischen Geschichte. Die Initiative ging von der niederländischen Regierung aus.
Die Gründung des bi-nationalen (dann multinationalen) Korps war ein sicherheitspolitischer Fortschritt sondergleichen: 50 Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges bildeten ehemalige Kriegsgegner, das Land der Überfallenen und das Land des Aggressors, ein gemeinsames Korps-Hauptquartier, das jetzt aus einem Stab mit einer begrenzten Zahl an Korpstruppen, insgesamt ca. 1.100 Soldaten, besteht. Bei Bedarf sind dem Korps die 1. Panzerdivision in Hannover und die 1. Mechanisierte Division in Schaarsbergen unterstellt. Je nach Auftrag können dem Stab als Hauptquartier bis zu 80.000 Soldaten zugeordnet werden.
In einer Pressemitteilung vom August 1995 erklärte ich:
„Mit der Außerdienststellung des I. Korps der Bundeswehr geht eine nationale Tradition des Militärstandortes Münster zu Ende, die bis 1945 verheerend und während des atomaren Wettrüstens der 80er Jahre höchst umstritten war. Die Fusion der beiden Korps ehemaliger Kriegsgegner ist ein historischer Schritt weg von nationalstaatlich organisierter Sicherheitspolitik.
Zugleich entsteht mit dem bi-nationalen Korps kein Verband von ´Friedensreitern`. Entgegen der Devise des Westfälischen Friedens ´Pax optima rerum`(´Der Frieden ist das Beste`)heißt es im Rahmen des erweiterten Bundeswehr- und NATO-Auftrages nun ´Krieg ist der Ernstfall`.
Auch das Deutsch-Niederländische Korps ist Ausdruck einer Sicherheitspolitik, die einseitig vor allem auf militärische Mittel setzt und den Aufbau von Institutionen nichtmilitärischer Konfliktvorsorge und –bearbeitung sträflich vernachlässigt.“
ISAF-Einsätze: Von Februar bis August 2003 hatte der Stab des Deutsch-Niederländischen Korps die Führung der UN-mandatierten ISAF-Schutztruppe ISAF in Kabul. Im August besuchte ich Kabul im Auftrag der grünen Fraktion, um der Akutfrage nachzugehen, wieweit ein erweitertes internationales zivil-polizeilich-militärisches Engagement in Afghanistan notwendig und verantwortbar war. Massiv gefordert worden war das zeitgleich vom Chef des UN-Department of Peacekeeping Operations Jean-Marie Guehenno in seinem Bericht an den UN-Sicherheitsrat sowie dem „Call for Security“ von 85 internationalen NGO`s am 17. Juni 2003.
Aus meinem Reisebericht „Kabul im August 2003 - Afghanistanpolitik am Scheideweg“, August 2003:
„Münster-Gievenbeck 4.240 km“ (Wegweiser bei der German Heli Unit am Kabul International Airport)
Der ISAF-III-Stab unter Generalleutnant van Heyst und Generalmajor Bertholee (NL) als Stellvertreter kam vom Deutsch-Niederländischen Korps in Münster und setzte sich aus 49 niederländischen Offizieren, 40 deutschen und 49 weiteren aus 12 Nationen zusammen.
Vor dem Headquarter ISAF entsteht ein Foto mit den ISAF-Kommandeuren und dem Straßenschild „Hindenburgplatz“ im Hintergrund. Das Foto verweist nicht nur auf die Heimatadresse des Korps, sondern auch auf seine ganz andere Vorgeschichte. Im Dienstgebäude des GE-NL Korps war vor und während des 2. Weltkrieges der Stab des Wehrkreises VI untergebracht. Aus ihm wurden 14 Divisionen in den Krieg gegen die europäischen Nachbarn entsandt, gegen Polen, die Niederlande, Frankreich, Jugoslawien und vor allem die Sowjetunion.
Dass im GE-NL Korps seit Jahren frühere Kriegsgegner bestens zusammenarbeiten, dass sie jetzt gemeinsam ein halbes Jahr für Sicherheit und Gewalteindämmung in Kabul verantwortlich waren und im wahrsten Sinne Friedensunterstützung geleistet haben, ist ein historischer Meilenstein, der Hoffnung macht. Das „Kabul-Tagebuch“ von General van Heyst macht anschaulich, wie Militär im Auftrag der Vereinten Nationen der Durchsetzung von Recht und Sicherheit mit Klugheit und Entschiedenheit wirksam dienen kann. Kein Wunder, dass Siba Shakib („Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen“) bei ISAF ein und ausgeht und auch bei der ersten dt. PRT Fact Finding Mission dabei war.“
Gerade weil ich um die aktive und meist verdrängte Kriegsgeschichte der „Stadt des Westfälischen Friedens“ weiß, bin ich froh, als Münsteraner Abgeordneter die Übergabe des ISAF-Kommandos und den internationalen Dank an die „Münsteraner“ miterleben zu können.
Das Korps ist eines von sechs (inzwischen neun) High Readiness Headquarters der NATO und die ISAF-Führung sein erster Einsatz. Ihm ist zu wünschen, dass so auch seine Aufgaben in Zukunft sein werden.“
Erneut begegnete ich (niederländischen) Soldaten des Korps im Sommer 2008 in Kandahar und Uruzgan in Süd-Afghanistan und Soldaten des Korpsstabes im September 2009 in Kabul.
Dreimal war das Korps im Einsatz, zuletzt wieder in Afghanistan 2013, immer im Auftrag der Vereinten Nationen.
Den niederländischen Afghanistaneinsatz erfuhr ich als bevölkerungsnah, klug, konsequent und vorbildlich in der Ressortzusammenarbeit. Die Evaluierung von vier Jahren NL-Engagement in der Unruheprovinz Uruzgan durch The Liaison Office in Kabul bescheinigte den Niederlanden im internationalen Vergleich beste Wirksamkeit. (Berichte zu NL in AFG: http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=997 )
„Keiner schafft`s allein“. Bei den Besuchen im Einsatz, bei der erstmaligen großen zivil-militärischen Übung Common Effort im September 2011 und vielen anderen Begegnungen erfuhr ich die Grundeinstellung, die im Deutsch-Niederländischen Korps herrscht und von Kommandierenden Generalen wie Ton van Loon (2010-2013) überzeugend vertreten wurde:
- Innerstaatliche Gewaltkonflikte lassen sich in der Regel nicht militärisch lösen, müssen politisch angegangen werden. Militär kann ein sichereres Umfeld und Zeit zur politischen Konfliktbearbeitung schaffen.
- Krisenbewältigung, Stabilisierung, Friedenssicherung funktionieren nur als gemeinsame und kohärente Anstrengung politischer, ziviler, militärischer und polizeilicher Akteure (Comprehensive Approach). Damit erst in einem Krisengebiet anzufangen, ist viel zu spät. Das muss vorher geübt werden, partnerschaftlich von Anfang an. (Winrich Kühne, „Common Effort“ – Das Deutsch-Niederländische Korps übt die zivil-militärische Zusammenarbeit, Zentrum Internationale Friedenseinsätze/ZIF Policy Briefing Mai 2012,http://www.zifberlin.org/fileadmin/uploads/analyse/dokumente/veroeffentlichungen/ZIF_Policy_Briefing_Winrich_Kuehne_Mai_2012.pdf)
Multinationale Integration: Über die Jahre ist die Integration im Deutsch-Niederländischen Korps soweit und erfolgreich fortgeschritten wie bei kaum einem (keinem?) anderen militärischen Verband. Begünstigend wirkte sich die Nähe der bundesdeutschen und niederländischen Militärkulturen aus.
Deutschland und die Niederlande stellen als Rahmennationen (Framework Nations) zwei Drittel des Stabes. Insgesamt sind 12 Nationen beteiligt. Die bi-nationalen Stabsversorgungs- und Führungsunterstützungsbataillone des Korps sind bis zur Zug-Ebene integriert. Im Juni 2014 wurde die niederländische 11. Luftbewegliche Brigade in die deutsche Division Schnelle Kräfte (DSO) eingegliedert, die 43. Brigade soll in die 1. Panzerdivision integriert werden, die 13. Brigade wahrscheinlich bei den belgischen Streitkräften.
Das Motto des Korps „Communitate Valemus – Gemeinsam sind wir stark!“ bezieht sich nicht nur auf die Nationen und die Multinationalität, sondern auch auf das zivil-militärisch-polizeiliche Zusammenwirken, die Multidimensionalität.
Zurück zum Kalten Krieg?
In den Jahren 2005 und 2008 war der Korpsstab im stand-by als Hauptquartier für die Landstreitkräfte der NATO Response Force 4 und 10. Bisher kam die NRF nie zum Einsatz. In diesem Jahr stellt das Korps bis zum Jahresende zum dritten Mal die Führung der NRF-Landkomponente (NRF 15) mit der niederländischen Luftlandebrigade und dem deutschen Panzergrenadierbataillon 371. Damit übernahm es zugleich die Führungsverantwortung für die besonders schnelle Eingreiftruppe Interim Very High Readiness Joint Task Force“ (IVJTF), die auf dem NATO-Gipfel im September 2014 in Wales vereinbart wurde. (Im Rahmen des Readiness Action Plan u.a. Aufstockung der NRF von 13.000 auf 40.000; Aufstellung der NATO-„Speerspitze“ VJTF mit 5.000 Soldaten im stand-by der Schnellsteinsatzbereitschaft von zwei bis sieben Tagen, je 5.000 Soldaten im stand-up der Vorbereitungsphase und stand-down der Nachbereitungsphase mit Einsatzbereitschaft von jeweils 30 Tagen (jede Phase ein Jahr).
Inzwischen führte das Deutsch-Niederländische Korps erste Übungen der VJTF durch, so im Juni „Noble Jump“ auf einem polnischen Truppenübungsplatz.
Die schnellen Eingreifverbände der NATO sollen den seit dem Krieg in der Ukraine besonders beunruhigten östlichen Mitgliedern glaubwürdig Bündnissolidarität beweisen. Diese zu verweigern, würde in (Mittel-)Osteuropa eine Renationalisierung und Privatisierung der Landesverteidigung befördern – und/oder eine verstärkte Hinwendung zu den USA. Verweigerte oder nur symbolische Bündnissolidarität könnte zugleich die Schwelle für Destabilisierungsoperationen bzw. –dynamiken senken.
Die VJTF ist als Verstärkungskraft mit der NATO-Russland-Akte vereinbar und schon wegen ihres Umfangs gegenüber Russland nicht angriffsfähig – von entsprechenden Absichten ganz zu schweigen. Gegenüber einer russischen Führung, die in Kategorien von militärischer Stärke und ihrer Version von Kosten-Nutzen denkt, können solche Verstärkungskräfte abschreckend und kriegsverhütend wirken. Sie können aber auch Wasser auf die Mühlen der nicht nur in Russland verbreiteten und geschürten Wahrnehmung sein, vom „Westen“ bedrängt und gedemütigt zu werden.
Die Beteuerungen der politischen NATO-Spitzen, sich nicht in einen Rüstungswettlauf mit Russland hineinziehen zu lassen und den Dialog führen zu wollen, klingen vernünftig, könnten sich aber angesichts des Sichtbarkeitsvorsprungs und der Eigendynamik militärischer Maßnahmen schnell als frommer Wunsch erweisen.
(vgl. mein Reisebericht „Gespaltene, traumatische Erinnerungen, Rückkehr der Vergangenheit – und des Kalten Krieges? Sicherheitspolitische Beobachtungen in Riga, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1363 )
Zusammengefasst: Eine so enge militärische Integration ehemaliger Kriegsgegner ist ein Versöhnungs- und Vertrauensbeweis sondergleichen – insbesondere von der niederländischen Seite aus - und ein friedens- und sicherheitspolitischer Wert an sich.
Das Deutsch-Niederländische Korps steht durch seine Praxis glaubwürdig für Krisenbewältigung und Friedensunterstützung im Rahmen der UN-Charta und im Auftrag von UN und nationalen Parlamenten und nicht für kriegerische Durchsetzung von Partikularinteressen. Noch nie war Militär in Münster so dicht am Motto des Westfälischen Friedens „Pax optima rerum“ wie das Deutsch-Niederländische Korps. Insofern steht das Korps mit seinem friedenspolitischen Potenzial für einen Bruch mit der kriegerischen Tradition der Garnisonsstadt Münster.
Dabei ist das Deutsch-Niederländische Korps bundes-, ja europaweit ein Vorreiter einer klugen und partnerschaftlichen, zivil-militärischen Zusammenarbeit unter dem Primat der Politik.
Meine massive Skepsis von 1995 hat sich nicht bestätigt. Darüber kann ich nur froh sein.
Die Soldatinnen und Soldaten des Korps haben einen selbstverständlichen Anspruch darauf, dass ihre politischen Auftraggeber das Motto des Westfälischen Frieden nicht nur im Munde führen, sondern vor allem nach besten Kräften praktizieren, dass sie nur in Einsätze entsandt werden, die sicherheits- und friedenspolitisch dringlich, völkerrechtlich legal, erfüllbar und verantwortbar sind.
[1] Mitglied im Beirat Zivile Krisenprävention beim Auswärtigen Amt, im Beirat Innere Führung beim Verteidigungsministerium, im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen/DGVN, von Gegen Vergessen – Für Demokratie“ und „Lachen Helfen“.
[2] Im Wehrkreis VI aufgestellte Divisionen (mit je ca. 16.500 Soldaten in den ersten Kriegsjahren): 6. Infanterie-Division (ID), 16. ID (mot.)/Panzergrenadier-Division, 16. Panzer-Division, 26. ID, 69. ID, 86. ID, 211. ID, 227. ID, 253. ID, 106. ID, 716. ID, 306. ID, 126. ID, 196. ID, F.M.v. Senger u. Etterlin (Hrg.), Soldaten zwischen Rhein und Weser, Koblenz 1980, S. 64
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: