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Militärsoziologische Forschungen im Verteidigungsausschuss - meine Erfahrungen damit (Buchbeitrag)

Veröffentlicht von: Nachtwei am 22. November 2015 21:06:34 +01:00 (127903 Aufrufe)

"Mehr verstehen. Besser entscheiden" war Motto und Angebot des früheren Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr (SOWI). Jetzt erschien ein interessanter Sammelband zur Militärsoziologie in Deutschland, aus der sich die deutschen Hochschulen unverständlicherweise weitestgehend heraushalten.

Militärsoziologische Forschungen und Sicherheitspolitik – Erfahrungen eines Parlamentariers (Buchbeitrag)

von Winfried Nachtwei

Am 2. November wurde im Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) in Potsdam von Prof. Dr. Sönke Neitzel eine besondere Neuerscheinung vorgestellt:

Am Puls der Bundeswehr – Militärsoziologie in Deutschland zwischen Wissenschaft, Politik, Bundeswehr und Gesellschaft, hrsg. Von Angelika Dörfler-Dierken und Gerhard Kümmel, Schriftenreihe des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) Band 16, Springer VS, 2016 (http://www.springer.com/us/book/9783658114930

Von mir darin der Beitrag „Sicherheitspolitische Entscheidungsprozesse und Ergebnisse militärsoziologischer Forschungen

Inhalt

(http://www.mgfa-potsdam.de/html/einsatzunterstuetzung/downloads/ampulsderbundeswehrinhalt.pdf

-         Einleitung von Angelika Dörfler-Dierken und Gerd Kümmel

-         Von wissenschaftlicher Politikberatung zur militärischen Dienststelle. Eine Kurzgeschichte des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr (SOWI), von Ralf Zoll

-         Das SOWI im Lichte der Akten, von Winfried Heinemann

-         Die Bedeutung sozialwissenschaftlicher Forschung für die interkulturelle Kompetenz von Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, von Wolfgang Schneiderhan

-         True love? Neue Herausforderungen für die Militärsoziologie nach der Wende, von Jörn Thießen

-         Die Militärsozialwissenschaften in Deutschland und das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr, von Paul Klein

-         Vom Nutzen und Nachteil sozialwissenschaftlicher Forschung für die Bundeswehr, von Elmar Wiesendahl

-         Zwischen wissenschaftlicher Autonomie und politischen Vorgaben: die Evaluation der Ressortforschung, von Thomas Bonacker

-         Die Wahrnehmung internationaler Konflikte durch den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, von Hellmut Königshaus

-         Empirische Sozialforschung und öffentliche Diskussion soldatischer Probleme, von Gerd Strohmeier

-         Sicherheitspolitische Entscheidungsprozesse und Ergebnisse militärsoziologischer Forschungen, von Winfried Nachtwei

-         Multinationalität als militärsoziologisches Forschungsgebiet, von Sven Bernhard Gareis

-         Ein anderer Blick auf den Einsatz. Die Forschung des SOWI zu Auslandseinsätzen, von Heiko Biehl und Jörg Keller

-          „Ist das jetzt auch jetzt noch das Original?“ – Zur kollektiven Aushandlung von (Be-)Deutungen erfahrener Gewalt im Einsatz, von Phil C. Langer

-         Mein neuer Stamm? Ein ethnologischer Blick auf die Bundeswehr, von Maren Tomforde

-         Innere Führung – Innere Lage, von Angelika Dörfler-Dierken

-         Halb zog man sie, halb sank sie hin … Die Bundeswehr und ihre Öffnung für Frauen, Gerhard Kümmel

-         Projekt ohne Vorbild. Theologie am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr (SOWI), von Horst Scheffler

-         Sozialwissenschaftliche Begleitung von Reformen in der Bundeswehr, von Gregor Richter

-         Politische Hintergründe und Eingriffe des Ressorts am Beispiel des SOWI-Projekts „Ökonomische Modernisierung der Bundeswehr“, von Gerd Portugall

-         Die Militärsoziologie, das Militär und die Zukunft, von Angelika Dörfler-Dierken, Angelika und Gerhard Kümmel

Stellenwert der Militärsoziologie im Verteidigungsausschuss – einige meiner Erfahrungen aus der 13.-16. Wahlperiode (1994-2009)

„Mehr verstehen. Besser entscheiden.“ Das Motto des früheren Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr (SOWI) könnte den Stellenwert von Militärsoziologie für Sicherheitspolitik kaum besser auf den Punkt bringen. Wieweit erreichten ihre Forschungsergebnisse die sicherheitspolitischen Akteure und dienten wirklich als Politikberatung und Entscheidungshilfen?[1] (…)

Erste Begegnungen

Im Herbst 1996 besuchte ich mit einer Spitzendelegation der bündnisgrünen Partei und Bundestagsfraktion das kriegszerstörte Bosnien. Für die meisten Kolleginnen und Kollegen war es die erste Begegnung mit Bundeswehrsoldaten im Einsatz. Positiv überrascht waren sie, die fast alle aus der KDV-Szene stammten,  über diese deutschen IFOR-Soldaten: Im Auftrag von UNO und Bundestag standen sie überzeugt für Kriegsverhütung. Die offenen und besonnenen Gesprächspartner zeigten keine Spur von Militarismus – waren Welten entfernt von der Wehrmacht. Auf unserer Seite kamen pauschale Fremdbilder von Bundeswehrsoldaten ins Rutschen. Es wurde eine irritierend-produktive Begegnung von Außen- und Innensichten.

Im Folgejahr bekam dieses aufgehellte Militärbild im Inland hässliche Risse: Schlag auf Schlag berichteten die Medien von Gewaltexzessen und Vorfällen mit rechtsextremem Hintergrund in der Bundeswehr: Angefangen im März 1997 mit einem Angriff von neun Soldaten auf Ausländer in Detmold, dann Vorfälle u.a. in Altenstadt (Luftlande-/Lufttransportschule), Scheinerschießungen in Hammelburg, schließlich ein Vortrag des ehemaligen Rechtsterroristen Roeder an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg.

Die Frage drängte sich auf: Handelte es sich um lauter bedauerliche Einzelfälle, um einen „Import“ gesellschaftlicher Probleme in die Bundeswehr, die ein Spiegelbild der Gesellschaft sei? Oder waren die Vorkommnisse Ausdruck einer latenten Entwicklung, gar Spitze eines Eisbergs? (…)

Anbieterlandschaft

Aus parlamentarischer Sicht war und ist der wichtigste Anbieter empirisch fundierter militärsoziologischer Forschungsergebnisse das frühere SOWI und jetzige Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw). Dann folgt der Deutsche Bundeswehrverband mit den von ihm in mehrjährigen Abständen beauftragten Umfragen. Nur vereinzelt erschienen empirische Studien von Dritten. Bis auf den Masterstudiengang „Military Studies – Militärgeschichte/Militärsoziologie“ an der Uni Potsdam findet an deutschen Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen Militärsoziologie praktisch nicht statt.

Das SOWI mit seinem exklusiven Zugang zu den Bundeswehrangehörigen deckte mit seinen Forschungsschwerpunkten einen Großteil der Themen ab, die den Verteidigungsausschuss alltäglich beschäftigten:

- Einstellungsforschung und Meinungsumfragen

- Personalgewinnung und Personalbindung

- Sozialwissenschaftliche Begleitung der Auslandseinsätze

- Multinationalität/Europäische Streitkräfte

- Transformation der Bundeswehr

- Militär, Ethik und Innere Führung.

(…)

Von erheblicher militärsoziologischer Relevanz sind die internen Mitarbeiterbefragungen der Bundeswehr durch die Gruppe Wehrpsychologie im Streitkräfteamt: Seit 1989 die Befragung der aus den Streitkräften ausscheidenden Soldaten (BAS); seit 1996 freiwillige Befragung von Berufssoldaten (BBS); seit 2000 Befragung aller einsatzerfahrener Soldaten (BES).[2] Da die Befragungen dem Verteidigungsausschuss nicht direkt zugänglich waren, werden sie im Weiteren nicht weiter thematisiert.

Einzelfälle, Gruppenphänomene, Trends?

(…)

Sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse im Verteidigungsausschuss

Im Verteidigungsausschuss kamen militärsoziologische Forschungsergebnisse nur vereinzelt und überwiegend indirekt über Berichte der Bundesregierung und des Wehrbeauftragten sowie in der Beantwortung von Abgeordnetenfragen zur Sprache. In der 15. und 16. Legislaturperiode (2002 bis 2009) geschah das etwa bei folgenden Gelegenheiten:

- Im Dezember 2002 stand ein SOWI-Bericht zu „Auslandseinsätzen der Bundeswehr im Rahmen von KFOR“ auf der Tagesordnung des Ausschusses.

- Bei einem Abgeordnetenbesuch des SOWI im Dezember 2003 wies Institutsdirektor Jörn Thießen auf die jüngste Bevölkerungsbefragung des SOWI hin, nach der in der Bevölkerung die Zustimmung zu einer aktiven Außen- und Sicherheitspolitik zurückgehe.

- Beim Besuch der beiden Militärbischöfe im Verteidigungsausschuss im Juni 2004 zitierte ein Bischof eine SOWI-Umfrage, wonach die Militärseelsorge unter den Soldaten eine hohe Zustimmung genieße.[3]

- Bei den Themen Nachwuchsgewinnung, Attraktivitätssteigerung und Vereinbarkeit von Familie und Dienst flossen gelegentlich sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse ein, ohne dass dies in jedem Fall kenntlich gemacht wurde.

- Im April 2007 befasste sich der Ausschuss mit Anträgen der Fraktionen zur Stärkung der Geistes- und Sozialwissenschaften: Hierbei gaben Koalitionsabgeordnete zu bedenken, dass man im Verteidigungsausschuss angesichts einiger unschöner Vorfälle in letzter Zeit ein Interesse an sozialwissenschaftlicher Forschung habe.

- Beim Bericht der Bundesregierung zur inhaltlichen Vorbereitung der Truppe auf die Auslandseinsätze im Rahmen der Politischen Bildung im Februar 2008 wurde die ZDv 12/1 „Politische Bildung“ sowie Umfragen zur politischen Bildung bei Rückkehrern von EUFOR DR Congo, bei Soldaten des 11. Kontingents KFOR und des 8. Kontingents ISAF thematisiert.

- In der Ausschusssitzung am 24. September 2008 fragte ein Abgeordneter der Opposition, wie die Bundesregierung der zunehmenden Ablehnung des Afghanistaneinsatzes hierzulande entgegenwirken wolle. Der Minister entgegnete, dass nach seiner Beobachtung die Zustimmung in der Bevölkerung eher zunehme. Laut Untersuchung des SOWI sähen 64% der Befragten den Einsatz positiv.[4]

- Bei der Aussprache über den Bericht der Bundesregierung zur Gleichberechtigung und Akzeptanz von Frauen in der Bundeswehr[5] am 18. März 2009 wurde dem SOWI  ausdrücklich für seine Arbeit gedankt.

- Eine erhebliche Rolle im politischen Meinungsstreit hingegen spielten die vom Bundeswehrverband beauftragten Umfragen. Spektakulär und von Regierungsseite heftig umstritten waren die Ergebnisse der Mitgliederbefragung 2007, wonach 74% der Berufssoldaten ihnen nahe stehenden Personen den Dienst in den Streitkräften nicht empfehlen würden. [6]

Bei weitem am ausführlichsten kamen Forschungsergebnisse des SOWI im Unterausschuss zur „Weiterentwicklung der Inneren Führung“ zur Geltung, der von 2003 bis 2007 auf Beschluss des Verteidigungsausschusses tagte. In der vierten Sitzung am 15. Oktober 2003 schilderte der damalige SOWI-Direktor Thießen die Aufgabe des Instituts und seine konkreten Arbeitsschwerpunkte. Bei den Sitzungen zur Ethik, Nachwuchsgewinnung und Jugendmarketing, zur Ausbildung und Interkulturellen Kompetenz in der Bundeswehr, zu den Auslandseinsätzen, zu multinationalen Verbänden, Frauen in den Streitkräften, Familie und Dienst spielten Forschungsergebnisse des SOWI mit hinein. Beim Thema Erfolgskontrolle des Ministeriums wurde deutlich, dass die internen Mitgliederbefragungen auch dem SOWI für seine Arbeit bisher nicht zugänglich waren.

In seinen gemeinsamen Handlungsempfehlungen formulierte der Verteidigungsausschuss als letzte Schlussfolgerung:

„Die in der Bundeswehr an verschiedenen Stellen vorhandenen Daten (nicht Einzelbeschwerden oder individuelle Eindrücke) sollten zur sozialwissenschaftlichen internen Evaluation gebündelt werden. Neben der Auswertung sollte es auch darum gehen, Curricula neu zu entwickeln und vorhandene anzupassen. Auswertung, Bewertung und darauf fußende konzeptionelle Beratungsleistungen können verstärkt im SOWI angesiedelt werden.“[7] Die FDP ging in ihrem Sondervotum auf die Mitgliederbefragung des Bundeswehrverbandes ein, die eine hohe Berufsunzufriedenheit der Befragten ermittelt hatte. Die Linke empfahl in ihrem Sondervotum, im Hinblick auf das Traditionsverständnis in der Bundeswehr die Zusammenarbeit und den Informationsaustausch mit dem SOWI und dem MGFA zu verbessern. Das Sondervotum der Grünen schließlich bemängelte, das Parlament erhalte nur wenig Kenntnis  über die internen Erhebungen und Evaluationen der Bundeswehr. Der Wehrbeauftragte solle mit einem erweiterten Kontrollauftrag ausgestattet werden. Dafür müsste die Zusammenarbeit mit den in der Bundeswehr für die Evaluation von Erkenntnissen über die Innere Führung Zuständigen (SOWI oder Truppenpsychologische Dienst) gewährleistet werden.

Kritisch bilanziert wurde, dass sich der Unterausschuss mit dem Wandel des soldatischen Selbstverständnisses durch die neuen Aufgaben nur am Rande befasst habe. Wie die Soldaten mit ihren Einsatzerfahrungen umgehen und welche Auswirkungen diese auf Orientierungen von Soldatinnen und Soldaten haben, sei kaum diskutiert worden. Die Frage nach der sich wandelnden Berufsidentität und der Aktualität des Leitbildes des Staatsbürgers in Uniform sei unbeantwortet geblieben.

Sehr vereinzelt kamen auch externe sozialwissenschaftliche Studien zur Sprache. Es waren Bevölkerungsbefragungen im Einsatzgebiet.

- Im Frühsommer 2006 erschienen Feldstudien des Senlis-Council zur Aufstandsbewegung in den afghanischen Provinzen Helmand, Kandahar und Nangarhar[8]. Ihre beunruhigende Botschaft: Der Trend habe sich im Süden gedreht, die Kluft zwischen Bevölkerung und internationalen Anstrengungen wachse. Internationale Truppen, die ursprünglich als Befreier galten, würden zunehmend als Invasoren gesehen – und die Taliban als Beschützer. Auf mehrfache Fragen eines Abgeordneten dazu seit Juli 2006 nahm die Bundesregierung erst im April 2007 schriftlich zu den Studien Stellung. Eine weitere Aussprache darüber erfolgte nicht.

- Im Februar 2008 wurde im Ausschuss kurz die von einem Team um Prof. Thomas Risse erstellte Studie „Internationale Akteure in Afghanistan“ des Sonderforschungsbereichs 700 der FU Berlin erwähnt[9]. Die Befragung von 2034 Haushalten in den Provinzen Kunduz und Takhar im Februar/März 2007 war der erste Versuch einer sozialwissenschaftlichen Wirksamkeitsanalyse des internationalen Engagements in Provinzen des deutschen Verantwortungsbereichs. Sie erbrachte überraschend hohe Zustimmungswerte zur Sicherheitsleistung der internationalen Truppen, aber auch Hinweise auf ein interkulturelles Konfliktpotenzial. In der Öffentlichkeit blieb die Studie weitgehend unbeachtet.

- Eine Ausnahme von der Regel der Minimalbeachtung externer Studien war, dass am 11. Februar 2008 sowohl Ausschussmitglieder wie auch Vertreter der Bundesregierung die jüngste Afghanistan- Umfrage von ARD, ABC und BBC[10] ansprachen: Neben methodischen Bedenken wurden vor allem die ambivalenten Umfrageergebnisse betont: die erstaunlich positiven Zukunftserwartungen; das beunruhigend breite Verständnis für Angriffe auf internationale Truppen in Teilen der Bevölkerung (in Kandahar 55%, in Kunduz 16%).

Schwachstellen und blinde Flecken

Im Mai 2014 erregte die o.g., im Rahmen des Review-Prozesses des Auswärtigen Amtes erstellte Umfrage der Körber-Stiftung besondere Aufmerksamkeit: Demnach befürworten nur 37% der Befragten eine aktivere deutsche Außenpolitik, 60% votierten weiter für Zurückhaltung. Die Bevölkerungsmehrheit positionierte sich damit in deutlichem Gegensatz zu den Aufrufen von Außenminister, Bundespräsident und Verteidigungsministerin zur Übernahme größerer Verantwortung in der Welt.[11]

Für Beobachter der Bevölkerungsumfragen des SOWI kam dieses Ergebnis nicht überraschend. In diesen hatte seit Jahren eine knappe Hälfte der Befragten dafür votiert, deutsche Politik solle „sich eher auf die Bewältigung eigener Probleme konzentrieren und sich aus Problemen, Krisen und Konflikten anderer möglichst heraushalten“: 47% im Jahr 2000, 48% im Jahr 2012. Für eine „ehe aktive“ internationale Politik votierten im Jahr 2000 52%, in 2012 42%.[12]

Die Bevölkerungsumfragen erbrachten viele, für eine wirksamere friedens- und sicherheitspolitische Kommunikation aufschlussreiche Erkenntnisse, insbesondere angesichts des seit Jahren zu beobachtenden Akzeptanzverlustes der Auslandseinsätze und eines vielfach behaupteten „freundlichen Desinteresses“ der Bevölkerung gegenüber der Bundeswehr, das in der Umfrage von 2009 relativiert wurde.[13] Zumindest bis 2009 debattierte der Verteidigungsausschuss die Bevölkerungsumfragen kein Mal.

Fremdenfeindliche und rechtsextreme Orientierungen: Die Bundeswehrangehörigen sind auf das Grundgesetz und das Völkerrecht, auf die Menschenwürde verpflichtet. Sie stehen in der Pflicht, die freiheitlich demokratische Grundordnung nicht nur anzuerkennen, sondern auch für ihren Erhalt einzutreten. Das steht im diametralen Gegensatz zu jeder Form von Rechtsextremismus, der die demokratischen Grundwerte negiert und bekämpft. Hierzu ein realitätsnahes Lagebild zu gewinnen, ist besonders schwierig.[14]

Ein wichtiger, aber keineswegs ausreichender Indikator sind Verdachtsfälle mit rechtsextremem und fremdenfeindlichem Hintergrund, die von Disziplinarvorgesetzten gemeldet werden.

Im Juni 2001 legte das SOWI die Studie „Rechtsextreme Orientierungen in Deutschland und ihre Folgen für die Bundeswehr“ vor.[15] Ende 2007 führte das SOWI an den beiden Bundeswehr-Universitäten eine repräsentative Umfrage durch, bei der auch nach politischen Präferenzen und zu politischen Zielen der „Neuen Rechten“ gefragt wurde.

Über diese punktuellen Studien und die Erfassung entsprechender „besonderer Vorkommnisse“ hinaus erfolgte keine kontinuierliche wissenschaftliche Untersuchung zu politischen oder gar rechtsextremen Orientierungen in den Streitkräften.

Hierfür fehlte in der Exekutive wie in der Legislative der politische Wille – auch in der rot-grünen Koalition 1998-2005.

(…)

Im Verteidigungsausschuss als Untersuchungsausschuss zum Misshandlungsvorwurf des ehemaligen Guantanamo-Häftlings Murat Kurnaz von 2006 bis 2008 sagten etliche (ehemalige) Kommandosoldaten aus. Hierbei konnten Abgeordnete einen persönlichen Eindruck von Soldaten gewinnen, die Höchstleistungen unter hohem Risiko unter höchster Geheimhaltung erbringen. Viele beeindruckten durch ihre ruhige, überlegte Professionalität.

Wie Kommandosoldaten mit den Extremanforderungen, mit ihrer völligen Abschottung und Binnenorientierung umgehen, wieweit das Leitbild vom „Staatsbürger in Uniform“ bei Spezialkräften noch trägt, sich gerade bewährt oder eine Illusion ist – hierzu wären militärsoziologische Untersuchungen sehr vonnöten. Diese gibt es bisher nicht. 

Kriseneinsätze der Bundeswehr sind in der Regel nicht nur multinational, sondern auch multidimensional: Im vernetzten Ansatz agieren Soldaten mit Polizisten, Diplomaten und Entwicklungsexperten und humanitären Helfern. Ein bestmögliches Zusammenwirken für gemeinsame bzw. kompatible Ziele wird immer wieder erschwert durch unterschiedliche Organisationskulturen, die oft kaum reflektiert werden. Eine Grunderfahrung aus Einsätzen ist, dass es keiner allein schafft, dass verschiedene Akteure unterschiedliche Stärken haben, die sich im besten Fall ergänzen können. Dass die Wirklichkeit des vernetzten Ansatzes trotz einiger Lernfortschritte weiter sehr hinter seinem Anspruch hinterherhinkt, ist auch einem Mangel an sozialwissenschaftlicher Erforschung der Ressortzusammenarbeit geschuldet. Exemplarisch dafür steht die offiziell als Modell gepriesene ressortübergreifende Konstruktion der Provincial Reconstruction Teams (PRT) in Afghanistan. Im April 2007 teilte der Generalinspekteur im Verteidigungsausschuss mit, eine ressortübergreifende Studie zur Wirksamkeit des deutschen PRT sei auf den Weg gebracht worden. Bis zum Jahresende sollte die Studie erscheinen. Sie ist bis heute nicht auffindbar.

Bei der Veranstaltung zur Auflösung des SOWI am 22. November 2012 wies Prof. Joseph Soeters von der Netherlands Defense Academy darauf hin, dass sich die Militärsoziologie viel weniger mit der Untersuchung der Auswirkungen der Einsätze auf das jeweilige Einsatzgebiet befasse. Mit der Studie „ISAF 2010“ wurde die sozialwissenschaftliche Begleitung der eigenen Einsatzkräfte in einer bisher nicht dagewesenen Differenziertheit vorangebracht. Das ist bis heute so geblieben. Es gibt in Deutschland  ein Forschungs- und Evaluierungsdefizit bezüglich der Wirkungen der Einsätze auf die Bevölkerung in den Einsatzgebieten. Das ist Ausdruck des strategischen Fehlers von politischer Führung und Parlamentsmehrheiten, die seit Jahren eine systematische Bilanzierung und Wirkungsanalyse von Kriseneinsätzen verweigert haben.[16]

Freundliches Desinteresse?

Die Notwendigkeit militärsoziologischer Forschungen liegt auf der Hand. Der Bedarf an entsprechender Politikberatung steigt.

Prof. Ernst-Christoph Meier, letzter Direktor des SOWI, beschrieb am 22. November 2012 als Markenkern des SOWI, der auch am neuen Standort Potsdam zu erhalten sei, u.a. „eine Beratungskapazität, die unverzichtbar geworden ist für alle, die im BMVg und in der Bundeswehr Verantwortung tragen und die Entscheidungen auf gesicherter Wissensgrundlage treffen wollen. (…)“[17] In der Tat spricht vieles für diese positive Bilanz.

Auf parlamentarischer Seite wurde demgegenüber die militärsoziologischen Forschungen viel weniger genutzt. Das lag sicher nicht am Ruf des SOWI. Seine Forschungsergebnisse galten durchweg als wissenschaftlich seriös und glaubwürdig. Bei einzelnen Abgeordneten und Mitarbeitern bestand auch grundsätzlich hohes Interesse an militärsoziologischen Forschungen. Aber das Getümmel des parlamentarischen Alltags, die permanente Überflutung mit aktuellen, dringlich erscheinenden Informationen, die verbreiteten Neigung zur Mikrokontrolle im Verteidigungsausschuss absorbierten Zeit und Energie – auf Kosten von weniger dringlichen, aber längerfristig relevanten Informationen, auf Kosten strategischer Orientierung.

Symptomatisch war, dass weder beim Festakt zu 35 Jahren SOWI im Dezember 2009 noch bei der Auflösungsveranstaltung des SOWI am 22. November 2012 aktive Bundestagsabgeordnete Präsenz zeigten.

Die freundliche Distanz der parlamentarischen Seite wurde begünstigt durch ein enges Verständnis von Ressortforschung auf Seiten des Ministeriums. In den SOWI-Publikationen wurden als Adressaten des Instituts nur die politische Leitung und militärische Führung der Bundeswehr genannt, gelegentlich auch die interessierte Öffentlichkeit aus Wissenschaft, Militär, Politik und Gesellschaft, nie ausdrücklich das Parlament. Dass der Bundestag seit inzwischen zwanzig Jahren Mitauftraggeber bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr ist, schlug sich im Forschungsprogramm und in der Publikationspraxis kaum nieder. Die letzte Studie zur parlamentarischen Kontrolle der Bundeswehr erschien 1988.[18] Etliche für die parlamentarische Kontrolle der Streitkräfte ausgesprochen wichtige Studien erreichten den Verteidigungsausschuss mit erheblicher Verzögerung oder gar nicht. Ob eigentlich zur Veröffentlichung bestimmte Studien freigegeben wurden, wurde im Ministerium entschieden und erschien wenig berechenbar. Die Studentenbefragung an den Bundeswehr-Unis von Ende 2007 wurde erst im März 2010 veröffentlicht. Aus der seit 2010 laufenden Langzeitbegleitung des 22. Kontingents ISAF wurde im Juli 2014 erstmalig die Teilstudie „Afghanistanrückkehrer “ publiziert.[19]

Diese Studie wie auch die Bevölkerungsumfragen zeigen beispielhaft, wie konstruktiv militärsoziologische Forschungen zur Überwindung von Pauschalbildern und Stereotypen, zu besserem Verständnis der Inneren Lage der Bundeswehr und ihres Verhältnisses zur Gesellschaft beitragen können. Sie verdienen es, auch vom Bundestag besser genutzt zu werden – zum Beispiel durch ein jährliches Gespräch des Verteidigungsausschusses mit den Sozialwissenschaftlern des ZMSBw und ein Initiativrecht des Wehrbeauftragten zu militärsoziologischen empirischen Studien. Der Strategiefähigkeit und Verantwortlichkeit der deutschen Sicherheitspolitik würde das nur nutzen.



[1] Eine zentrale Quelle sind meine persönlichen Aufzeichnungen Kladde I ab Januar 1995, insbesondere Kladde XV/April 2002 bis XXVIII bis September 2009 

[2] Die Befragungsergebnisse werden systematisch für die Leitung und Führungsstäbe ausgewertet und gehen auch an den Wehrbeauftragten. Weitere Instrumente zur Erfassung der Inneren Lage der Bundeswehr: Beauftragter für Erziehung und Ausbildung beim Generalinspekteur (BEA), das Zentrum Innere Führung Inspizienten der Bundeswehr, Tagungen zur Inneren Lage des Heeres, der Wehrbeauftragte des Bundestages.

[3] Martin Bock: Religion als Lebensbewältigungsstrategie von Soldaten. Die Einstellung von Soldaten zu Glaube, Werten, und Seelsorge und ihre Veränderung im Bosnieneinsatz der Bundeswehr, Bericht 73, Mai 2002

[4] Thomas Bulmahn, Rüdiger Fiebig, Stefanie Geif, Alexandra Jonas, Wolfgang Sender, Victoria Wieninger: Sicherheits- und verteidigungspolitisches Meinungsklima in der Bundesrepublik Deutschland . Ergebnisse der Bevölkerungsbefragung 2007 des SOWI, Oktober 2008

[5] Gerhard Kümmel: Truppenbild mit Dame. Eine sozialwissenschaftliche Begleituntersuchung zur Integration von Frauen in die Bundeswehr, Forschungsbericht Band 82, Strausberg März 2008

[6] Mitgliederbefragung des Dt. Bundeswehrverbandes zur Berufszufriedenheit, April 2007

[7] Abschlussbericht des Unterausschusses „Weiterentwicklung der Inneren Führung, politische Bildung und sozialen Verantwortung für Angehörige der Bundeswehr vor dem Hintergrund des Aufgaben- und Strukturwandels im Einsatz“, Berlin 21, Juni 2007, S. 63

[8] The Senlis Council: Field Notes: Afghanistan Insurgency Assessment – The Signs of an escalating Crisis. Insurgency in the Provinces of Helmand, Kandahar und Nangarhar, London April 2006

[9] Veröffentlicht am 6. Februar 2008 vom SFB 700 „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit“, Kooperation mit dem Evaluierungsreferat des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ)

[10] Veröffentlicht am 9. Februar 2009, 1.534 Befragte in allen 34 Provinzen, Vorgängerstudien 2007, 2004-2006 ohne ARD

[11] Dieses „Mehrheitsvotum“ relativiert sich aber dadurch, dass zum Zeitpunkt der Umfrage internationale Verantwortung oft auf Militäreinsätze verkürzt wurde und dass die Distanz gegenüber einem stärkeren internationalen deutschen Engagement nicht kategorisch ist, sondern sich erheblich nach Zielen und Aktionsfeldern auf differenziert.

[12] Maike Wanner, Thomas Bulmahn: Sicherheits- und verteidigungspolitisches Meinungsklima in der Bundesrepublik Deutschland. Ergebnisse der Bevölkerungsumfrage 2012, Strausberg August 2013

[13] Heiko Biehl, Rüdiger Fiebig: Zum Rückhalt der Bundeswehr in der Bevölkerung – Empirische Hinweise zu einer emotional geführten Debatte, SOWI.Thema 02/2011

[14] Winfried Nachtwei: Eine Diskussion so alt wie die Bundeswehr? Rechtsextreme Einstellungen und Vorfälle in und im Umfeld er Bundeswehr, in: Rechtsextreme Gewalt in Deutschland 1990-2013, hg. Von Gorch Pieken und Matthias Rogg, Militärhistorisches Museum der Bundeswehr, Dresden 2013

[15] Sven Bernhard Gareis, Peter-Michael Kozielski, Michael Kratschmar: Rechtsextreme Orientierungen in Deutschland und ihre Folgen für die Bundeswehr, SOWI-Arbeitspapier Nr. 129, Strausberg 2001

[16] Winfried Nachtwei: Bilanzierung und Evaluation deutscher Auslandseinsätze, in: Thomas Hoppe (Hg.): Verantwortung zu schützen. Interventionspolitik seit 1990 – eine friedensethische Bilanz, Berlin Juni 2014

[17] Veranstaltung zur Auflösung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr am 22. November 2012, Strausberg Dezember 2012

[18] Detlef Bald, Wilhelm Sahner, Matthias Zimmer: Parlamentarische Kontrolle, Bundeswehr und öffentliche Meinung dargestellt am Beispiel der großen und kleinen Anfragen des Deutschen Bundestages 1953-1987, München Oktober 1988

[19] Anja Seiffert, Julius Heß: Afghanistanrückkehrer – Der Einsatz, die Liebe, der Dienst und die Familie. Ausgewählte Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Begleitung des 22. Kontingents, Potsdam Juli 2014. Die Berichte „ISAF 2010“ vor, im und nach dem Einsatz von April und Oktober 2010 und Mai 2011 wurden bisher nicht voll veröffentlicht. Ihre Teilergebnisse sind vor allem in dem Sammelband „Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan“, hrsg. Von Anja Seiffert, Phil C. Langer und Carsten Pietsch, Schriftenreihe des SOWI, Wiesbaden 2012 publiziert.

 


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

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