"Als Sicherheitspolitik die Menschen aufwühlte, bewegte und spaltete" - Kommentar im KOMPASS-Schwerpunkt "Nachrüstungs"-Beschluss des Bundestages 1983 - und unser Kommentar 2 Wochen danach
Von: Nachtwei amSa, 26 Oktober 2013 15:47:52 +02:00Der KOMPASS, Zeitschrift der katholischen Militärseelsorge, widmet seinen November-Schwerpunkt dem Streit um die "Nachrüstung" vor 30 Jahren: Artikel von Josef König, Prof. T. Hoppe, Andreas Zumach, W. Nachtwei. Hier zusätzlich Link zum "Veteranentreffen" am 19. Oktober 2013 im Bonner Hofgarten, Anmerkungen zum spärlichen Erinnern an die Friedensbewegung vor 30 Jahren - und unser Kommentar zwei Wochen nach dem Bundestagsbeschluss.
Vor 30 Jahren, am 22. November 1983 stimmte der Deutsche Bundestag mit 286 Stimmen für die sog. „Nachrüstung", mit 226 Stimmen dagegen. Der „KOMPASS" Monatszeitschrift des katholischen Militärbischofs für die Bundeswehr, widmet dem Thema seinen November-Schwerpunkt (www.katholische-militaerseelsorge.de/index.php?id=504 )
-        Editorial von Chefredakteur Josef König
-        Übersicht über die Nachrüstungsdebatte
-Â Â Â Â Â Â Â Â Prof. Thomas Hoppe: 1983 - ein Schicksalsjahr im Kalter Krieg
-Â Â Â Â Â Â Â Â Interview mit Andreas Zumach,
-        Friedenswort der katholischen Bischöfe vom 18.4.1983: Gerechtigkeit schafft Frieden
-        Kommentar eines „Veteranen": Als Sicherheitspolitik die Menschen aufwühlte, bewegte und spaltete, von Winfried Nachtwei
Hier mein Kommentar in einer längeren Fassung und Nachbemerkungen zu den gegenwärtigen „Erinnerungsschwierigkeiten". Anschließend von Dezember 1983 „Die Raketen kommen - Wie weiter mit der Friedensbewegung?" von Edda, Itti und Winni (Mitglieder der GAL Friedens-AG in Münster)
Kommentar eines „Veteranen":
Als Sicherheitspolitik die Menschen aufwühlte, bewegte und spaltete
Winfried Nachtwei (Oktober 2013)
Im Bundestagswahlkampf 2013 spielten sicherheits- und friedenspolitische Themen praktisch keine Rolle. Die Mehrheit der Menschen in Deutschland scheinen solche Themen heute bis auf Ausnahmesituationen kaum noch zu bewegen.
Massen in Bewegung
Das war vor 30 Jahren völlig anders. Am 22. Oktober 1983 gingen bundesweit 1,3 Millionen Menschen gegen die Stationierung neuer Atomraketen auf die Straße, allein bei der 100 km langen Menschenkette zwischen Stuttgart und Neu-Ulm 400.000 Menschen. Einige Tage vorher hatten in meiner Heimatstadt Münster 600 Demonstranten das I. Korps der Bundeswehr gewaltfrei blockiert. Ich war einer der „Rädelsführer".
16 Jahre zuvor war ich Leutnant bei einem Bundeswehrverband, der mit der Atomrakete Pershing-I-A ausgestattet war. Mit der Formel „wenn`s losgeht, ist sowieso alles aus" hatten wir, hatte ich den Grundwiderspruch der atomaren Abschreckung „abgehakt" und verdrängt. Dieses „Leben mit der Bombe" zerplatzte, als mit dem NATO-Doppelbeschluss eine neue Runde im atomaren Wettrüsten drohte, jetzt im eigenen Land. Immer mehr Menschen konnten die offizielle Abrüstungsintention des Doppelbeschlusses nicht glauben. Sie befürchteten im Gegenteil, dass mit der besonderen Zielgenauigkeit und kurzen Vorwarnzeit der  neuen US-Mittelstreckenraketen die Option eines auf Europa begrenzbaren, vermeintlich gewinnbaren und deshalb führbaren Atomkriegs geschaffen werde. Die Angst wuchs, dass dies bei einer internationalen Krise zu einem Atomkrieg eskalieren könnte. Entsprechende Äußerungen aus der US-Administration schürten solche Ängste.
Bewusst wurden die gigantischen Kosten und der Widersinn eines atomaren Wettrüstens, wo Ost und West sich zig-mal vernichten konnten. (60 to Sprengstoff pro Einwohner in den Ländern der NATO und des Warschauer Pakts!) Enthüllt und bewusst wurde, wie vollgestopft die Bundesrepublik mit Atomwaffen war (die Rede war von 6.000 Atomsprengköpfen in der Bundesrepublik), wie sehr die Bundeswehr darauf vorbereitet war, bei einem Angriff des Warschauer Pakts Atomwaffen in Deutschland einzusetzen. „Was passiert, wenn die Abschreckung versagt?" Die geplante „atomare Heimatverteidigung" führte den Verteidigungsgedanken - das Verteidigungswerte erhalten - ad absurdum.
Gespaltene Gesellschaft
Die westdeutsche Gesellschaft und Politik waren über den Nachrüstungsstreit zutiefst gespalten. Bei zahllosen Veranstaltungen prallten die Positionen aufeinander und schlugen die Wellen hoch. Argumente standen neben Schwarz-Weiß-Denken und Feindbildern, Dialoge kamen zwischen Gegnern und Befürwortern der Nachrüstung oft gar nicht zustande. Abertausende Gruppen setzten sich so sehr mit sicherheitspolitischen Fragen auseinander wie nie zuvor. Außen- und Sicherheitspolitik, bisher immer Domäne der Exekutive, erfuhr einen Transparenz- und Demokratisierungsschub. Gewaltfreiheit und Eskalationsvermeidung wurde nicht nur beschworen, sondern im Vorfeld von Blockaden auch breit trainiert. Die damalige Friedensbewegung war ein großes Gemeinschaftserlebnis mit zahllosen Erfolgserfahrungen („man kann was tun und erreichen"), ein zivilgesellschaftlicher Aufbruch von enormer Breite und Intensität, ein Schub für die Demokratieentwicklung in Westdeutschland und die Bürgerrechtsbewegung in der DDR.
Vielfalt und Widersprüche
Die Friedensbewegung war über ihren Minimalkonsens hinaus äußerst heterogen. Im Kern war sie eine Anti-Raketenbewegung und atompazifistisch (das nur auf die US-Raketen fokussierte DKP-Spektrum mit Umfeld nicht einmal das), nur zum Teil auf umfassendere Friedenspolitik hin orientiert und nur zum geringen Teil eine Bewegung für strikte Gewaltfreiheit. Sie war überwiegend eine reaktive Antirüstungs- und Protestbewegung und kaum eine für konstruktive Alternativen der Friedens- und Sicherheitspolitik.
Streitthemen und bei Teilen tabuisiert waren der Krieg in Afghanistan, das Kriegsrecht in Polen, die Friedensbewegung in der DDR, die Atomrüstung der Sowjetunion. Das beeinträchtigte die Glaubwürdigkeit der Friedensbewegung. (Eine selbstkritische Aufarbeitung ihrer Leistungen und Erfolge, aber auch ihrer Grenzen und Schattenseiten brachte die Friedensbewegung später nicht zustande. Keine Rolle spielten spätere
Enthüllungen z.B. über die geplanten Internierungslager des MfS für Regimekritiker und in der unabhängigen Friedensbewegung der DDR Aktive, für 86.000 Personen in 1988!)
Wo die Friedensbewegung nicht bei den US-Raketen stehen blieb, sondern das System der atomaren Abschreckung und Aufrüstung insgesamt in Frage stellte, durchbrach sie die herrschende sicherheitspolitische und Blocklogik.
Tiefenwirkungen
Wie Recht die Friedensbewegung mit Ihrer Warnung vor einem Atomkrieg „aus Versehen" hatte, wurde einige Jahre später bekannt: Sowohl bei einem 17-minütigen Fehlalarm am 26. September 1983 im sowjetischen Frühwarnsystem wie bei der NATO-Übung „Able Archer" im November 1983 schrammte die Welt knapp an einer atomaren Katastrophe vorbei!
Die Friedensbewegung verhinderte nicht die Raketenstationierung. Erheblich beeinflusst wurden aber politische Grundstimmungen in Ost und West über die Jahre: Das atomare Wettrüsten verlor an Legitimation; die gesellschaftliche Entspannung von unten zwischen Ost und West erleichterte die Öffnungspolitik eines Michail Gorbatschow und beförderte Abrüstungsbereitschaft.
Manchen gilt die damalige Abschreckungspolitik angesichts heutiger Unübersichtlichkeiten und Einsatzrealitäten als plausibler und ethisch tragfähiger. Dem widerspreche ich: Wo heute Streitkräfte im Rahmen des UN-Systems tatsächlich für internationale Friedenssicherung und Kriegsverhütung eingesetzt werden, ist das sicherheitspolitisch um Welten sinnvoller und friedensethisch tragfähiger.
Trotzdem bleibt eine gute Erinnerung an eine Zeit, in der so lebhaft, kämpferisch und mit viel Sachkompetenzen um eine verantwortbare Sicherheits- und Friedenspolitik gestritten wurde wie nie mehr seitdem.
Nachbemerkung
Alle Tage machen sich Vergangenheiten in der Gegenwart bemerkbar, wird an historische Ereignisse, Jubiläen und Jahrestage erinnert. In der bundesrepublikanischen Gesellschaft ist eine breite und vielfältige, demokratische und kritische Erinnerungskultur gewachsen, wie es sie so in kaum einem anderen Land gibt.
Umso eigenartiger ist, wie spärlich und punktuell 30 Jahre danach das öffentliche und mediale Erinnern an die bis dahin breiteste Massenbewegung in der Geschichte der Bundesrepublik, die Friedensbewegung der 80er Jahre, ist. Was Millionen Menschen allein in Westdeutschland und vielen anderen westlichen Ländern in Bewegung brachte - und in der DDR unter sehr erschwerten Bedingungen viele Tausende -, was für die Beteiligten eine Phase intensivsten politischen Engagements war, was zu den Wurzeln der Grünen gehörte, scheint heute wenig der Erinnerung wert zu sein. (Einzig in Bonn trafen sich, initiiert von Jens Jürgen Korff, am 19. Oktober im Hofgarten 40 Veteranen der Friedensbewegung, vgl. www.friedenstauben1983.blogspot.de , www.berliner-zeitung.de/politik/22--oktober-1983-die-friedens-veteranen,10808018,24738848.html . Das Netzwerk Friedenskooperative hat unter www.friedenskooperative.de/netzwerk/histo000.htm ein Dossier mit vielen wichtigen historischen Reden und Artikeln zusammengestellt.)
Offenbar wurde die Erinnerung an die Hoch-Zeit der Friedensbewegung durch die nachfolgenden friedens- und sicherheitspolitischen Umbrüche, Brüche und Enttäuschungen überlagert, relativiert bis entwertet - sehr zu Unrecht, wie ich meine:
-Â Â Â Â Â Â Â Â Dass die Anti-Raketenbewegung die Stationierung der US-Raketen nicht verhinderte, wurde von vielen der Friedensbewegten als Niederlage erfahren. Die mittelfristigen und indirekten Wirkungen wurden kaum wahrgenommen.
-        Die schlimmsten Warnungen und Ängste bestätigten sich nicht. Jahre später bekamen die Supermächte die Kurve und vereinbarten tatsächlich die Abrüstung der Mittelstreckenraketen. Dass 1983 die Welt so knapp an der atomaren Katastrophe vorbei geschrammt war, nahmen nur wenige zur Kenntnis.
-        Der Mauerfall, die friedlichen Revolutionen im Osten, der Zusammenbruch des Sowjetimperiums brachten zugleich bisherige Weltbilder zum Einsturz. Enthüllungen über das Innere der DDR und des Warschauer Pakts delegitimierten deren Anspruch von „Friedenskraft", der für einen Teil der Friedensbewegung ein Identitätsanker gewesen war. Wo sich das Bild vom „Abschreckungs-Sieg" des Westens verbreitete, sehen manche Friedensbewegten von 1983 ihr damaliges Engagement heute als „Jugendsünde".
-        Mit den Balkankriegen und der rotgrünen Regierungsübernahme stellten sich Fragen, die in der Friedensbewegungen nie geklärt worden waren: Was tun, wenn in der Nachbarschaft Krieg ist, wenn massiv illegale Gewalt, Massenverbrechen gegen ganze Volksgruppen verübt werden? (Viele Friedensbewegte hatten früher Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt unterstützt. Der Krieg der Alliierten gegen Nazi-Deutschland galt den allermeisten selbstverständlich als legitim.) Was tun, wenn man in Regierungsverantwortung ist und hier und jetzt entscheiden muss, in Verantwortung für die Folgen des eigenen Tuns und auch Unterlassens? Über Bosnien, Kosovo und Afghanistan kam es nicht nur zu heftigem Streit, sondern zu Tiefstenttäuschungen, Brüchen und Spaltungen. Manche Friedensgruppen hielten den Streit aus, respektierten unterschiedliche Antworten auf ein tiefes Dilemma, arbeiteten an Alternativen der zivilen Krisenprävention und Friedensförderung. Für den größeren Teil der verbliebenen Friedensbewegten war es der Bruch, „Verrat aus niederen Beweggründen" (Machterhalt), eine politische Traumatisierung. Die große Gemeinschaft von 1983 ist darüber zerbrochen, die Erinnerung daran überlagert.
-        Einzig die Bündnisgrünen haben den Grundwertekonflikt Gewaltfreiheit vs. Menschenrechtsschutz intensiv ausgetragen und seine Klärung vorangebracht, gezwungenermaßen immer wieder in Regierungsverantwortung und zusammengehalten durch die anderen politischen Herausforderungen, regelmäßig in den Programmdebatten (Grundsatz- und Wahlprogramme, Friedens- und sicherheitspolitische Kommission, Schutzverantwortung). Friedenspolitik blieb aber für etliche Grüne ein Politikfeld mit schlechtem Gewissen, im Alltag eher gemieden als aktiv beackert. Der Anspruch einer Friedenspartei scheint mir, trotz vieler und profilierter friedenspolitischer Initiativen aus Fraktion und BAG, über die Jahre in der Breite der Partei erheblich geschrumpft zu sein. (vgl. W. Nachtwei: „Welt im Umbruch, Friedenspartei im Wandel: Grünen + Krieg, Militär + Gewaltfreiheit. Klärungsvorschläge zur grünen Grundsatzdebatte", 2002, www.nachtwei.de/index.php/articles/503 ; W. Nachtwei: „Pazifismus zwischen Ideal und politischer Realität,2006, www.nachtwei.de/index.php/articles/415 )
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DIE RAKETEN KOMMEN
Wie weiter mit der Friedensbewegung?
Von Edda, Itti, Winni (5.12.1983)
Was eine Mehrheit der bundesrepublikanischen Bevölkerung als eine Minderung ihrer Sicherheit ansieht, was Millionen gefürchtet, wogegen Hunderttausende gekämpft haben, ist nun Wirklichkeit:
Die Raketen kommen.
Die Stimmungslage der Friedensbewegung reicht von Enttäuschung, zum Teil Resignation bis zu Zorn und Empörung. „Es hat doch keinen Zweck" und „jetzt erst recht" sind typische Reaktionen.
Zu behaupten, die Friedensbewegung resigniere nun, ist genauso falsch wie der Versuch, Gesundbeterei zu betreiben, die Friedensbewegung mit moralischen Appellen, mit der schnellen Orientierung auf die nächste Aktion zum Durchhalten und zur Verstärkung ihrer Anstrengungen aufzurufen.
Die Friedensbewegung befindet sich jetzt in einer kritischen Situation - das wäre sie übrigens auch, wenn die Stationierung verhindert worden wäre oder wenn es in Genf zu einer „Teillösung" gekommen wäre. Dann hätten sich wahrscheinlich viele in dem Gefühl „es ist geschafft" zur Ruhe gesetzt.
Nüchterne Bestandsaufnahme und intensives Nachdenken über die weiteren Ziele und Aufgaben der Friedensbewegung sind jetzt notwendiger denn je. Schnelle Antworten kommen wohl dem Bedürfnis vieler entgegen und sind bequem, aber absolut schädlich.
Was hat die Friedensbewegung erreicht?
Die Friedensbewegung hat ihr Nah- und Hauptziel, die Stationierung neuer US-Atomraketen zu verhindern nicht erreicht. Angesichts der Bedeutung dieser Waffen für die USA, angesichts der Bedeutung der Stationierung für den Zusammenhalt der NATO, angesichts der bis dahin erreichten Wachstumsgeschwindigkeit und Stärke der Friedensbewegung kamen wir schon vor ca. einem Jahr zu der Position, dass die Stationierung kaum zu verhindern war, dass es aber unsere Hauptaufgabe sein musste, ihre politischen Kosten möglichst hochzutreiben. Im Kampf gegen die Stationierung galt es, die längerfristigen Durchsetzungschancen der Friedensbewegung zu verbessern. (vgl. Maulwurf)
Trotzdem: Wer hatte nicht seine klammheimliche Hoffnung, dass die Stationierung vielleicht doch noch verhindert werden können. Diese Hoffnung war am 22.November zerstört. Aber ernüchternd darüber hinaus war, wie sehr, sehr weit die Friedensbewegung noch davon entfernt war, die Stationierung politisch undurchführbar zu machen!
Was hatte es vorher für wilde Reden gegeben, von Generalstreik und die „Bundesrepublik unregierbar machen", von „Bonn dichtmachen", von massenhaftem Geld abheben, um darüber die Banken u treffen...All das entpuppt sich jetzt als Phantasterei, als naive Überschätzung der eigenen Möglichkeiten.
Völlig ungerührt und kaltschnäuzig vollstreckten die NATO-Herrschaften ihren Aufrüstungsplan.
Was hat die Friedensbewegung selbst dazu beigetragen, dass Kohl immer noch nicht das Grinsen verging?
Pauschal: Die Friedensbewegung war trotz aller Erfolge immer noch zu wenig überzeugend und deshalb auch noch zu wenig druckvoll.
Sicher, die Friedensbewegung kann beste Argumente für sich ins Feld führen; in Schriften von Guha, Mechtersheimer, Alt und vielen anderen sind sie zusammengefasst.
Doch im Alltag der Friedensbewegung sah es oft anders aus:
-         mit platter, fehlerhafter oder naiver Argumentation, mit aggressivem und arrogantem Verhalten wurde so mancher politische Gegner erfolgreich in seiner Position bestärkt;
-          Verharmlosung oder gar Rechtfertigung „östlicher Raketen und des dortigen Militarismus", Schweigen zur massiven Unterdrückung unabhängiger Friedensinitiativen in der DDR und anderswo machten etliche Äußerungen aus den Reihen der Friedensbewegung völlig unglaubwürdig. Paradoxerweise taten sich hierbei gerade solche besonders hervor, die sonst am meisten von Verbreiterung der Friedensbewegung reden.
-         Mangelnde oder unrealistische Antworten auf die Frage nach sicherheitspolitischen Alternativen ließen viele dann doch lieber am scheinbar seit 30 Jahren Bewährten festhalten. Die Wirksamkeit der Friedensbewegung wurde geschmälert durch wenig überzeugenden, da inhaltlich flachen Aktionismus auf der einen, durch politische Selbstgenügsamkeit, durch Diskutieren um des Diskutierens willen auf der anderen Seite.
Viel Motivation und Energie wurde verbraucht in den internen Auseinandersetzungen, im Binnenklima des organisierten Teils der Friedensbewegung:
-         Mit dem für gemeinsame Aktionen notwendigen Minimalkonsens wurde viel Schindluder betrieben. Vielfach wurde er missbraucht, um weiterführende inhaltliche und Aktionsvorschläge abzuwürgen, um klare Worte zur SS-20, um Aktionen wie Blockaden zu verhindern. Wie schnell fanden sich Leute unseres Spektrums in der Rolle von Störenfrieden, gar Spaltern der Friedensbewegung. (Allerdings unterscheidet sich die Münsteraner Situation positiv von der in vielen anderen Orten)
-         Der Verabsolutierung der der Breitenarbeit wurde oft genauso absolut die Forderung nach Intensivierung des Widerstandes entgegengestellt. Folge: Bündnis-Hick-Hack, Lagerdenken - die feindlichen Blöcke gab es auch mitten in der Friedensbewegung.
Mit dieser (Selbst-) Kritik meinen wir alle Strömungen der Friedensbewegung, auch uns selbst.
Nach so viel Kritischem: Hätte die Friedensbewegung durchkommen können, wenn z.B. auch die GRÜNEN die Sammlung von Unterschriften für den Krefelder Appell zu Ihrer Hauptaufgabe gemacht hätten? Oder wenn die Friedensbewegung radikaler vorgegangen wäre, wenn sie einen echt heißen Herbst veranstaltet hätte?
Weder noch!
Unter den gegebenen Bedingungen haben wir wahrscheinlich das Bestmögliche erreicht:
-         Eine deutliche Bevölkerungsmehrheit hat sich - wenn auch erst nach dem Repräsentativverfahren und anonym - gegen die Stationierung geäußert; damit ist die demokratische Legitimation der Parlamentsmehrheit in dieser Frage in Zweifel gezogen;
-         Die allgemeine Zustimmung zur Politik atomarer Abschreckung gerät nun auch in relevanten Sektoren der Gesellschaft, so in Kirchen und Gewerkschaften, ins Wanken; der sicherheitspolitische Konsens (als Voraussetzung von Verteidigungsbereitschaft als Voraussetzung von glaubwürdiger Abschreckung) bröckelt;
-         Noch vor zwei Jahren rekrutierte sich die Friedensbewegung weitgehend aus Jüngeren und der linken und alternativen Szene. Heute geht sie sozial und altersmäßig durch die ganze Gesellschaft, Friedensinitiativen aus „staatstragenden" Berufen wie Juristen, Ärzten, Naturwissenschaftlern usw. zeigen das deutlich;
-         Die Friedensbewegung hat bisher die schwierige Gratwanderung zwischen Verbreitung und Radikalisierung geschafft, sie hat sich im Großen und Ganzen weder integrieren und von einer Partei funktionalisieren lassen, noch ist sie ins Sektiererische abgeglitten; damit hat sie über ihre Anhänger hinaus moralische Autorität gewonnen;
-         Mit neuen, massenhaften Menschenketten, Umarmungen, Menschenkreuzen hat die Friedensbewegung eine eigene Körpersprache entwickelt; mit vielfältigen Aktionen des zivilen Ungehorsams sind erste Schritte vom Protest zum Widerstand getan worden;
-         Mit und in der Friedensbewegung haben zahllose Menschen wichtige Lernprozesse durchgemacht: viele die zum ersten Mal aktiv wurden, an einer Demonstration teilnahmen, sich an einen Info-Stand stellten; Zehntausende, die bewusst und offen staatlichen Regeln und Anordnungen gegenüber ungehorsam waren, in Betrieben und Schulen, auf Strassen und Plätzen. Wann hat es in der deutschen Geschichte und außerhalb der Arbeiterbewegung schon mal soviel zivilen Ungehorsam gegeben?
-         Mit betrieblichen und Stadtteilinitiativen, mit Bezugsgruppen haben sich schließlich politische Organisationsformen entwickelt, mit denen Politik persönlicher und stabiler werden kann.
Grenzen
In der Vergangenheit haben Friedensbewegungen kaum mal Rüstung stoppen, nie Kriege verhindern, höchstens Kriege abkürzen können. Diese schlimme historische Erfahrung macht krass deutlich, dass Hoffnung auf schnelle Erfolge, auf den Durchbruch nach zwei drei Jahren illusionär sind. Umso erstaunlicher ist, was die Friedensbewegung in dieser verhältnismäßig kurzen Zeit schon alles in Gang gesetzt hat. Das sollten wir uns immer wieder deutlich machen, auch wenn zu Selbstzufriedenheit keinerlei Anlass besteht: Ein kriegsbehindernder Faktor ist die Friedensbewegung noch längst nicht!
1914 machte eine ganze gegen den Krieg protestierende Arbeiterbewegung mit der SPD an der Spitze in der „Stunde der Not" „Kehrt um" und zog in den Krieg; in Großbritannien schlossen sich breite Anti-Atomwaffen-Bewegung und Falkland-Begeisterung keineswegs aus, in den USA nicht Freeze-Campaign und Massenbeifall für die Grenada-Invasion. Gegenüber den laufenden Kriegen in der Dritten Welt bleibt die Friedensbewegung weitestgehend still und passiv; nicht zu Unrecht wird ihr vielfach Eurozentrismus und europäische Nabelschau vorgeworfen.
Unsere ca.70% gegen die Stationierung sind noch eine sehr dünne Meinungsmehrheit, zu geringsten Teilen aktiv. Bei entsprechenden Anlässen können sich diese 70% schnell verflüchtigen.
Zusammengefasst: Die Friedensbewegung hat weder Anlass, in schönfärberischen Zweckoptimismus zu machen, noch in Resignation zu verfallen. Es liegt an ihr, ob der momentane Erfolg der NATO-Herren zu ihrem Pyrrhus-Sieg (einer längerfristigen Niederlage) wird. Anlass also zu nüchternem Optimismus.
Wie soll es nun weitergehen mit der Friedensbewegung?
Auch wenn die Friedensbewegung alle vorherigen Massenbewegungen in den Schatten stellt, auch wenn die Anlässe wahrlich bleiben und noch mehr werden, so stehen wir nun an einem ähnlichen Punkt wie z.B. die Anti-Notstandsbewegung, die Anti-AKW-Bewegung u.ä.: Die Entscheidung ist gefallen, nun werden Fakten geschaffen. Als Brokdorf gebaut wurde, verlor sich die Anti-AKW-Bewegung!
Damit der Friedensbewegung nicht ähnliches passiert - bis am Ende nur noch Unentwegte mit ihren moralischen Appellen übrig sind, ist vordringlichste Aufgabe, nun zu einer Stabilisierung der Friedensbewegung zu kommen, ihrer aktiven Kerne und ihrer Sympathisanten.
Diese Stabilisierung wird scheitern, wenn wir uns einfach den nächsten Aktionsterminen, dem „Kirchenjahr" der Friedensbewegung, zuwenden, als wäre nichts geschehen.
Die Stabilisierung - und davon ausgehend die Vorbereitung und Intensivierung - ist eine Frage von Aktionen und Inhalten.
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1. Verstärkung der inhaltlichen Arbeit - inhaltliche Aufgaben der Friedensbewegung.
Viele sind aus emotionaler Ablehnung weiterer Rüstung zur Friedensbewegung gestossen. So notwendig eine emotionale Basis für die Friedensarbeit ist, so unzureichend ist sie, wenn sie nicht mit inhaltlicher Arbeit fundiert wird. Ohne inhaltliche Arbeit bleibt politisches Engagement schwankend und ohne Überzeugungskraft nach außen.
1.1. Kritik des Abschreckungssystems und der herrschenden Unsicherheitspolitik überhaupt: der Rolle und Absichten des US-Imperialismus und der NATO auf der einen, der UdSSR und ihres Blocks auf der anderen Seite; das Versagen traditioneller Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik; die Bedeutung der Konflikte in der Dritten Welt für den Frieden in Europa; die ökologischen und sozialen Folgen des Wettrüstens bei uns und in der Dritten Welt. Die Zusammenhänge zwischen Welthunger, globaler Umweltvernichtung, Sozialabbau, Arbeitslosigkeit und Wettrüsten müssen überzeugend nachgewiesen werden. Auf Dauer darf es nicht mehr passieren, dass Arbeitsplatzmotive gegen friedenspolitische ausgespielt werden können.
1.2. Minimalkonsens: Die Friedensbewegung braucht weiter einen Minimalkonsens, wenn sie ihre Aktionseinheit nicht verspielen, ihren politischen Druck nicht verzetteln will. Die Friedensbewegung braucht einen Kristallisations- und Konzentrationspunkt. Angesichts der Tatsache, dass die neuen Raketen nur ein wichtiger Aspekt friedensgefährdender NATO- und US-Politik unter mehreren sind, angesichts der Tatsache, dass Aufrüstung und atomare Abschreckung von wachsenden Teilen der Bevölkerung abgelehnt werden, wäre die Fortführung des bisherigen Minimalkonsens (Stopp der Stationierung und sie wieder rückgängig machen) schlichtweg reaktionär. Dieser Minimalkonsens wird weder der aktuellen Kriegsgefahr, noch der Entwicklung des Massenbewusstseins gerecht.
Ein erweiterter Minimalkonsens steht auf der Tagesordnung, der sich gegen alle Waffen - atomar, chemisch oder „konventionell" - und Strategieentwicklungen richtet, mit denen Kriege wieder führbarer und wahrscheinlicher werden:
- weiter gegen die neuen Atomraketen, deren Stationierung in Süddeutschland praktisch sehr erschwert werden kann;
- aber genauso gegenkonventionelle Aufrüstung im Rahmen des Rogers-Planes, gegen die Durchsetzung einer aggressiven Offensivstrategie im Rahmen der NATO (Airland-Battle und Airland-Battle 2000);
- gegen die vermehrte Ankoppelung der Bundesrepublik an die imperialistische Interventionspolitik der USA im Rahmen der horizontalen Eskalation. Also: Waffen- und Stategie-Freeze, Freeze total!
Den Stopp quantitativer und qualitativer Rüstung haben wir von jeder Seite zu fordern. Nach den Erfahrungen mit jahrzehntelang erfolglosen „beidseitigen" Abrüstungsbemühungen muss jede Seite aber bei sich selbst anfangen.
1.3. Sicherheitspolitische Alternativen: Die Friedensbewegung wird keine Mehrheiten gegen das Abschreckungssystem gewinnen können, wenn sie sich nicht stärker um die Entwicklung sicherheitspolitischer Alternativen bemüht. Auf militärischer Ebene wären Einfrieren der Rüstung, ABC-Waffen freie und zugleich militärisch verdünnte Zonen, Abbau offensivfähiger Waffen zugunsten einer strikten Defensivstruktur des Militärs wichtige Zwischenschritte eines langfristigen Abrüstungsprogramms. Hierbei könnten der Friedensbewegung die Finanz- und Personalkrise, auf die sich die Bundeswehr zwangsläufig zubewegt zugute kommen. Aber eine alternative Sicherheits- und Friedenspolitik kann sich nicht mit dem Abbau von Waffen begnügen, es muss ihr um Abbau von Konfliktpotential auf allen Ebenen gehen:
- Überwindung der Blockkonfrontation und der Blöcke; die Bundes-GRÜNEN fordern raus aus der NATO: so legitim diese Forderung angesichts der NATO-Politik ist, was wären aber die absehbaren Konsequenzen?
- Überwindung des Abschreckungs- und Feindbilddenkens und -verhaltens auf allen Ebenen und gegenüber jedem.
Darüber hinaus muss es einer alternativen Sicherheitspolitik um Spannungs- und Konfliktabbau auf allen Ebenen gehen:
Überwindung der Blockgrenzen, des Abschreckungs- und Feindbilddenkens und -verhalten auf allen Ebenen und gegenüber jedem.
Verwirklichung sozialer und politischer Menschenrechte, Bekämpfung von Ausbeutung, Unterdrückung, von struktureller Gewalt in der Dritten Welt, in Ost und West im Sinne eines Verständnisses von positivem Frieden, der mehr ist als Abwesenheit von Krieg; eine ökologisch orientierte Politik, die rücksichtsvoll mit den begrenzten Lebensbedingungen der Erde umgeht, die die letzte Schlacht um Ressourcen vermeidet.
Entwickelt sich die Friedensbewegung nicht in diese Richtung weiter, bleibt sie weitgehend eine Ein-Punkt-Bewegung, dann wird sie für die Hydra Wettrüsten und Kriegsvorbereitung kein ernsthaftes Hindernis werden.
2. Vorgehensweise und Aktionsformen
2.1. Wesentliche Stärke der Friedensbewegung ist ihre Basisorientierung und Vielfalt. Die relative Unabhängigkeit gegenüber Parteien und Großorganisationen, gegenüber den Integrationsbemühungen der SPD der stillen Einflussnahme durch die DKP, manchen Sprecherambitionen der Grünen muss erhalten bzw. wiederhergestellt werden. Bei aller Buntheit der Friedensbewegung ist Einheit in bestimmten Aktionen weiterhin unverzichtbar.
2.2. Fundament der Friedensarbeit ist auch in Zukunft ihre weitere „Veralltäglichung": Indem atomare Bedrohung und Kriegsvorbereitung „vor der Haustür" aufs Korn genommen werden, indem Friedensinitiativen in Stadtteilen, Betrieben und Schulen in dichtem Kontakt mit den Menschen arbeiten. Ohne geduldige Überzeugungsarbeit in die Breite wird die beste inhaltliche Weiterentwicklung folgenlos bleiben. Ohne deutliche Unterstützung durch die Arbeiterbewegung, ohne Einbrüche ins konservative Lager und in die Bundeswehr wird es den Durchmarsch der Friedensbewegung niemals geben können! Je mehr die Friedensbewegung inhaltlich weiterkommt, desto mehr kann sie auch Berührungsängste gegenüber Soldaten und CDU`lern überwinden.
2.3. Um den atomaren Holocaust aufzuhalten, hat die Friedensbewegung ein übergesetzliches Recht auf Widerstand. In diesem Jahr wurden Aktionen des zivilen Ungehorsams erstmals massenhaft praktiziert, nicht mehr nur von kleinen Gruppen wie in früheren Jahren. In Zukunft kommt es nicht in erster Linie darauf an, den zivilen Ungehorsam zu radikalisieren, sondern vor allem ihn zu verbreitern. Nur so können Blockaden, Boykotts usw. auf Dauer deutlicheren Behinderungscharakter bekommen, für die Gegenseite zu einem echten Problem werden. Die Blockaden von Nordenham/Bremerhaven und Bonn am 21.11. weisen in die richtige Richtung.
2.4. Abbau von Blockkonfrontation und Feindbildern ist weder über Lippenbekenntnisse, noch über eine Politik von oben zu erreichen. Entscheidend ist, was sich von unten tut. Wir können einen Beitrag dazu leisten, indem wir Kontakte in die UdSSR, die DDR, zu staatstreuen wie unabhängigen Gruppen knüpfen.
2.5. Demonstrationen, auch große, Blockaden und viele andere Protest- und Widerstandsformen werden weiterhin unverzichtbar sein. Sie sollten allerdings „bewegungsökonomischer" geplant werden, möglichst wenig in Konkurrenz zueinander, so dass an einzelnen Aktionen möglichst viele teilnehmen können.
2.6. Die Friedensbewegung wie die Grünen müssen sich Gedanken machen, wie 1987 auf Ebene des Bundestages einer alternativen Sicherheitspolitik zum Durchbruch verholfen werden kann, wie bis dahin eine neuen sicherheitspolitische Mehrheit jenseits des Abschreckungssystems geschaffen werden kann.
2.7. Die Friedensbewegung muss schließlich gewinnend und anziehend wirken durch ihre Glaubwürdigkeit und moralische Integrität. Ziele und Methoden gehören untrennbar zusammen.
Gewaltfreiheit ist notwendiger denn je, gerade in solchen Zeiten, wo mancher aus Ohnmacht heraus meint, jetzt hilft nur noch Gewalt.
Wenn wir überhaupt eine Chance haben gegen das weltweite Wettrüsten, dann einzig und allein auf dem Weg des gewaltfreien Widerstandes. Alles andere würde nur diejenigen stärken, deren Politik wir bekämpfen.
„Das weiche Wasser bricht den Stein"!
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