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Sicherheitspolitik und Bundeswehr + Umnutzung militärischer Einrichtungen
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Eskalierende humanitäre + politische Großkrise am Horn von Afrika - was tun? Zum 5. Mal als ziviler Rollenspieler bei dem ressortgemeinsamen Planspiel CERASIA an der FüAkBw

Veröffentlicht von: Nachtwei am 28. September 2020 15:34:25 +01:00 (90679 Aufrufe)

Das ressortgemeinsame Planspiel zu einer komplexen humanitären Großkrise gibt bemerkenswerte Einblicke in die Denkweise und Kompetenz des Führungsnachwuches der Bundeswehr. Vor dem Hintergrund meiner 15-jährigen Erfahrungen im Verteidigungsausschuss des Bundestages nahm ich seit 2017 alljährlich als ziviler Rollenspieler an dem Planspiel teil. 

Menschen schützen – kollektive Sicherheitsinteressen wahren:

Ressortgemeinsames Planspiel CERASIA

an der Führungsakademie der Bundeswehr

Winfried Nachtwei[1] (09/2020)

(Fotos auf www.facebook.com/winfried.nachtwei )

Zum fünften Mal seit 2017 nahm ich als ziviler Rollenspieler an dem ressortgemeinsamen Planspiel CERASIA des Lehrgangs Generalstabs-/Admiralstabsdienst national (LGAN) an der Führungsakademie der Bundeswehr (FüAk)  in Hamburg teil.

Der LGAN 2019 umfasst 114 TeilnehmerInnen (einschließlich EU- und NATO-Staaten und Schweiz).Wegen der Corona-Pandemie nehmen dieses Mal keine Angehörigen des Attaché- Lehrgangs des Auswärtigen Amtes und keine Referenten aus dem Bereich des BMZ an der Übung teil, erstmalig aber zehn VertreterInnen aus dem Bereich des BMI..

Im Mittelpunkt steht das Szenario einer eskalierenden politisch-humanitären Großkrise in der fiktiven Konfliktregion CERASIA im verfremdeten NO-Afrika. Gefordert ist multinationale und multidimensionale Unterstützung bei der Krisenbewältigung auf Ebene der EU, VN, NATO, AU und ihrer Mitgliedsstaaten. (Zu dem CERASIA -Szenario hatte das I. Deutsch-Niederländische Corps in Münster im September 2011 erstmalig eine große Übung in zivil-militärischer Zusammenarbeit – Common Effort – durchgeführt. An ihr nahmen über 300 Militärs aus 12 zwölf Nationen, rund 140 Zivilisten und ein gutes Dutzend Polizisten teil. Vgl. dazu Winrich Kühne[2])

Die jungen Offiziere – viele von ihnen einsatzerfahren - wenden in dem einwöchigen Planspiel Verfahren ministerieller Arbeit an, um auf politisch-strategischer Ebene eine innerministeriell abgestimmte Position zu entwickeln, Entscheidungen vorzubereiten und sie zu kommunizieren.

Schritte dabei sind Erstellung Leitungsflyer (Allgemein, Lage, Lage und vermutete Absicht der Konfliktparteien, Eigene Lage und Absicht, Lage und Absicht Partner/anderer Nationen sowie Beratungsstand internationaler Organisationen), Vorbereitung/Abstimmung Lagefeststellung, Vorbereitung/Durchführung Strategiegespräch BMVg, Referatsleiterrunde POL I, schließlich Vorbereitung/Durchführung der Obleute-Unterrichtung, die als einer der Höhepunkte des Planspiels gilt.

Beim Übungsabschnitt „Unterrichtung der Obleute des Verteidigungsausschusses“ sitzen die BMVg-„Referatsleiter“ Pol III 1/Grundsatz, Pol III 3/NATO, Pol III 4/EU und Pol III 6/VN den Obleuten von drei Fraktionen gegenüber. (Dargestellt von Jörn Thießen, FüAk-Direktor und Fakultätsleiter Politik, Strategie und Gesellschaftswissenschaften; Dr. Torsten Sevecke, Staatsrat a.D.; und mir mit 15 Ausschussjahren und der Beteiligung an 70 Mandatsentscheidungen[3])

Innerhalb von 30 Minuten unterrichten die Referatsleiter die Obleute zunächst über die Lagebewertungen, Positionierungen und internationalen Abstimmungsprozesse auf ihren Ebenen. Danach antworten sie auf die Fragen der Obleute, die ggfs. schnell bohrend werden können. Es folgt eine Kurzbewertung der Unterrichtenden erst durch die Obleute, dann durch Zuhörer und die Lehrgangsteilnehmer-Innen selbst.

Die Obleute-Unterrichtung findet in sechs Durchgängen statt.

Das CERASIA-Szenario ist mit seinen fiktiven Staaten und Akteuren reichlich komplex, dynamisch und unübersichtlich.

Die beiden zentralen Konfliktländer sind KANON (autoritär, nationalistisch, militärisch stark, expansiv), TYTAN (fragil, gewählte Regierung, korrupt, ohne Rückhalt in der Bevölkerung, schwach, großer Flüchtlingsanteil. Ein weiterer Schlüsselstaat STELLARIA ist fundamentalistisch (moderne Streitkräfte einschließlich Massenvernichtungswaffen, Unterstützung von Terrorgruppen, stark antiwestlich und anti-VN. Neben dem failed state PETRACEROS (unter Kontrolle lokaler Warlords) gibt es mit LAKUTA in der Region eine relativ stabile Demokratie, die als regionaler Mediator agiert.

Lange Konfliktgeschichte zwischen rivalisierenden ethnischen Gruppe und Staaten, zuletzt vor wenigen Jahren ausgehend von KANON und auf TYTAN und PETRACEROS übergreifend mit 200.000 getöteten Zivilisten und 1,8 Mio. Vertriebenen. Ein Friedensabkommen zwischen fünf Staaten der Region brachte keine nachhaltige Stabilisierung. Eine kleine UN-Friedenstruppe in einer Enklave (Tori Pocket) zwischen KANON und TYTAN konnte die eskalierende Gewalt nicht stoppen, bedrohte Hilfsorganisationen ziehen ihre Kräfte ab: Rund 700.000 Vertriebene sind von Gewalt, Hunger und Krankheit bedroht. Verkomplizier ist die diesjährige Lage durch eine Heuschreckenplage, anhaltende Dürre und eine steigende Zahl von  Covid-19-Infektionen.

Internationale Reaktionen: Angesichts des nichtständigen Sitzes im VN-Sicherheitsrat und der EU-Ratspräsidentschaft gibt es besondere Erwartungen gegenüber DEU bei EU- und NATO-Mitgliedsstaaten. Die NATO äußert sich zurückhaltend und sieht sich erst in der Pflicht, wenn die Meerenge von Bab el-Mandeb akut bedroht wäre. Die EU will helfen, vor allem in Form einer Hilfe zur Selbsthilfe. Diskutiert wird eine EU-Trainingsmission. Russland und China lehnen eine militärische Intervention ab. Die USA halten sich zurück. Frankreich votiert für entschlossenes und solidarisches Handeln der EU und den Einsatz militärischer Mittel als letzte Option, gestützt durch die VN.

Die Position der Bundesregierung in diesem noch relativ frühen Beratungsstadium (erste Unterrichtung des Parlaments)

- Die Krisenlage erfordere dringend multilaterales Handeln, humanitäre Hilfe und Stabilisierungsmaßnahmen, einen umfassenden Ansatz. Deutschland sei bereit, zu handeln und den Menschen in der Region nachhaltig zu helfen.

- Primär gefragt seien UN einerseits und EU andererseits, die NATO gegenwärtig nicht.

- Bei der EU hätten zivile Instrumente Priorität. Eine eventuelle Trainingsmission für Sicherheitskräfte könne erst in einigen Jahren Wirkung entfalten.

- Das AA befürwortet eine Stärkung der CERASISCHEN UNION und eine Lösung der Spannungen in OST-CERASIA auf diplomatischem weg. Militärisches Engagement sei „ultima ratio“. Das BMZ setzt die finanzielle Unterstützung für mittel- und langfristige Projekte zu Gesundheit, Bildung, Good Governance fort.

Die Übenden präsentieren den drei Obleuten die Lagebewertungen der internationalen Akteure und der Bundesregierung, die zentralen europäischen/deutschen Interessen sowie die verschiedenen Handlungsoptionen vor allem auf EU-Ebene klar + knapp, differenziert und nüchtern. Auf die Fragen der Obleute wird konkret und unter dem Vorbehalt des momentanen Kenntnis- und Abstimmungsstandes geantwortet. Ein ressortübergreifendes Denken über den eigenen Tellerrand hinaus scheint selbstverständlich zu sein. Die allermeisten Unterrichtung-en ergeben einen deutlichen Erkenntnisgewinn. Wo allerdings zur Lage nur Überschriften geliefert und unter Verweis auf laufende Abstimmungen konkretere  Informationen verweigert werden, reagieren die informationshungrigen Obleute „verärgert“.

Sehr aufschlussreich ist das Ausmaß an Abstimmungsprozessen zwischen den Referaten, den Ressorts, wo man sich auf eine Regierungsposition einigen muss, und im komplexen Mehrebenensystem von Regierungen, EU, UN und NATO. Das war mir in meiner aktiven Abgeordnetenzeit so nicht bewusst. ( vgl. meine Bilanz von 20 Jahren Parlamentsbeteiligung bei Auslandseinsätzen, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1273 )

Wenn bei der Obleute-Unterrichtung militärische Mittel angesprochen werden, dann immer in einer unterstützenden Funktion. Ein Denken an „militärische Konfliktlösung“ kommt an keiner Stelle zum Ausdruck. Angesprochen werden auch mögliche kontraproduktive Wirkungen einer Militärintervention.

Im Rahmen der angedachten Stabilisierungsunterstützung spielt allerdings die Polizeikomponente, obwohl bei realen UN-Missionen von zunehmender Bedeutung, praktisch keine Rolle. (Hier sollte der Planspielansatz erweitert werden)

Vor lauter Betonung des umfassenden, vernetzten – und vorrangig zivilen - Ansatzes scheint mir die Aufmerksamkeit gegenüber Anzeichen von sich anbahnender Massengewalt relativ gering zu sein. Angesichts der 200.000 Ziviltoten im Konfliktgebiet vor wenigen Jahren könnte das fahrlässig sein.

Ich frage vor allem nach

- konkreten Belegen für die angeblich aufwachsende humanitäre Katastrophe (Überschrift reicht nicht!) und die Dringlichkeit internationalen Handelns

- Konflikttreibern, aber auch konstruktiven Kräften in der Region

- den eigenen Informationsquellen und Sensoren (angesichts mangelnder Regionalkompetenz bei vielen Kriseneinsätzen in der Vergangenheit)

- europäischen, deutschen, internationalen Interessen an der Konfliktbewältigung in CERASIA

- Handlungsoptionen in verschiedenen Politikfeldern und für verschiedene multinationale Zusammenhänge auf den Ebenen Not- und Katastrophenhilfe, Großgefahrenabwehr (z.B. Schutzzonen), kurz- und mittelfristige Stabilisierung, verfügbaren Kräften und Kapazitäten dafür.

Bei alledem habe ich im Hinterkopf die Erinnerung an „OST-CERASIA“ 1980: Als meine Frau Angela mehr als ein halbes Jahr im Raum Hargeisa/Nordsomalia mit dem Notärzte-Komitee (Cap Anamur) in der Flüchtlingshilfe arbeitete und ich sie in den meinen sechswöchigen Sommerferien vor Ort unterstütze. Nie davor und danach konnte ich so viel handgreiflich Nützliches und Hilfreiches leisten – bei der Anfertigung von Krücken, beim Arbeitseinsatz an Wasserstellen.

FAZIT: Die TeilnehmerInnen des LGAN sind Berufsoffiziere mit nachgewiesener Eignung zum Stabsoffizier und nach Eignung, Leistung und Befähigung für den zweijährigen Lehrgang ausgewählt. (Die 40 Teilnehmer des Heeres machen 10% ihres Jahrgangs an Heeresoffizieren aus.)

Das Planspiel gibt fundierte Einblicke in die Denkweise sowie die sicherheits- und militärpolitische Kompetenz des Führungsnachwuchses der Bundeswehr.

Zum wiederholten Male bin ich beeindruckt von der Fähigkeit der Majore und Korvetten-kapitäne, eine hochkomplexe Krisenlage differenziert und prägnant zu erfassen, darzustellen und ein breites Spektrum multinationaler Handlungsoptionen zur Unterstützung der VN anzudenken. Einhellig ist die multilaterale Grundeinstellung der 24 Übenden (wie auch derjenigen in den vorherigen Übungen) und ihre Überzeugung, dass eine solche Großkrise nur gemeinsam, im Verbund mit zivilen Akteuren zu bewältigen ist. In Kreisen, die Militär grundsätzlich ablehnen, wird einer - auch - militärgestützten Sicherheitspolitik „Gewalt-gläubigkeit“ („Mythos der Wirksamkeit von Gewalt“[4]) zugeschrieben.

Von einem solchen Gesinnungs-Militarismus ist bei den CERASIA-Planspielen nichts zu hören und nichts zu spüren. Hier stehen der Schutz von Menschen vor größter Not, vor Vertreibung und physische Gewalt sowie kollektive Sicherheitsinteressen, multilaterales und multidimensionales Handeln im Mittelpunkt.

Die friedens- und sicherheitspolitische Grundorientierung der jungen Offiziere ist vertrauenswürdig, ihre Beratungskompetenz vielversprechend.

Seit 2017 geben einzelne Lehrgangsteilnehmer immer mal wieder zu erkennen, dass man sich  in früheren Jahren begegnet ist – bei Truppenbesuchen oder in Einsatzgebieten. Die Wieder-begegnung freut uns.

Artikel und Berichte zu früheren CERASIA-Planspielen und Kontext:

- Menschen retten – Menschenschlachthaus: Gegensätzliche Militärwelten. Planspiel ressortgemeinsames Handeln CERASIA an der FüAkBw (in den Tagen, als vor 75 Jahren die Schlacht von Stalingrad endete), 04.02.2018, (Stand 29.09.2020 41.132 Aufrufe) www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1516

- Gemeinsam auf Krisenreagieren – CERASIA 09/2019, https://www.bundeswehr.de/bw-de/organisation/weitere-bmvg-dienststellen/fuehrungsakademie-der-bundeswehr/mediathek/cerasia-gemeinsam-auf-krisen-reagieren-119518

- 25 Jahre I. Deutsch-Niederländisches Corps: Common Effort für GEMEINSAME Friedenssicherung. Begegnungen mit dem Corps von Münster bis Kabul – Erfahrungs-lernen, 26.08.2020, Teil I (2002-10), http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1656

Teil II (2011-20, 1983) http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1654

- Lehren aus deutschen Krisenengagements gibt es reichlich – aber auch Lernfortschritte? In SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen, Heft 4, Dez. 2019, S. 362-377, https://www.facebook.com/zeitschrift.sirius/posts/3587141544629379?__tn__=K-R



[1] MdB 1994-2009, Mitglied im Beirat Innere Führung/BMVg und im Beirat zivile Krisenprävention der Bundesregierung, Mitglied im Vorstand von „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ und der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen/DGVN

[2] Winrich Kühne, „Common Effort“ – das Deutsch-Niederländische Korps übt die zivil-militärische Zusammenarbeit, ZIF Policy Briefing Mai 2012,  https://www.zif-berlin.org/sites/zif-berlin.org/files/inline-files/ZIF_Policy_Briefing_Winrich_Kuehne_Mai_2012.pdf

[3] Wie der Zufall es will, vertrete ich die fiktive Partei „Friedensfreunde“. Mein Vorname Winfried stammt aus dem Althochdeutschen wini = Freund und fried = Frieden.

[4] Zum Bespiel Ralf Becker, Stefan Maaß, Christoph Schneider-Harpprecht (Hg), Sicherheit neu denken. Von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik – Ein Szenario bis zum Jahr 2040, Karlsruhe 20919, S. 7, 79 ff.,  https://www.ekiba.de/html/content/szenario_sicherheit_neu_denken.html

 


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

Tagebuch