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Genauer Hinsehen: Sicherheitslage Afghanistan (Lageberichte + Einzelmeldungen) bis 2019
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»Ich krieg mich nicht mehr unter Kon­trol­le« - Kriegs­heim­keh­rer der Bun­des­wehr

Veröffentlicht von: Webmaster am 2. April 2010 17:16:37 +01:00 (46528 Aufrufe)

Im März erschien im Fackelträger-Verlag das Buch "Ich krieg mich nicht mehr unter Kontrolle" - Kriegsheimkehrer der Bundeswehr, herausgegeben von Ute Susanne Werner. In 16 Gesprächen berichten Soldaten  und eine Soldatin, was mit ihnen in und nach ihren Einsätzen in Bosnien, Kosovo, Mazedonien und Afghanistan geschah, wie es sie veränderte. Als einziger Politiker ist W. Nachtwei mit einem Beitrag in dem Buch vertreten: "Der Krieg war terminologisch abgeschafft".

Obwohl der Presse- und Informationsstab des Verteidigungsministeriums jede Unterstützung verweigerte und Soldaten die Zuammenarbeit untersagt wurde, kam dieses sehr wichtige Buch zustande. Es zeigt die Realität der Einsätze in der ganzen Breite von Stabilisierung bis Kampfeinsatz, die Belastungen des Einsatzalltags, die auseinander driftetenden Welten von Einsatz und Heimat, den Verlust von Kameraden, die Krisen nach der Rückkehr, die Brüche und Sensibilisierungen, Bereicherungen und Zweifel. Die Heimkehrerberichte verzichten auf spektakuläre Skandalisierungen, zeigen viel Selbstreflexion und bringen die Einsatzwirklichkeit und -folgen authentisch, bewegend und überzeugend rüber. Das Buch ist allen zu empfehlen, die bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr genauer HINSEHEN wollen - jenseits verbreiteter Pauschalwahrnehmungen. Pflichtlektüre für die Auftraggeber, uns Politiker!

Im folgenden mein Beitrag:

DER KRIEG WAR ALS MITTEL DER POLITIK VERBRANNT

Winfried Nachtwei

Ich gehöre zu den wenigen »Privilegierten« außerhalb der Bundeswehr, die relativ oft in die Einsatzgebiete reisen konnten: Vierzehn Mal war ich in Afghanistan, ebenso oft auf dem Balkan, mehrfach im Kongo. Darüber habe ich umfangreiche Reiseberichte erstellt und verbreitet (s. www.nachtwei.de). Der Großteil unserer Gesellschaft nimmt diese Einsätze nur ganz aus der Ferne wahr. Auch für uns Politiker sind die Besuche vor Ort relativ kurz. Und dann nimmt man das alles zum Teil eben auch aus dem »goldenen Käfig« wahr; wir haben vor allem mit Offizieren zu tun, weniger mit Unteroffizieren oder Mannschaftsdienstgraden. Es gibt kaum die Gelegenheit, mal in Ruhe zu reden, sodass auch wirklich Vertrauen aufkommen könnte. Denn was sollen die Soldaten mit den Politikern reden, die mal eben schnell aus Berlin angereist kommen? Wir reden also mit den Vertrauensleuten, und da geht es dann darum, wo gerade der Schuh drückt, was momentan besonders dringlich ist - dann stehen schon wieder die Nächsten parat. Wie beim Zahnarzt. Umso mehr bin ich daran interessiert, dass die Leute mal von sich erzählen können. Ich spüre so manches Mal so etwas wie einen »Maulkorb«. Ob das übliches Gruppenverhalten oder ausdrücklich angeordnet ist, kann ich schlecht einschätzen.

Seit 1994 habe ich ständig mit politischen Beratungsprozessen zu Auslandseinsätzen zu tun gehabt. Und meine Erfahrung ist in summa, dass seitens der Politik zu langsam und zu dürftig aus der Praxis dieser Einsätze gelernt wird. Intensiv beschäftigen sich eben doch nur wenige Kolleginnen und Kollegen mit diesen Auslandeinsätzen. Meist verengt sich das auf den Verteidigungsausschuss. Der Rechtfertigungsdiskurs stand lange im Vordergrund. Der Wirksamkeitsdiskurs kommt erst jetzt an die Oberfläche. Wenn man sich die Plenardebatten einmal anschaut - da geht es überwiegend um Rechtfertigung. Aber: Haben die Antiterror-Kampfeinsätze der Operation Enduring Freedom in Afghanistan wirklich zur Eindämmung des internationalen Terrorismus beigetragen? Oder haben sie nicht das Gegenteil bewirkt? Eine Antwort auf diese Schlüsselfrage ist mir konsequent verweigert worden. Auch im Pentagon habe ich einen Zuständigen gefragt: Wie sieht es mit der Wirksamkeit aus? Das sei eine gute Frage, die er sich auch immer wieder stelle, antwortete er. Schluss. Das war's.

Es ist unverantwortlich, solch einem Einsatz die Zustimmung zu geben, wenn man keinerlei Kenntnis, nicht mal eine Ahnung davon hat, was das überhaupt bringt. Wenn man sogar Anhaltspunkte dafür hat, dass das Gegenteil von dem erreicht wird, was erreicht werden sollte: mehr Hass, mehr Gewalt, mehr Terror.

Kanzler Schröders Zusicherung von »uneingeschränkter Solidarität « nach dem 11. September 2001 war aus der Situation heraus verständlich, aber vor dem Hintergrund von Rechtstaatlichkeit unhaltbar. Es gibt eine andere Formulierung aus dem Verteidigungsministerium: »Wir werden uns nicht entziehen können ...« Aber auch das darf nicht gelten, auch wenn es natürlich in einem Bündnis schwierig ist, Nein zu sagen. Ich habe selbst im Irakkrieg mitgekriegt, wie schwierig das damals war, welchen Druck es gab aus verschiedensten Richtungen. Nein, an erster Stelle muss die Selbstprüfung stehen: Wie sieht es mit den tatsächlichen dringenden Notwendigkeiten im Sinne von kollektiver Sicherheit aus, also auch außerhalb von Landes- und Bündnisverteidigung? Unser Bezugsrahmen ist ganz klar die UN-Charta. Nur wo es um die Bedrohung internationaler Sicherheit und des Weltfriedens geht und wo es keine nichtmilitärischen Alternativen gibt, dürfen wir außerhalb der Landes- und Bündnisverteidigung einschreiten. Ausgeschlossen werden muss ein Auslandseinsatz zur Durchsetzung von Partikularinteressen eines beteiligten Landes. Um zum Beispiel bestimmte genehme Regime an der Macht zu halten. Das muss man sich auch bei den Verbündeten anschauen: Mit wem segelt man da in einem Boot unter der Flagge der Vereinten Nationen? Auch wenn über dem Unterfangen die Resolution des UN-Sicherheitsrats steht, anknüpfend an allgemeingültige Werte von kollektiver Sicherheit, können einzelne Beteiligte in diesem Rahmen auch ihre Spezialinteressen haben - im Falle der USA immer wieder und unbestreitbar geostrategische Interessen, was Zentralasien angeht. Das wird insgesamt von deutschen Politikern zu wenig geprüft.

Bei den Grünen gab es mehrfach äußerst intensive Debatten um diese Einsätze. Zum ersten Mal im Falle Bosnien-Herzegowinas. Zunächst hatte sich folgende Position durchgesetzt: Nein, keine Beteiligung an IFOR und SFOR. Die Begründung - auch meine - war die Befürchtung, dass diese Einsätze eine Remilitarisierung der Außenpolitik bedeuten würden und damit die Rückkehr zu einer imperialistischen Außenpolitik. Dieser Blickwinkel stand konträr zur Perspektive der Opfer, also der Menschen in den Kriegsgebieten. - Damals gab es sehr heiße Auseinandersetzungen. Hätte die Grüne Fraktion damals, 1995/96, für die Beteiligung an den Einsätzen gestimmt, dann hätte es die Grünen zerreißen können. Daran wären sie kaputtgegangen.

Die nächste Station der Auseinandersetzung war Kosovo 1998/99. Diesmal aber gab es einen »Vorlauf«. Mit einigen Abgeordneten und den Parteivorsitzenden waren wir im Herbst 1996 erstmalig in Bosnien-Herzegowina gewesen, in Mostar, Sarajevo und Banja Luka. Wir waren übrigens die erste Fraktion und Partei, die mal eine ganze Woche dorthin gefahren ist, so zerstritten, wie wir damals waren. Wir haben uns auch vor Ort weitergestritten. Aber an bestimmten Orten ist einigen von uns, auch mir, vieles klar geworden. Da gab es gewisse »Positionsschübe«. Wir standen ein Jahr nach den Kämpfen am Hang oberhalb von Sarajevo. Da wurde einem noch einmal erzählt, was man ja aus den Medien schon wusste, aber nie wirklich realisiert hatte: Drei Jahre Belagerung, von hier aus ständiger Beschuss der Stadt unten, insgesamt zehntausend Tote. Es war etwas ganz anderes, wirklich davorzustehen. Danach besuchten wir den Bischof von Banja Luka, der uns eine Standpauke gehalten hat: Ihr - gemeint war Europa -, ihr habt das geschehen lassen! Ihr habt euch überhaupt nicht darum gekümmert. Österreich als Nachbarland hat zuerst hingeschaut. - Wir waren mit den ersten Jahren des einigen Deutschlands beschäftigt gewesen - und dann sieht man diese Trümmer, in Mostar zum Beispiel. Ich kenne den Anblick zerbombter Häuser ja noch aus der Nachkriegszeit. Wir haben die dichten Narben an den Häusern gesehen, die Intensität einer geradezu handwerklichen Zerstörungswut: Immer wieder draufhalten. Kein Großschaden durch eine Bombe, sondern systematische Zerstörungswut. Und wir haben gesehen, wie das bestehende Gewaltpotenzial von den SFOR-Truppen niedergehalten wurde. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass sie ganz unverzichtbar waren zur Gewalteindämmung nach dem Krieg. Dann haben wir dort auch deutsche Generäle kennengelernt, die auch für diejenigen von uns, die mit Militär bis dahin wenig zu tun hatten, erstaunlich zivil waren in ihrer Denkart. Keine knarrenden Militaristen. Politisch zivil, vernünftig.

Und dann kam der Kosovokrieg. Wir waren diejenigen gewesen, die seit Jahren im Bundestag vor der Zuspitzung im Kosovo gewarnt hatten. Wir hatten Vorschläge gemacht, positive Angebote für Serbien, um das Problem zu lösen. Sie wurden von der damaligen Union-FDP-Regierung weggewischt, noch im Sommer 1998. Dann kamen wir im Herbst an die Regierung, und im Kosovo steckte der Karren tief im Dreck. Nachdem der Luftkrieg nicht verhindert worden war, hat Fischer es damals geschafft, immerhin einen Weg zum Waffenstillstand anzustoßen, unter Einbeziehung Russlands. Aber damals sind viele politische Beziehungen zerbrochen. Für langjährige Weggefährten aus der Friedensbewegung und von den Grünen war man plötzlich »Kriegspartei«, Verräter an den eigenen Idealen.

Die Ausgangslage in den Neunzigerjahre war folgende: Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gab es keinen Krieg mehr. Er war terminologisch abgeschafft worden. Es gab nur noch den Verteidigungsfall, kurz: »V-Fall«. Ein möglicher Krieg war zusammengeschnurrt auf den »V-Fall«. Es war also die langjährige Tendenz vorausgegangen, sich terminologisch von »Krieg« zu lösen. Und zwar ausgehend von etwas sehr Gutem: Der Krieg war als Mittel der Politik verbrannt. Eine faktische Kriegsächtung mit Ausnahme des Verteidigungsfalls - ich halte das für sehr, sehr richtig. Dieser Sachverhalt bedeutet nichts anderes als die gesellschaftliche Ächtung von Krieg.

Der andere Hintergrund war, dass die Vereinten Nationen auf dem Feld der Auslandseinsätze eine lange Tradition haben. In Deutschland hat man allerdings wenig davon mit gekriegt, weil man nicht beteiligt war. In der Sprache der UN-Charta geht es dann immer um die Bedrohung von internationaler Sicherheit und des Weltfriedens. Und es geht um die Aufgabe von Friedenssicherung oder Friedenswiederherstellung. Ziel der Einsätze ist immer: Frieden vor dem Hintergrund kollektiver Sicherheit. Implizit heißt das, nicht zur Durchsetzung von Partikularinteressen, nicht zur »Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln«. Daher die Begriffe peacekeeping, peacebuilding, peace enforcement. Diese Begrifflichkeiten meinen durchaus das Richtige, sind aber auch verharmlosend. Friedenssicherung: Das ist der traditionelle Blauhelmeinsatz, der die Konfliktparteien auseinander hält, eine Waffenstillstandslinie zu bewachen hat. So etwas Simples gibt es aber heutzutage kaum mehr. Dieses Vorhaben ist noch am angemessensten. Wenn es dann aber darum geht, einen Waffenstillstand ohne klare Waffenstillstandslinie abzusichern oder Waffenstillstandsbrecher wieder einzufangen und sich ihnen gegenüber durchzusetzen, dann kann von »Frieden schaffen« keine Rede mehr sein. Das ist verharmlosend. Wenn es dabei nämlich zum Einsatz von militärischer Gewalt kommt, der ja bis zum Einsatz von militärischer Kriegsgewalt gehen kann, dann ist das unabhängig von den richtigen Zielen immer noch ein Übel. Weil dabei Menschen verletzt und getötet werden können, weil dabei zerstört wird. In der Wortwahl »Frieden schaffen« oder gar »Frieden erzwingen« steckt schon eine Verharmlosung.

Hinzu kommt: In dieser UN-Begrifflichkeit ist auch ein illusionäres Element enthalten. Weil nämlich wider besseres Wissen der UN-Gemeinschaft der Eindruck erweckt wird, dass sich mit militärischen Mitteln Frieden »schaffen lässt«. Das geht sowieso nicht; ein Waffenstillstand, ja, ein Zeitfenster für politische Konfliktlösung vielleicht, aber mehr nicht. Die Einsätze der Bundeswehr waren Stabilisierungseinsätze. Die erste Teilnahme an SFOR und KFOR nach dem NATO-Luftkrieg würde ich auch als einen solchen bezeichnen, ebenso ISAF in Afghanistan in den ersten Jahren - das waren alles keine Kriegseinsätze. Das wird immer wieder geleugnet von grundsätzlichen Kritikern dieser Einsätze. Es sind Einsätze in Nachkriegsgebieten, nur zum Teil in Kriegsgebieten. Aber nicht mit der Intention, Krieg zu führen, sondern Krieg einzudämmen. Ich hab den Soldaten in Sarajevo damals gesagt: Ihr macht genau das Gegenteil von dem, was die Wehrmacht hier getan hat. Um hundertachtzig Grad verschieden.

Dann hat sich aber die Situation in Afghanistan in den unterschiedlichen Regionen verschärft: Im Süden und im Osten ist seit 2006 ein voller Kampfeinsatz im Gange, in vielen Distrikten gibt es eine kriegerische Situation. Im Norden in der Provinz Kunduz muss man davon spätestens seit April 2009 sprechen. Nun sind es eben nicht mehr »nur« Einzelattacken, Hinterhalte und Anschläge, sondern auch militärisch organisierte Angriffe, mehrstündige Gefechte. Deshalb ist jetzt auf der taktischen Ebene in einzelnen Distrikten auch im Norden von einer kriegerischen Situation die Rede. Dort herrscht Kleinkrieg, Guerillakrieg, Terrorkrieg. Daneben gibt es Provinzen, wo es weiterhin für afghanische Verhältnisse »ruhig« ist, wo der Aufbau noch vorankommt.

Die Sache wird dadurch noch komplizierter, dass der Gesamtauftrag von ISAF in Afghanistan und somit der Auftrag der Bundeswehr kein Kriegsauftrag ist. Der Gesamtauftrag lautet weiterhin: Stabilisierung. Wäre es ein Kriegsauftrag, dann stünde dahinter die Auffassung, man könnte diesen Konflikt bewaffnet, militärisch lösen. Das sagt seit vielen Jahren kein führender Offizier mehr. Bei der Bundeswehr sowieso nicht, aber auch bei den anderen nicht. Unter Bush war das bei den Amerikanern anders.

Ich habe mit Fallschirmjägern in Kunduz gesprochen. Was sie erlebt haben, waren Kriegssituationen. Als Lehrer habe ich im Unterricht mit den Schülern »Im Westen nichts Neues« gelesen, um bei den Jugendlichen ein Gefühl dafür zu schaffen, was Krieg bedeutet, was das mit den Menschen macht. Die Menschen der gegnerischen Parteien stecken in genau dieser Falle: Entweder du oder ich. Da geht es nicht mehr um irgendwelche Ziele. Man steht im Überlebenskampf gegeneinander. Der ganz elementare Überlebenswille - das ist der menschliche »Schmierstoff« fürs Funktionieren von Kriegen. Und genau das habe ich auch in den Berichten der Fallschirmjäger aus dem Gefecht wiedergefunden: Entweder du oder ich. Wenn ich jetzt nicht schieße, sterbe ich oder stirbt mein Kamerad. Für die sehr differenzierte, komplexe Realität der Auslandseinsätze gibt es heute keinen ehrlichen, präzisen, zusammenfassenden Begriff. Mir ist das schon aufgefallen, als es sich noch eindeutig um einen Stabilisierungseinsatz im Norden Afghanistans handelte. Die Schutz- oder Sicherheitsfunktion der relativ kleinen ISAF-Truppen war sehr schwer zu vermitteln. Struck hat damals erzählt, die Soldaten würden die Hilfsorganisationen bei ihrer Arbeit begleiten. Völliger Unsinn. Das kann man schon quantitativ gar nicht leisten. Außerdem beruht die Sicherheit der Hilfsorganisationen auf dem Vertrauen der Bevölkerung. Das ist deren Sicherheit. Und die Funktion der kleinen Trupps da oben im Norden mit den PRTs (Provincial Reconstruction Teams) war, Puffer zu sein in einem Umfeld von konkurrierenden Gewaltakteuren, die alle jeweils ihre Rechnungen noch offen hatten; Puffer zu sein für den Aufbau von so etwas wie Staatlichkeit; die Kriegsparteien auseinanderzuhalten und Verbindungen herzustellen, zu schauen: Woraus genau bestehen denn die Konflikte, wo kann man etwas regeln? Das geht in den Bereich von bewaffneter Diplomatie. Aber das zu Hause zu vermitteln ist äußerst schwierig. Das verbreitete Bild ist: Die Bundeswehr als THW mit Gewehr, was sie so, wenn man genau hinsieht, nie war. Oder sie werden als die Krieger dargestellt. Aber in der Realität sind diese Einsätze eine große Palette dazwischen.

Wer weiß denn schon, wann der erste Bundeswehrsoldat im Kampf gefallen ist? Das war nach fünfzehn Jahren Bundeswehreinsätzen im Ausland, am 29. April 2009 in Kunduz. Und danach, im Mai 2009, wurden erstmals in der gesamten Bundeswehrgeschichte Gegner im Kampf erschossen. Seitdem etliche. Im Juni ist erstmalig eine scharfe Mörsergranate eingesetzt worden, das gab es bis dahin auch nicht. Das allgemeine Bild ist, dass dies schon lange ein Kriegseinsatz sei. Aber in Wirklichkeit hat das erst in diesem Jahr angefangen. Es gibt in Deutschland eine breite Ablehnung von Krieg als Mittel der Politik. Das ist ein zivilisatorischer Fortschritt sondergleichen. Das ist unheimlich gut. Und man sollte sich hüten, diesen Fortschritt rückgängig zu machen. Das war immer meine Befürchtung: Die »Normalisierung« der Haltung Deutschlands zum Krieg, die Angleichung an Einstellungen, wie sie zum Beispiel in Großbritannien zu finden sind, in Frankreich und in etlichen anderen Ländern. Nein, das bitte nicht.

Aber auch als Bundesrepublik müssen wir uns verhalten zu Situationen von umfassender illegaler Gewalt. Auf dem Balkan haben wir das erlebt. Oder zu Situationen, die Kofi Annan 2005 folgendermaßen beschrieben hat: In den Jahren zwischen 1990 und 2005 seien - so die Wahrnehmung der Vereinten Nationen - so viele innerstaatliche Konflikte zu Waffenstillständen, zu Friedensschlüssen gebracht worden, oft mithilfe der UN, wie seit zweihundert Jahren nicht mehr. Also ein enormer Erfolg der Friedensvermittlung. Die Schattenseite daran ist die Erfahrung, dass innerhalb von fünf Jahren danach die Hälfte dieser Länder wieder in den Krieg »zurückgerutscht « sind. Annan hat es als eine Hauptaufgabe globaler Friedens- und Sicherheitspolitik formuliert, eben nicht nur Waffenstillstände zu vermitteln, sondern beim Aufbau von Frieden hilfreich zu sein, das sogenannte peacebuilding. Wenn man UNO-Mitglied ist, dann muss man auch grundsätzlich bereit sein, sich daran zu beteiligen. Nicht in jedem Einzelfall. Man kann immer sagen: Wir können aus diesen oder jenen Gründen nicht. Ich erinnere mich an die Tschad-Mission: krasser Unsinn, Irak ebenso.

Und auf dieser Ebene habe ich, haben wir, hat die Mehrheit im Bundestag die Verpflichtung gesehen, die Bevölkerung von Auslandseinsätzen solcher Art zu überzeugen. Der Haken daran ist, dass die klare Bindung an die UN-Normen nicht bei allen Einsätzen gleich eindeutig ist. Und dass man im Kosovo- Luftkrieg selbst dagegen verstoßen hat. Was dann auch die eigene Glaubwürdigkeit mindert. Trotzdem finde ich: Durch einen Sündenfall ist man noch nicht notorisch besserungsunfähig. Der erste Auslandseinsatz war 1989 in Namibia. Da haben bundesdeutsche und DDR-Polizei zusammengewirkt. Eine UN-Mission in Namibia beim Übergang zur Unabhängigkeit. Deutschland war ja bis zum Ersten Weltkrieg Kolonialmacht im damaligen Südwestafrika. Seit 2003/04 - erster Kongo-Einsatz, dann Libanon, zweiter Kongo-Einsatz, verschärft durch Afghanistan - beobachte ich eine politische Krise der Auslandseinsätze. Politische Krise insofern, als immer mehr die Wirksamkeit infrage gestellt wird und die Akzeptanz der Einsätze schwindet. Ausgelöst wurde diese Akzeptanzkrise vor allem durch Afghanistan. Die Politik sollte sich mit dieser Kritik auseinandersetzen. Die Politik sollte sich der Kritik annehmen und sich zu Herzen nehmen, dass sie bei der Darstellung und Begründung, bei der Wirksamkeitsüberprüfung dieser Auslandseinsätze nicht das erbracht hat, was notwendig wäre. Dabei geht es nicht um eine bessere PR. Wo es um dieses Thema geht, hilft nur eines: Ehrlichkeit.

Man kriegt das nicht durch ausgefeilte Kommunikation hin oder durch einen »moralischen Overkill« wie 1999 im Zusammenhang mit dem Kosovo. Gerade in der Demokratie ist ein offener Umgang mit der Realität dieser Einsätze geboten, mit den Zielsetzungen und Interessen, die dort zum Ausdruck kommen, mit der Vorgabe was im Hinblick auf unsere Werte geboten und was verboten ist.

Ein methodisches Handicap in den letzten Jahren - ich habe es für meine Fraktion immer wieder eingeklagt, bisher vergeblich -, ist, dass nach fünfzehn Jahren Auslandseinsätzen eine unabhängige Wirksamkeitsüberprüfung immer noch nicht stattgefunden hat. Aber genau das wäre unbedingt notwendig. Da gibt es inzwischen so vielfältige Erfahrungen; zum Teil gute: Wenn ich mich daran erinnere, was die Soldaten im Kosovo geleistet haben, welchen Respekt sie sich erworben haben bei Einheimischen und Verbündeten, da kann man den Hut ziehen.

Aber auch was es an Defiziten gegeben hat, an Versäumnissen, falschen Erwartungen, an Illusionen und so weiter - das gehört alles ausgewertet. Damit man daraus Schlussfolgerungen ziehen kann. Eine Aufarbeitung der Erfahrungen ist deshalb so wichtig, weil es ja nicht nur um politisches Handeln geht, das jederzeit korrigierbar ist, sondern immer auch um Leben und Tod. Um enorme Belastungen für die Familien und die Angehörigen. Um das Leben der jungen Soldaten. Deshalb hat die Politik hier eine ganz andere Verantwortung. Sie hat die Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass, wenn unsere Soldaten schon in riskante Situationen geschickt werden, es dann auch Aussicht auf Erfolg und Wirksamkeit hat. Ohne eine methodische Untersuchung kann diese Wirksamkeit überhaupt nicht bewertet werden. Das geht nicht mal eben über den Daumen gepeilt und im Zusammenhang mit dem eigenen Legitimationsinteresse. Wer in der Politik will schon falschgelegen haben? Deshalb sind die authentischen Beiträge von Menschen, die wirklich dabei waren, wirklich an Auslandseinsätzen teilgenommen haben, auch so wichtig.

November 2009

 


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

Tagebuch