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Startschuss zum neuen WEISSBUCH - Endlich mit breiter sicherheitspolitischer Debatte?

Veröffentlicht von: Nachtwei am 22. Februar 2015 16:49:47 +01:00 (113732 Aufrufe)

Am 17. Februar 2015 begann die Erarbeitung des 11. sicherheitspolitischen Weissbuches der Bundesregierung mit einer halböffentlichen Auftaktveranstaltung. Das ist eine Premiere. Alle Vorgänger-Weissbücher waren unter Ausschluss der Öffentlichkeit entstanden. Als Moderator der AG zum Gesamtstaatlichen Ansatz war ich dabei. Hier eine Konferenzübersicht, einige Anmerkungen und - immer noch aktuelle - Kommentare zum letzten Weissbuch.

„WEISSBUCH 2016

Zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“ –

Endlich mit breiterer sicherheitspolitischer Debatte? Auftakt in Berlin

Winfried Nachtwei, MdB a.D. (2/2015)

Mit einer Auftaktveranstaltung am 17. Februar 2015 im Berliner Hotel Esplanade begann der öffentliche Teil des „WEISSBUCH-Prozesses“. Die Erarbeitung des strategischen Grundlagendokuments für die Bundeswehr soll von Anfang an „inklusiv“ sein und in eineinhalb Jahren in einem neuen Weißbuch münden.[1]

Vor mehreren Hundert geladenen Gästen hielten Ministerin Dr. Ursula von der Leyen, SWP-Direktor Prof. Volker Perthes und Chatham-House-Direktor Dr. Robin Niblett die Eröffnungsreden.

(Zusammenfassender Bericht und Ministerrede auf der Sonderseite „Das Weißbuch 2016 entsteht“http://www.bmvg.de/portal/a/bmvg/!ut/p/c4/04_SB8K8xLLM9MSSzPy8xBz9CP3I5EyrpHK9pNyydL3y1Mzi4qTS5Az9gmxHRQBg2ftX/ )

Anschließend diskutierten vier parallele Arbeitsgruppen Perspektiven der

(1)   Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Moderation Dr. Sylke Tempel, Podium Botschafter Maurice Gourdault-Montagne, Dr. Constanze Stelzenmüller, Leiter AA-Planungsstab Dr. Thomas Bagger, Prof. Joachim Krause

(2)   Partnerschaften und Bündnisse, Mod. Ruprecht Polenz, Podium Roderich Kiesewetter, Prof. Johannes Varwick, Generalmajor Hans-Werner Wiermann, Janusz Reiter

(3)   des nationalen Handlungsrahmens: Gesamtstaatlicher Ansatz, Mod. Winfried Nachtwei, Podium MdB Florian Hahn, GIZ-Vorstandssprecherin Tanja Gönner, Prof. Matthias Herdegen, Dr. Klaus Naumann

(4)   der Bundeswehr, Mod. Thomas Wiegold, Podium MdB Henning Otte, MdB Wolfgang Hellmich, Generalleutnant Heinrich Brauß, General Tom Middendorp, Befehlshaber der niederländischen Streitkräfte..

Die Gesamtveranstaltung leitete Ministerialdirektor Dr. Geza Andreas von Geyr, Abteilungsleiter Politik im BMVg und verantwortlich für den WEISSBUCH-Prozess.

(Zusammenfassender Bericht der AG 3 Perspektiven des nationalen Handlungsrahmens: Gesamtstaatlicher Ansatz 

http://www.bmvg.de/portal/a/bmvg/!ut/p/c4/NYwxD4IwEEb_0R0kDuIm4uCo0ShuBS6lkV6b6xUWf7ww-L3kLS_58I0rbGZnjbrAZsIXtr07dAt0frawkEupy_0IkSRF-qibiWE0PEyZbRIzemJ8bjcDQR-YdLMSq1ttxWgQiEF02koWWQu4AduibOqiLP4rv9X9cTpfq92-udQ3jN4ffycNGQs!/ )

Im Laufe des Jahres sollen vier Experten-Workshops, mehrere Kolloquien und Anhörungen sowie eine weitere Konferenz im heutigen Format stattfinden. Aufnehmen wolle man Anregungen und Impulse aus Parlament und Parteien, Wissenschaft und Forschung, Think-Tanks und Verbänden, aus dem In- und Ausland. BürgerInnen könnten sich ab heute mit Fragen und Beiträgen über die Internet-Seite www.weissbuch.de an dem Prozess beteiligen. Man wolle den Dialog suchen mit Partnern und Verbündeten, in der NATO und der EU, mit der OSZE und der UN. Die Ministerin: „Je munterer die Diskussion, je größer die Zahl der Beteiligten am Prozess, desto besser.“

Die Öffnung des WEISSBUCH-Prozesses zur Öffentlichkeit ist sehr zu begrüßen!

Bisher wurden Weißbücher und Verteidigungspolitische Richtlinien des Verteidigungsministeriums immer unter Ausschluss der Öffentlichkeit und des Parlaments erstellt und erlassen. Notorisch wurde damit eine breitere sicherheits- und friedenspolitische Debatte und Konsensbildung von oben blockiert – auch von rot-grünen Bundesministern (so im Fall der Weiszäcker-Kommission 2000 und der Verteidigungspolitischen Richtlinien 2003).

Nach dem öffentlichen Review-2014-Prozess des Auswärtigen Amtes und der öffentlichen Erarbeitung der „Zukunftscharte EINEWELT“ des Entwicklungsministeriums war die Öffnung des WEISSBUCH-Prozesses notwendig und unausweichlich.

Unklar ist mir, wie weit die Diskussionsöffnung gehen soll: Wird auch die Auseinandersetzung mit Kritiker und Gegner des heutigen Bundeswehrauftrages und der Bundeswehr insgesamt gesucht oder will man sich mehr oder weniger auf eine nahestehende „Expertenöffentlichkeit“ beschränken? Letzteres wäre kurzsichtig und würde das Ziel einer breiteren gesellschaftlichen Verständigung und Konsensbildung konterkarieren. Die Diskussion gesucht werden sollte zumindest mit all den BürgerInnen, die die friedens- und sicherheitspolitischen Festlegungen von Grundgesetz und UN-Charta (also grundsätzliche Pflicht zur Unterstützung internationaler Friedenssicherung) teilen und zumindest

respektieren.[2]

Umfassender Sicherheitsbegriff und militärisch verengte Schlussfolgerungen: Das war der Grundwiderspruch der Weißbücher von 1994 und 2006, die federführend vom Verteidigungsministerium erarbeitet wurden. (Vgl. unten einige Kommentare zum Weißbuch 2006) Erst wurden die verschiedenen Dimensionen von Sicherheit und die vielfältigen Ursachen von Sicherheitsbedrohungen entfaltet, dann das breite Spektrum an politischen, wirtschaftlichen, sozialen, polizeilichen und militärischen Instrumenten von Sicherheitspolitik und ihre Vernetzung beschworen, um dann nur militärische Konsequenzen daraus zu ziehen. Damit wurde die militärlastige Wahrnehmung von Sicherheitspolitik befördert und der Fehlinterpretation Vorschub geleistet, als solle jedwede Sicherheitsbedrohung militärisch beantwortet werden.

Auch das elfte Weißbuch soll unter Federführung des BMVg in Abstimmung mit den anderen Ressorts erarbeitet und nach Beschluss des Bundeskabinetts das zentrale sicherheitspolitische Grundlagendokument der Bundesregierung sein.

Wo grundsätzlich Konsens besteht über ein umfassendes Verständnis von Sicherheitspolitik, wo der Primat bei der politischen Konfliktlösung liegt und Militär diese in bestimmten Fällen nur absichern und unterstützen kann – müsste da das strategische Grundlagendokument zur deutschen Sicherheitspolitik nicht ressortgemeinsam unter Federführung des Auswärtigen Amtes erstellt werden? Oder wäre nicht als „Dach“ eine Friedens- und Sicherheitsstrategie angesagt?

Die Öffnung des WEISSBUCH-Prozesses zu den anderen Akteuren ist überfällig und bietet Chancen.

Seit den 90er Jahren war die Grunderfahrung aller Krisenengagements: Keiner schafft`s allein, die Notwendigkeit der anderen -  mit ihren jeweiligen Stärken und Grenzen! Die Konsequenz daraus waren der Aufbau neuer ziviler Instrumente der Krisenprävention und Konfliktbearbeitung, multidimensionale Einsätze und integrierte UN-Missionen sowie das Kohärenz- und Vernetzungsgebot, das schon im Aktionsplan Zivile Krisenprävention von 2004, dann im Weißbuch 2006 – verengt auf „vernetzte Sicherheit“ - seinen Niederschlag fand. So sehr der vernetzte Ansatz  in der sicherheitspolitischen Community seitdem Konsens ist – und als vernetzte Sicherheit zeitweilig zu reinem regelrechten Mantra wurde -, so auffällig war zugleich, wie wenig er in der Öffentlichkeit überhaupt wahrgenommen wurde (Krisenengagements werden meist reduziert auf Militäreinsätze) und wie sehr Einsatzpraktiker bis heute die Kluft zwischen Vernetzungs-Rhetorik und –Praxis und die Dominanz von Ressortdenken beklagen. Die Mehrheit der Hilfs- und Nichtregierungsorganisationen hegte darüber hinaus den Verdacht, dass sie im Rahmen der vernetzten Sicherheit vereinnahmt werden und ihre Unabhängigkeit verlieren könnten. (Der vernetzte Ansatz kann für zivilgesellschaftliche Akteure nur ein Angebot und kein Pflichtprogramm sein; erste Voraussetzung ist, dass operative Ziele zusammenpassen.)

Notwendig ist die ehrliche Überprüfung und Weiterentwicklung des gesamtstaatlichen und vernetzten Einsatzes. Dabei müsste endlich auch das geleistet werden, was bisher über 20 Jahre versäumt wurde – eine systematische Auswertung der bisherigen Kriseneinsätze. Wer kann was (weniger)? Darüber braucht eine Sicherheitspolitik, die wirksam sein will, Kenntnis und Klarheit. Bisher sind meist nur die Zuständigkeiten bekannt.

(Vgl. „Afghanistan – Lehren für den vernetzten Ansatz“, mein Impulsvortrag an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) am 26. Oktober 2012

http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=86&aid=1175

„Politisches Engagement in Konflikten – Optimierung der Interaktion zwischen zivilen und militärischen Akteuren“ von Ute Finckh-Krämer, Wolfgang-Christian Fuchs, Helmut Harff, Axel Jancke, Winfried Nachtwei, August 2012

http://www.isn.ethz.ch/Digital-Library/Publications/Detail/?id=170651 , http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=120&aid=1196

Neben Bedrohungs- auch Chancenanalysen!

Im Vergleich zu 2006 hat sich die friedens- und sicherheitspolitische Lage international, in der europäischen Nachbarschaft und in Europa selbst massiv verschlechtert: Transnationaler Terrorismus wütet stärker denn je und wird über „homegrown jihadists“ zu einer direkten Bedrohung im europäischen Haus. Großregionen in Nah-/Mittelost, in Nord- und Subsahara-Afrika durchleiden Bürgerkriege und Umbrüche von historischem Ausmaß. Flüchtlinge ertrinken massenweise im Mittelmeer. Der von Russland befeuerte Krieg in der Ukraine stellt die europäische Friedensordnung infrage. Die Bilanz westlicher Kriseneinsätze ist überwiegend ernüchternd. Die Bundesrepublik war seit 2007/2008 erstmalig in ihrer Geschichte mit Tausenden ihrer Soldaten jahrelang in einen Guerilla- und Terrorkrieg verwickelt. Die UN sind an den heißesten aktuellen Krisenherden blockiert. Rasant wachsenden die diffusen Bedrohungen durch Cyberkriminalität und Cyberkriegführung. Hochtouriges Krisen-Multitasking ist inzwischen außenpolitischer Normalfall.

So lebensnotwendig genaue und differenzierte Risiko- und Bedrohungsanalysen sind, so reaktiv und hoffnungslos sind sie, solange sie nicht mit „Chancenanalysen“ einhergehen: der Identifizierung von konstruktiven Prozessen, Akteuren, Zusammenhängen als Voraussetzung ihrer systematischen, wirkungsorientierten Förderung. (Gerade sind mir bei meinem jüngsten Afghanistanbesuch solche Chancen begegnet: die relativ friedliche Boom-Provinz Balkh um Mazar-e Sharif, die Baustelle von drei beruflichen Schulen westlich von Mazar, finanziert von deutscher Entwicklungszusammenarbeit. Hier wachsen Perspektiven.)

 

Einige meiner Stellungnahmen zum WEISSBUCH 2006

Bundestagsrede nach Veröffentlichung des Weißbuches 26.10.2006

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn es schon ziemlich oft gesagt wurde und vielleicht schon ermüdend wirkt: Dass dieses Weißbuch nach zwölf Jahren erscheint, ist eindeutig ein Fortschritt. Also danke, dass es zustande gekommen ist. Dass im Weißbuch die Bindung deutscher Politik an das Völkerrecht, gemeinsame, umfassende und vorbeugende Sicherheitspolitik und ausdrücklich der ressortübergreifende Ansatz betont werden, ist auch richtig. Aber ich will die ermüdende Tendenz dieser Debatte, die durch so viel Zustimmung gefördert wird, nicht noch weiter auf die Spitze treiben und deshalb die Dissenspunkte beim Namen nennen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Walter Kolbow [SPD]: Die Wahrheit darf man sagen!)

Zunächst zu den Widersprüchen, die schon öfter angesprochen wurden und von denen ich weiß, dass Kolleginnen und Kollegen aus der Koalition ähnlich über sie denken, ihre Meinung aber unter dem Harmoniedruck einer Koalition nicht öffentlich sagen können. Zu Recht bekennt sich die Bundesregierung zur nuklearen Abrüstung insgesamt. Aber dieses Bekenntnis wird deutlich dadurch entwertet, dass de facto gesagt wird: Bitte nicht vor der eigenen Haustür. - Dass nämlich Tornadojagdbomber der Bundeswehr nicht nur weiter für Atombombeneinsätze zur Verfügung stehen, sondern die Mannschaften den Einsatz auch üben müssen, ist, so finde ich, nicht nur ein sicherheitspolitischer Schwachsinn, sondern für die Soldaten schlichtweg ethisch unzumutbar.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das war nur ein Beispiel für die Widersprüche.

Nun aber zu den Lücken. Ein Herzstück des Weißbuchs ist, so finde ich, das Kapitel "Die Bundeswehr im Einsatz". Hier finden wir eine Skizze der bisherigen Bundeswehreinsätze, auch - wenn man etwas genauer hinschaut, sieht man es - mit einigen Unschärfen und sachlichen Unrichtigkeiten. Aber darauf will ich jetzt gar nicht eingehen. Es wird in diesem Kapitel vor allem die zentrale Chance vertan, aus mehr als zehn Jahren Erfahrungen mit Auslandseinsätzen im Kontext von deutschem und internationalem Krisenengagement Lehren und Schlussfolgerungen zu ziehen. Die allgemeine Schlussfolgerung ist bekannt: Transformation der Bundeswehr. Nur, nachvollziehbare Lehren existieren nicht. Denn im Weißbuch werden keine Antworten zum Beispiel auf folgende Fragen gegeben - gerade diese stellen sich die Bürgerinnen und Bürger, die uns zuhören, sicher -: Warum dauern die Einsätze viel länger, als man es in der Regel erwartet? Warum ist ein Ausstieg so schwierig? Was bringen diese Auslandseinsätze?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Im Weißbuch werden die bekannten Risiken und Bedrohungen benannt. Es wird aber offen gelassen, bei welchen dieser Risiken und Bedrohungen das Militär bzw. die Bundeswehr überhaupt etwas ausrichten kann und wo nichts. Herr Minister, Sie haben vorhin ein Beispiel gebracht, das zeigt, wie völlig vage die Zuordnung ist. Was kann die Bundeswehr gegen die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen tun? Höchstens kann das im Rahmen der Abrüstungskontrolle geschehen. Aber ansonsten? Meinen Sie etwa eine Vorstellung, wie die Amerikaner sie zum Teil haben? Da sage ich: Bloß nicht. Was kann die Bundeswehr zur Bekämpfung des Terrorismus beitragen? Nur nachgeordnet, aber in keiner Weise primär.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h.c. Susanne Kastner)

Wenn wir uns die Realität der Bundeswehr und die Trends weltweit anschauen, stellt sich die Frage, was vor allem gefragt ist. Beiträge zur Stabilisierung stehen im Mittelpunkt; das ist in der Tat eine prioritäre Aufgabe. Dann stellen sich wiederum ganz konkrete Fragen, auf die ein Weißbuch Antworten geben muss: Was ist die angemessene Zielebene bei der Stabilisierung bestimmter Staaten, beim so genannten Nation- und State-Building? Wir merken es an dem Beispiel Afghanistan. Das Ziel, den Rechtsstaat und die Demokratie zu fördern, ist zum Teil sehr weit von der Realität entfernt. Da brauchen wir ein angemessenes Niveau. Oder wie sieht es konkret mit der kohärenten Politik aus? Wie sieht es schließlich mit dem enormen Rückstand der politischen, zivilen und polizeilichen Instrumente bei solchen Stabilisierungseinsätzen aus? Dazu gibt es keine Antwort.

Deshalb müssen wir sagen: Gerade auf diese Schlüsselfragen aus der Praxis, die die Menschen und die Soldaten vor Ort besonders bedrängen, gibt es im Weißbuch keine Antworten. Da wird man allein gelassen. Das ist ein zentraler Mangel dieses Weißbuchs.

Vizepräsidentin Dr. h.c. Susanne Kastner:

Herr Kollege, beachten Sie bitte Ihre Redezeit.

Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ich komme zum Schluss.

Wir haben aber nicht nur Fragen und Kritik zum Weißbuch, sondern uns gleichzeitig um Antworten in diesem Bereich bemüht, damit wir in dieser Debatte weiterkommen; das Weißbuch soll ja ein Anstoß sein.

(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Die Antworten fallen aber nicht in die Redezeit!)

Deshalb, Herr Minister, kann ich mir erlauben, Ihnen die Dokumentation unserer Tagung zum Weißbuch und unserer Kontroverse darüber, in der einige Antworten enthalten sind, direkt zu übergeben.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Lachen des Abg. Dr. Norbert Röttgen [CDU/ CSU])

(Übergabe unserer gerade erschienen Tagungs-Dokumentation „Weißbuch in der Kontroverse: Sicherheitspolitik vor neuen Weichenstellungen“ vom 29. September an Minister Jung, http://nachtwei.de/downloads/fraktion/20060929_fachgespraech-weissbuch.pdf .

Der gestrige Tag ist eine Lehrstunde in Medien + Politik: BILD veröffentlicht Fotos von deutschen  ISAF-Soldaten in 2003 bei Kabul bei makaber-obszönen „Spielen“ mit Schädeln und Knochen über mehrere Tage regelrecht kampagnenartig. Wir Politiker geraten in eine regelrechte Verdammungsspirale. Ihr Vorteil: Die Verurteilungsbotschaft ist einstimmig und stark. Der Nachteil: Verurteilungen wie „unentschuldbar“ sind unverhältnismäßig und angesichts dessen, was hierzulande mit Schädeln etc. getrieben wird, auch heuchlerisch. Der Sogwirkung dieser Geschichte erliegen auch die seriösen Medien weitgehend. Die Debatte um das gerade im Kabinett beschlossene Weißbuch und die Kontroverse um die OEF-Verlängerung geraten darüber völlig an den Rand. Keine Spur von „Informationsdominanz“! Auszug aus Persönliche Kurzmeldungen zur Friedens- und Sicherheitspolitik Okt./Nov. 2006, Nr. 24)

Weißbuch zur Sicherheitspolitik: Ohne Profil und Richtung

Presseerklärung vom 25. Oktober 2006

Anlässlich der heutigen Verabschiedung des Weißbuches der Bundesregierung zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr im Kabinett erklärt Winfried Nachtwei, sicherheits- und abrüstungspolitischer Sprecher:

Die Bundesregierung hat ihre Hausaufgaben nicht gemacht: Das Weißbuch wimmelt von Allgemeinplätzen und bleibt an vielen Stellen im Vagen. Ein richtungsweisendes Grundlagendokument zur deutschen Sicherheitspolitik ist es nicht. Wir brauchen eine vorausschauende deutsche Sicherheitsstrategie, die die politischen, zivilen und militärischen Fähigkeiten und Instrumente deutscher Friedens- und Sicherheitspolitik aufeinander bezieht und abstimmt. Das hätte das Weißbuch leisten müssen.

Gut und überfällig ist die Vorlage eines Weißbuches. Richtig sind die Betonung des Friedensauftrages deutscher Sicherheitspolitik und ihre Verpflichtung auf Völkerrecht und Multilateralismus. Auf viele Schlüsselfragen deutscher Friedens- und Sicherheitspolitik liefert es aber keine Antworten. Es fehlt eine Auswertung deutschen Krisenengagements und Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Vergebens sucht man nach den Konsequenzen aus den Erfahrungen der letzten 15 Jahre. Das Weißbuch nennt eine Fülle von Risiken und Bedrohungen, lässt aber offen, wozu Bundeswehr erheblich, weniger oder gar nicht beitragen kann. Insofern bleibt die Aufgabenstellung der Bundeswehr nebelhaft. Damit wird einer Entgrenzung des Militärischen Vorschub geleistet.

Sicherheitspolitik heute muss angesichts der komplexen Probleme und Herausforderungen vorrangig politisch-ziviler Natur sein und darf nicht auf Militärpolitik fixiert bleiben. Das Weißbuch proklamiert zwar einen übergreifenden und kohärenten Politikansatz, liefert ihn aber nicht. Internationale Einsätze der Bundeswehr sind immer komplexe militärische, polizeiliche und zivile Missionen. Daraus hätte das Weißbuch deutliche Konsequenzen ziehen müssen. Die Bundesregierung sagt nicht, wie denn die eklatanten Fähigkeitslücken im zivilen und polizeilichen Bereich abgebaut werden sollen. Damit bleibt die Bundeswehr bis zum Sankt Nimmerleinstag in ihren Einsätzen. Auch auf die Frage, wie die Struktur- und Ausrüstungsdefizite der Bundeswehr abgebaut werden können, erhalten wir keine Antwort. Stattdessen wird die sicherheitspolitisch längst überholte Wehrpflicht festgeschrieben und an der politisch unverantwortlichen nuklearen Teilhabe festgehalten. Ein deutlicher Kurswechsel ist die Förderung deutscher Rüstungsexporte weltweit.

Viel zu lange ist das Weißbuch unter Verschluss gehalten worden. Die längst überfällige und notwendige breite friedens- und sicherheitspolitische Debatte wurde damit beeinträchtigt. Jetzt muss das Weißbuch Anlass und Katalysator einer solchen breiten Debatte sein. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie diese initiiert und wesentlich dazu beiträgt.

Bundestagsrede zum FDP-Antrag: „Kein Weißbuch ohne vorherige Parlamentsdebatte“ am 19.10.2006

Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Außen- und Sicherheitspolitik gilt traditionell als Domäne der Exekutive. Hans Raidel hat darauf hingewiesen. Zugleich aber gibt es in der Bundesrepublik eine gewachsene rechtsstaatliche Tradition der Parlamentsarmee. Diese Tradition ist so zeitgemäß wie nichts anderes.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Denn heutzutage ist der Einsatz bewaffneter Streitkräfte so sehr auf die Akzeptanz der Gesellschaft angewiesen wie wohl nie zuvor. Deshalb ist es ausdrücklich eine Fortsetzung alten Denkens, wenn ein konzeptioneller Meilenstein deutscher Sicherheitspolitik abgeschottet in den Ministerien entwickelt und dem Parlament und der Öffentlichkeit dann sozusagen zum Nachvollzug vorgesetzt wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)

Eine echte, breite sicherheitspolitische Debatte, die eben auch immer etwas Offenheit benötigt, wird damit behindert. Herr Minister, dass Sie das so abgewickelt haben, ist wohl - schaut man sich das Vorgehen der Vorgängerminister an - nicht unüblich, aber trotzdem kein Beweis von Stärke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)

Dass die Koalitionsfraktionen das so mitmachen, obwohl zwischendurch alle möglichen anderen Zeichen da waren, ist ein Beispiel - ich bedauere das sehr - von parlamentarischer Selbstentmündigung.

(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU)

Zweck eines Weißbuches kann nicht nur die innerkoalitionäre Verständigung sein und sein Adressat ist auch längst nicht nur die sicherheitspolitische Community. Gerade heute muss ein Weißbuch vor allem Antworten auf brennende Fragen geben, die in der Bevölkerung, sehr stark unter den Soldaten und auch in der Politik gestellt werden: Was haben denn die Auslandseinsätze und Krisenengagements bisher überhaupt gebracht? Warum dauern die meisten so endlos? Warum ist der Übergang zu selbsttragender Sicherheit und Friedensprozessen so enorm schwierig? Gegenüber welchen Risiken und Bedrohungen können Streitkräfte überhaupt etwas ausrichten? Wofür werden sie angesichts der jetzigen und künftigen Risiken und Bedrohungen vor allem gebraucht und wofür eigentlich gar nicht? Da gibt es den geflügelten Begriff - das ist inzwischen ein Baukastensatz -, Streitkräfte heute zur Krisenverhütung und Konfliktbewältigung, einschließlich Bekämpfung des Terrorismus, einzusetzen. - Das ist auf der ganz allgemeinen Ebene so richtig wie aussagelos.

Wie wird schließlich der Anspruch auf umfassende und Gewalt vorbeugende Sicherheitspolitik überhaupt in die Tat umgesetzt? Wie ist das Verhältnis zwischen zivilen und militärischen Mitteln der Sicherheitspolitik? Wie wird der offenkundige Rückstand der zivilen Fähigkeiten aufgeholt? Wie kann - daran sollten wir bei der bevorstehenden Debatte vor allem denken - dem wachsenden sicherheitspolitischen Desinteresse in der Bevölkerung entgegengewirkt werden? Ich befürchte, dass das demnächst vorliegende Weißbuch auf diese Fragen nur unzureichende Antworten gibt. Umso mehr stehen wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier in der Pflicht, diese Fragen bei der bevorstehenden Debatte über das Weißbuch zu stellen und verständlich zu beantworten.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)

(Seit Monaten hatte ich gegenüber Minister Jung darauf gedrungen, das Parlament im Vorfeld an der Erarbeitung des Weißbuches zu beteiligen. Mein Vorschlag im Juni im Bundestag, das Kabinett solle das Weißbuch nur in 1. Lesung beschließen und dann öffentlich diskutieren lassen, war auf breite Zustimmung gestoßen. Das viele Drängen im Bundestag, im Ausschuss und bilateral hat nicht geholfen. Unter hoher Geheimhaltung wurde der zweite Entwurf zwischen den Ressorts abgestimmt. Am 25. Oktober soll das Weißbuch im Kabinett beschlossen und einen Tag später im Plenum debattiert werden. Wieder mal eine vertane Chance! 

Als zentrale Anforderungen an das Weißbuch nenne ich: Auswertung der bisherigen Auslandseinsätze; gegen welche Risiken und Bedrohungen können Streitkräfte überhaupt etwas ausrichten? Wie wird der Anspruch umfassender und gewaltverhütender Sicherheitspolitik in die Tat umgesetzt? Wie kann dem wachsenden sicherheitspolitischen Desinteresse entgegengewirkt werden? Aus „Persönlichen Kurzmeldungen zur Friedens- und Sicherheitspolitik Okt./Nov. 2006, Nr. 24)  

 



[1] Bisher veröffentlichte das Verteidigungsministerium zehn Weißbücher, ab 1969 zunächst alle ein/zwei Jahre, ab 1985 in größeren Abständen (1985, 1994, 2006).

[2] Volker Perthes betonte in seinem Eingangsvortrag, dass die Bevölkerung gegenüber internationaler Verantwortungsübernahme Deutschlands viel weniger abwehrend sei, wenn man in Umfragen nach konkreten Problemen und Aufgaben frage. Vgl. auch meine Anmerkungen zur „Körber-Umfrage“ zu den außenpolitischen Einstellungen der Deutschen http://www.review2014.de/de/blog/article/einmischen-oder-zurueckhalten-es-kommt-ganz-drauf-an.html  


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

Tagebuch