13. AFG-Reisebericht: Aufbau im Schatten von Guerillakrieg und Aufstandsbekämpfung, Kunduz
Von: Webmaster amSo, 23 Januar 2011 13:16:59 +02:00Inhalt:
Kunduz
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KUNDUZ
Unterwegs: Am Samstag, 28. August Abflug nach Kunduz. Vorher treffe ich im kleinen Terminal noch eine vierköpfige GTZ-Delegation auf dem Rückweg nach Kabul. Bei letzten AFG-Tagungen sind wir uns z.T. in Bonn und Bad Boll begegnet.
Der Transall-Pilot lädt mich ins Cockpit ein. 10.50 Uhr Start nach Westen. Unten rechts die Masse der US-Hubschrauber. Scharfe Linkskurve. Links die Riesenbaufläche der US-Erweiterung des Camp Marmal. Leichter Dunst. Um 11.00 Uhr rechts und voraus hohe Bergkämme. In ruhigem Flug schiebt sich die Transall über das Gebirge. 11.07 Uhr sanfte Rechtskurve. Die Besatzung blickt vermehrt auf Kartenausschnitte mit Markierungen von letzten Abschussstellen. 11.25 Uhr leichte Linkskurve. Alle Besatzungsmitglieder beobachten intensiv den Boden. 11.27 Uhr geht die Transall in den steilen Sinkflug. Unter uns die Wüstensandfläche des Plateaus, rechts der Abbruchkante die grüne Vielfalt einer Kulturlandschaft, durch die sich der Kunduz-Fluß schlängelt. Auf Abstand ein friedliches Bild. 11.33 Uhr Landung.
Gespräch mit den Ressortvertretern im PRT
Auch wenn im PRT mit 1.700 Soldaten so viele stationiert sind wie nie zuvor. Ein solches Einstiegsgespräch habe ich in einem PRT noch nicht erlebt. Nicht beim Kommandeur mit Anhang, sondern in einer gleichberechtigt erscheinenden zivil-polizeilich-militärischen Runde. Die Strukturverschiebung des PRT wird hier von Anfang an deutlich. (Von den drei Einsatzkompanien ist seit Aufstellung des Ausbildungs- und Schutzbataillons noch eine geblieben.)
Das PRT Kunduz ist zusammen mit seiner Außenstelle in Taloqan zuständig für einen Raum von 200 x 220 km mit 1,76 Mio. Einwohnern.
Ein Schwerpunkt des AA ist die Umfeldstabilisierung in kritischen Gebieten Nord-AFG mit 35 Mio. Euro: Stabilisierungsfonds KfW/Aga Khan Stiftung 10 Mio., Intensivierung Umfeldstabilisierungprojekte der PRT/PAT über zivile Akteure und CIMIC 10 Mio., Rehabilitierung Krankenhäuser in Kunduz und Takhar, mobile Basisgesundheitsteams 15 Mio. Hier gehe es um schnell fühlbare Wirkungen. Das möge auf Kosten von Nachhaltigkeit gehen, werde aber in Kauf genommen. Diese Einschränkung gilt nicht für das umfangreiche Programm der Rehabilitierung bzw. Erweiterung von vier Provinzkrankenhäusern (Feyza, Mazar Taloqan, Pol-e Khomri), einem Regionalkrankenhaus, vier Distriktkrankenhäusern im Norden.
Der Stabilisierungsfonds KfW-AKF: Die AKF bedient sich lokal vernetzter NGO`s, Schwerpunkt ist Capacity Building durch Einbindung der lokalen Entwicklungsräte (CDC) und der Distriktverwaltungen. Beabsichtigt ist eine schnelle Steuerung der Projektvorschläge über die verschiedenen Gremien. Projektidentifizierung und teilweise Umsetzung geschieht über CIMIC (Schulen, Brunnen, Kliniken). Für größere Projekte und außerhalb des CIMIC-Radius ist das GTZ-Bau-Team zuständig.
Weitere Aktionsfelder der PRT sind: Kleinstprojekte mit schneller Umsetzung und hoher Sichtbarkeit (bis 25.000 Euro/Maßnahme); Provincial Development Fund (Projektauswahl durch ein paritätisch deutsch-afghanisch besetztes Gremium).
Auf den Feldern Governance/Rechtsstaat/Zivilgesellschaft fördert das AA zzt. den Bau des Distriktmanagergebäudes Chahar Darreh (zzt. unterbrochen), das ILF-A-Büro in Kunduz (vier Strafverteidiger für Arme), den Bau des Gerichtsgebäudes in Taloqan, Ausbildungsstätte für Öffentlichen Dienst (ACTED, im Juli abgeschlossen), die Landwirtschaftsfakultät in Taloqan und die dortige Ingenieurfakultät.
(Für den Polizeiaufbau stehen dem AA insgesamt 35 Mio. Euro zur Verfügung, für Verwaltungs- und Justizaufbau 10 Mio., für den internationalen Reintegrationsfonds 10 Mio.)
Vorbereitungen laufen für die Umsetzung des District Delivery Program in Chahar Darreh und Kunduz.
Ein Stabsoffizier (CIMIC): „Wir sind nicht die Entwicklungshelfer in Uniform, sondern Brücke zwischen Bevölkerung und Internationaler Gemeinschaft." CIMIC sucht Ansprechpartner auf Distriktebene, Dorfälteste, CDC`s ... Hier müssen die Prioritäten festgelegt werden. Zu viele Jahre lief es top down. Die Bevölkerung interessiert nicht, was in Kunduz, erst recht nicht, was in Kabul passiert.
Manchmal käme man um eine Implementierung durch`s Militär nicht herum. Beispiel der Nordwestdistrikt Qareh-e Sol. Nach der Befriedung durch Milizen laufe die Friedensdividende schleppend an. Es fehle an „schnellem Geld". Was tun, wenn ein Distrikt weder durch die Aga Khan Stiftung, noch durch`s PRT angegangen wird?
Schulen sind sehr wichtig. Aber was ist mit Kunduz 2020? Was mit traditionell ausgebildeten Jugendlichen, sie habe keine Perspektiven. Eine Aufbaustrategie sei nicht in Sicht. Ansatzpunkte seien die Lehrerausbildungszentren, die Ausbildung von 60-100 Kfz-Lehrlingen pro Jahr, Trockenfrüchteverarbeitung. ((ungefähr nach Notizen))
Beim vorherigen Einsatz in 2008 sei ein BMZ-Vertreter kaum im PRT gewesen. Jetzt funktioniere der Comprehensive Approach im PRT einwandfrei, in Deutschland hingegen weniger.
Das PRT habe noch eine falsche Struktur. Es brauche einen Leiter, einen zivilen. (Das sagt ein verantwortlicher Offizier.)
Der Kommandeur fragt mich, wie ich heute meine AFG-Entscheidung von 2001 beurteilen würde.
Die Arbeitsbedingungen der EZ haben sich in Kunduz drastisch verändert. Nach dem Anschlag vom Juli wurden Privatunterkünfte aufgegeben, zogen einige EZ`ler um in`s PRT. Die GTZ in Kunduz sei jetzt schwer gesichert, wie die USAID-Niederlassung eine regelrechte Festung. Das seit Jahren von Internationalen gern besuchte Lokal „Lapislazuli" wurde vor wenigen Tagen von seinem deutschen Wirt geschlossen. Martin Gebauer vom SPIEGEL sei bei den letzten Gästen gewesen.
Die Präsenz der BMZ-Leute im PRT ist jetzt selbstverständlich. Mit der Umstrukturierung des PRT (Reduzierung seiner militärischen Rolle) ergab sich zugleich ein erhöhter Abstimmungsbedarf. Täglich geht es raus zu Projektbesichtigungen, zu Gesprächen etc. In der Provinz Kunduz muss die Masse der Projekte inzwischen über Fernsteuerung laufen. Das erschwert die Qualitätssicherung.
In Kunduz-Stadt soll sich der Basar in den letzten fünf/sechs Jahren (Zeit der ISAF-Präsenz) schätzungsweise verzehnfacht haben hinsichtlich Fläche und Beschäftigte. Neubauten gebe es ohne Ende. Das PRT sei ein enormer Arbeitgeber. 600-800 lokale Bauarbeiter beschäftigt das PRT. Die US-Army macht vieles selbst, beschäftigt viel weniger Locals.
Task Force Kunduz („Ausbildungs- und Schutzbataillon"/ASB)
Dieser neu aufgestellte Verband ist Ergebnis des veränderten militärischen Auftrags: Durch mehr dauerhaft in der Fläche operierende Kräfte sollen Aufständische aus den Distrikten verdrängt und im Partnering mit den ANSF soll deren Ausbildung und eigenständige Operationsfähigkeit gefördert werden. Mit den bisherigen Präsenzpatrouillen vom Feldlager aus konnten ISAF/Bundeswehr nur eine sehr flüchtige Präsenz in der Fläche gewährleisten. Die funktionierte noch in den ersten Jahren. Mit der verstärkt einsickernden Insurgenz war dieser Ansatz heillos überfordert. Das Umkippen etlicher Distrikte in Kunduz konnte nicht verhindert werden.
Eine zweite ASB entsteht in Mazar. In den Sternen steht, woher die dritte für den Westteil kommen soll. Die ASB lösen die bisherigen Infanteriekompanien der PRT und die QRF ab. Sie sind nun alle dem Kommandeur RC North unterstellt. Diese Umgliederung reduziert die militärische Rolle des PRT-Kommandeurs.
Vor Ort ist nur von Task Force die Rede. Der Begriff „Ausbildungs- und Schutzbataillon" sei wohl im Hinblick auf das heimische Publikum gewählt worden.
Auftrag: Bis zum 31.8. Herstellung der vollen Einsatzbereitschaft; Fortsetzung der Operation N.N. ; Offenhalten der Line of Communication (LOC) Kamins; Halten der beiden Höhen 431 und 432, des Polizeihauptquartiers Chahar Darreh mit dem Beobachtungsposten „Juliette 92".
Nachbarn der TF sind ein Bataillon der US 10th Mountain-Division, ANP und ein ANA-Bataillon.
Eigene Kräfte: Die TF ist Teil des 23. Kontingents und eine Mischung von Umgliederung und Neuaufstellung. Ihre 625 Soldaten (Soll 638) verteilen sich auf zwei Kampfkompanien mit je zwei Fallschirmjägerzügen und einem Panzergrenadierzug mit Marder (umgegliedert und verstärkt gegenüber den früheren zwei Infanteriekompanien), einer Panzerpionierkompanie (Neuaufstellung), einer Aufklärungskompanie (kein Aufwuchs) und einer beweglichen Sanitätskompanie (neu).
Operationsführung der letzten Wochen laut Auftrag: Raumaufklärung in Chahar Darreh, insbesondere Freihalten der LOC Kamins. Eine volle Überwachung des Raumes sei nicht möglich. Im Polizeihauptquartier Chahar Darreh Kompanieführung mit einem Infanteriezug (viel Gesprächsaufklärung), dort auch 15-25 Mann ANP und meist ein Zug US-Army. Dauerhaft ist nur Bundeswehr vor Ort, die Soldaten jeweils vier bis sieben Tage. Klassisches Leben im Felde überwiegend mit EPa. (Marco Seliger ist zur selben Zeit draußen in Chahar Darreh.)[1]
Durchgängig besetzt sind auch die beiden Höhen (15-20 Meter über Grund, Fläche von 50x50 Meter) von einer Kampfgruppe (halber Zug). Diese Art Stellung erinnere an den Ersten Weltkrieg. (Die äußerliche Ähnlichkeit kann zugleich nicht den Weltenunterschied verdecken.)
Inzwischen auch gemeinsame Operationen mit ANP und US-Army. Aber mit der Nachhaltigkeit der Operationen sei es noch nicht weit her. Nach einigen Stunden sind die Taliban wieder vor Ort. Die Taliban eroberten drei ANP-Checkpoints. Die US-Kräfte gehen manchmal für 52 Stunden in bestimmte Orte - und verschwinden dann wieder.
Das Gefecht am 4. August ergab sich aus der Situation: Aufständische griffen mit Handfeuerwaffen und RPG an und wichen in eine Ortschaft zurück, um in IED-Fallen zu locken. TF und ANP erlitten keinerlei Ausfälle und Schäden. Aber es sei ein Gefecht mit gezogener Handbremse gewesen. Man hätte mehr gekonnt. Aber die Führung wollte nicht mehr. Meistens reagiere Bundeswehr nur. Das verhindere Überlegenheit. Oder es werde ausgewichen, um keine Verluste zu riskieren.
Jetzt im Ramadan sind die afghanischen Kräfte maximal bis mittags einsetzbar.
Ausrüstung und Ausstattung: Der Materialausstattungsstand der Kompanien liegt bei 80 bzw. 90%. Defizite gibt es bei der persönlichen Schutzausstattung (z.B. Schutzbrillen). Die Fahrzeugausstattung liege an der Grenze des Vertretbaren. Der Marder kommt bei höherem Wasserstand nicht mehr durch den Kunduz-Fluss. Ein ergänzendes Radfahrzeug für Panzergrenadiere wäre angebracht. Betont wird, dass der Dingo 2 (auch Eagle IV) trotz hervorragender Schutzklasse kein Gefechtsfahrzeug, sondern ein Patrouillenfahrzeug sei. Probleme macht weiterhin der Ersatz beschädigter Fahrzeuge. Notwendig sei eine Umlaufreserve.
Benannt werden etliche Defizite bei Führungsmitteln.
Einzelaspekte:
-  Die TF Kunduz hat ihren Schwerpunkt im Distrikt Chahar Darreh westlich Kunduz. Wer kümmert sich um die anderen Distrikte Imam Shahib und Archi im Norden, um Ali Abad, um Khalabad? Das jetzige Patt könne nur mit stärkeren „Nachbarn" (ANSF, US-Kräfte) überwunden werden.
-  Partnering: Im Nächstbereich des Feldlagers Operationen immer zusammen mit der ANP. Die Benachrichtigung erfolgt wegen des Risikos von undichten Stellen allerdings immer recht kurzfristig. Bei ANA steht das Partnering bevor. (Die QRF hat mit Partnering schon seit vier Monaten in Baghlan Erfahrung.)
-  Kräfteansatz und Obergrenze: mitgezählt werden auch alle Uniformträger, die keine Soldaten sind (Einsatzwehrverwaltung); man verfüge über keine Reserven; wegen der vielen Spezialisten sei die Obergrenze schnell erreicht
-   Taliban: ein Hauptmann berichtet von der bei Afghanen verbreiteten Einstellung, wenn ISAF komme, kämen auch die Taliban. Diese seien sehr schnell mit Hilfeleistungen. Wenn ISAF vielleicht einmal pro Monat vorbeikomme, kämen Taliban einmal pro Woche. Sie übernehmen schnell grundlegende Regierungsfunktionen, sorgen für schnelle Konfliktregelungen, drängen sogar Lehrer, zur Schule zu gehen. Wo ISAF nicht hinkäme, kämen auch die zivilen Helfer nicht. In diese Lücke würden die Taliban rein stoßen. Sie würden somit fast „die Guten". Sie beraten die Leute sogar bei Anträgen an die Verwaltung. Damit verbessern die Taliban zugleich ihr „Steueraufkommen". Andererseits gehe die Taliban mit vermehrter Rücksichtslosigkeit vor. Die Leute denken nicht „an die Rente", sondern was sie heute in der Hand haben. Für die Bevölkerung entscheidend, dass sie von jemandem beschützt und regiert werden. Während die Taliban in Chahar Darreh eine Schattenregierung betreiben, gilt die ANPF als korrupt. Polizisten nehmen Wegezölle. Von der ANA ist so was nicht bekannt.
-  Ziele: Es fehle an klaren politischen Zielen. Das stelle die Sinnfrage. Trotz vieler Versprechen habe sich durch den Einsatz nichts geändert. Die Wofür-Frage komme auch über die Angehörigen an die Soldaten ran. Man fahre hier herum. Auch die Führer kämen irgendwann in Erklärungsnot, seien mit ihrem Latein am Ende.
-  Motivation: Das FSchJ Btl 313 aus Seedorf/Niedersachsen habe 2008 von seinem Einsatz in 2010 erfahren. Seit 2009 wurde konsequent darauf vorbereitet. Vor allem die unterste Ebene der Kompanie wurde so realistisch wie möglich ausgebildet. Die Herkunft aus einem Standort schaffe ein geradezu familiäres Verhältnis. Die Erfahrungen der Kampfgemeinschaft schweißen zusätzlich zusammen. Wieviele Troups in Contact (TIC, Feindberührungen) es in der Zeit gegeben habe, habe man schon nicht mehr mitgezählt.
-  Belastung und Anerkennung: Junge Kerle hätten mehrfach im Feuergefecht gestanden, eine enorme Belastung! Sie wollen wenigstens Respekt und Anerkennung. In der Realität erfahren sie aber wenig Anteilnahme. Wenn aber jemand Mist gebaut hat, werde das ausgeschlachtet.
(Über ihre früheren Einsätze haben „die Seedorfer" das Buch „Generation Einsatz" herausgegeben.[2] Im Unterschied zur Mehrheit der sonstigen Erlebnisliteratur, wo einzelne Afghanistanrückkehrer sich ihre Belastungen und ihren Frust von der Seele schreiben, kommt hier die ganze Breite von Einsatzerfahrungen zur Sprache - z.B. die eines sehr wirksamen Hundeführers. In Kunduz sitze ich ihm plötzlich gegenüber. Der gestandene Mann ist jetzt Spieß einer Fallschirmjägerkompanie.)
Gespräch beim Psychosozialen Netzwerk (PSN)
in der „Gottesburg", dem Gebäude der Militärseelsorge. Mit den rundum getürmten Heskos erscheint sie eher als Wagenburg Gottes. Der Raum der Stille soll von 40 auf ca. 80 Plätze erweitert werden. Er werde häufig genutzt. Neben dem Sonntagsgottesdienst findet wöchentlich ein Bibelfrühstück statt. Je ein katholischer und evangelischer Pfarrer und Pfarrhelfer arbeiten hier. Die Bücherei umfasst 400 Bände.
Zum Netzwerk gehören der Militärpsychologe, der Chef des Sanitätszentrums, die Militärpfarrer, die sehr einsatzerfahrenen Spieße von Schutz- und San-Kompanie, Sozialarbeiter. Das Netzwerk trifft sich regelmäßig und sei eine sehr fruchtbare Runde.
-  Verglichen wird mit früheren Afghanistaneinsätzen. Die Belastung der Soldaten habe enorm zugenommen. 2002 war die Sicherheitslage unklar; 2006 in Kabul Erfahrungen mit erdrückender Bürokratie; 2007 fiel kaum ein Schuss, jeder wurde gezählt; seit einem Jahr habe es einen regelrechten Quantensprung gegeben, jetzt immer wieder Feuergefechte.
-  Bei der kämpfenden Truppe sollten auf keinen Fall vier knapp fünf Monate im Einsatz überschritten werden. Kompanien des jetzigen ASB kamen Mitte Juni als Inf-Kompanie rein. Sie gehen raus im Januar 2011. Zusammen mit dem „Einsatz vor dem Einsatz" mit seinen langen Abwesenheiten von der Familie sprach ein Kommandeur nicht zu Unrecht von einer einjährigen Einsatzdauer.
-  Ausfallende Soldaten werden nicht ersetzt, es gebe keine Personalreserve. Personell wie materiell sei der Einsatz völlig auf Rand genäht.
-  Ausstattung: Vor dem Einsatz wurde versprochen „im Einsatz ist alles für dich da!" Das hört aber schon beim flexiblen Gehörschutz (hält nur schockartige Schallwellen ab) auf, der 150 Euro kostet. Scharfschützen geben vierstellige Beträge für ihre zusätzliche Ausstattung aus. Für Kommunikation mit der Heimat müsse man ein Schweinegeld ausgeben. Andere Länder hätten das besser organisiert. Soldaten seien genügsame Mitarbeiter, hätten hohes Pflichtgefühl und Verständnis für Befehl und Gehorsam. Aber ihre Loyalität werde ausgenutzt. Die Kündigungen von Ärzten seien ein Symptom. Das sei traurig angesichts dessen, was Soldaten für den Staat leisten und riskieren. Trotz alledem: Die Soldaten machen zu 98% ihren Job.
-  Der Battlestress des Gefechts klinge erst mit der Zeit ab. Soldaten kommen oft erst fünf, sechs Wochen später zur Ruhe. Wie gehen Soldaten auf Dauer damit um? Nach den verlustreichen Gefechten vom April seien beteiligte Soldaten „um Jahre gealtert". Die eineinhalb Tage Nachbereitungsseminar seien zu wenig. Die Rückgewöhnung an den alltäglichen Dienstbetrieb in Deutschland brauche Zeit. Nach Rückkehr empfinden viele ein Loch, brechen ein. Das sei nicht nur das Problem von 10-20%. Besonders schwer hätten es Mannschaftsdienstgrade, deren erster Einsatz zugleich ihr letzter sei. Es sind junge Veteranen. Für die Bundeswehr sind die Ausgeschiedenen Zivilisten. „Wir müssen die Zeitbombe angehen!"
-  Viele Angehörige empfinden den Einsatz als belastender als die Soldaten selbst. In einem eher desinteressierten bis ablehnenden gesellschaftlichen Umfeld müssen sie allein mit der ständigen Ungewissheit fertig werden. Es gab Fälle, wo Soldaten zu Hause Druck und Blockaden erlebten. Deshalb sei eine vermehrte öffentliche Wertschätzung des Einsatzes der Soldaten so wichtig. (Viele Soldaten nennen die USA als Vorbild eines gesellschaftlichen Rückhalts für die Soldaten, der angeblich auch einjährige Einsatzzeiten aushalten lasse. Ich halte diese Wahrnehmung für verkürzt/fragwürdig.)
ANA-Ausbildung: OMLT beim 209. ANA Corps
Die 1. Brigade des 209. Corps (10-12.000 Soldaten insgesamt) ist für die drei Provinzen im Westen zuständig, die 2. Brigade für die vier Provinzen im Osten (Badakhshan, Takhar, Kunduz, Baghlan) und die 3. für den zentralen Norden (u.a. Balkh). Die 2. Brigade liegt mit Führung, 1. (Infanterie) und 5. (Unterstützung) Kandak (Bataillon) in Kunduz, das 2. Kandak in Feyza, das 3. in Pol-e Khumri. Das 4. Kandak (Kampfunterstützung, Artillerie) soll 2011 aufgestellt werden.
In Kunduz verlegt die ANA aus ihrem bisherigen ärmlichen Zeltlager in ein neu errichtetes Camp auf dem Plateau. Auf einer Fläche von 1.000 x 1.000 Metern sollen hier bis zu 2.000 ANA-Soldaten unterkommen (einschließlich 700 ANA Special Forces). Die Kosten betragen 80-120 Mio. US-$. Die Ausstattung der ANA ist inzwischen z.T. bestens. Es hapert vor allem an der Ausbildung.
Auftrag der 170 Operational Mentoring Liaison Teams (OMLT) in ganz AFG ist:
Begleitung von Offizieren und Unteroffizieren, Ausbildung der Ausbilder, Bereitstellung militärischer Fähigkeiten für gemeinsame Operationen (angefangen mit Kartenmaterial), Umstellung von Fähigkeiten der administrativen Organisation, Beratung und Wirken als Verbindungselement zwischen ISAF und ANA.
Mentoring heißt konkret Anleiten bei militärischer Planung, Unterstützung beim alltäglichen Dienstbetrieb, in allen Phasen einer Operation Kernauftrag Mentoring. In Situationen, wo Operationen nicht verantwortbar erscheinen, kann ein OMLT-Führer für die eigenen Kräfte die „rote Karte" ziehen.
Die OMLT werden durch die Aufstellung der ASB keineswegs überflüssig. Sie werden gemeinsam vom Regionalkommandeur Nord geführt.
Die Bundeswehr stellt für das 2. Kandak 28 Mentoren, für das 5. 27, insgesamt 139 von 261 internationalen Mentoren.
Die 2. Brigade gilt als am weitesten fortgeschritten. Die Mentoren des Brigadestabs kommen von drei Nationen. Unterhalb der Brigade sind die OMLT`s rein national. Die Teams erfahren jeweils nur nationale Vorbereitungen und kommen zu unterschiedlichen Zeiträumen her. Das erschwere die Arbeit. Zu Hause müsse die Hochwertigkeit der OMLT-Arbeit betont werden. Hier seien besonders Erfahrene mit Frustrationstoleranz gefragt.
Ausfahrt zum neuen ANA-Camp
Um die OMLT überhaupt einsatzfähig und flexibel zu halten, sind manche Regeln für die OMLT gelockert.
Westlich vom Flugplatz geht´s ohne den sonst üblichen Fahrzeugaufwand über eine breite Schotterpiste 3-4 Kilometer nach Süden, vorbei am alten ANA-Camp, das jetzt ein riesiger Kriegsgeräteschrottplatz ist. Mit Hilfe von Bundeswehrsoldaten verstärken ANA-Soldaten den provisorischen Haupteingang. In letzter Zeit haben Direktangriffe auf Camps zugenommen. Schräg vom Haupteingang befindet sich eine Moschee. Innerhalb des großzügigen Lagers liegt das extra gesicherte Camp für Embedded Training Teams. Die Bundeswehr ist hier nicht dabei, sondern weiter auf Distanz im PRT. In Mazar sind die deutschen OMLT-Soldaten hingegen direkt bei der ANA stationiert.
Der Rundgang führt von einer herzlichen Begegnung zur nächsten. Erste Station der Brigadekommandeur (Noch-)Oberst Fazel, der vorzüglich Deutsch spricht. Vor zwei Monaten kehrte er vom Generalstabslehrgang International an der Führungsakademie in Hamburg zurück. Vorher war er Kommandeur der wesentlich von Deutschland aufgebauten ANA-Logistikschule in Kabul. Wir stellen fest, dass wir uns dort im Sommer 2008 beim Besuch von Außenminister Steinmeier begegnet sind. Auf seinem Computer holt er schnell ein Foto herbei: Es zeigt General Karimi (damals Chef des Stabes) und mich demonstrativ vor einer prächtigen Sonnenblume.
Der OMLT-Chef überbringt dem Kommandeur Karten. Beim allmorgendlichen Briefing sind die Mentoren immer dabei. Der Kommandeur und sein Umfeld machen einen gut organisierten, sehr professionellen Eindruck.
Die zweite Station ist das Haupttor. Kurzes Gespräch mit dem Chef der ANA-Sicherungskompanie: Er sei auf die deutschen Soldaten sehr stolz, sie würden die ANA in allen Bereichen unterstützen. „Wir freuen uns, dass die deutschen Kameraden die afghanischen Frauen und Kultur respektieren. Wir vergessen nie, dass die deutschen Soldaten ihre Familien verlassen haben." Ich verspreche, dass in Deutschland weiterzuerzählen. Das tue ich hiermit.
Die dritte Station ist der San-Bereich mit 13 Betten und einer kleinen, unstrukturierten Apotheke, geleitet von Hauptmann Zahir, einem Hazara. Für 2.000 Soldaten stehen künftig drei Ärzte zur Verfügung. Hier werden in erster Linie Schmerzmittel verabreicht. Behandelt werden nur leichte Fälle. Schwerere Fälle werden zum PRT oder ins Hospital Kunduz und Mazar weitergeleitet. Mentor ist ein deutscher Oberleutnant. Der Chef über ihn: „Ohne seine Hilfe wären wir aufgeschmissen. Wir lieben ihn." Ich kann zu dieser eskalierenden Freundlichkeit nicht schweigen. „Wenn ich eine Krankheit oder Verletzung hätte, würde ich mich von Ihnen mit vollem Vertrauen behandeln lassen!"
Zur selben Zeit besucht Minister zu Guttenberg für eine Stunde das PRT Kunduz und spricht eine halbe Stunde mit Soldaten. Bundestagspräsident Lammert landet nur für eine Viertelstunde und fliegt weiter nach Kabul.
Zufallsbegegnung im PRT Kunduz mit Marco Seliger, Chefredakteur von LOYAL, der Zeitschrift des Reservistenverbandes. Er war einige Tage draußen in Chahar Darreh. Einige Dörfer in Chahar Darreh seien voll vermint. In einer Gegend befänden sich ca. 200 Aufständische, pro Dorf einige Dutzend. Das Verhältnis zwischen lokalen und auswärtigen Kämpfern liege bei 1:1. Jetzt werde nur das Patt gehalten. Man taste sich ab und zu ab. Weitere Zufallsbegegnung im Atrium von Camp Marmal: Oberst Frank S. Er hatte als Hauptmann im März 2005 eine grüne Delegation (MdB`s Krista Sager, Marianne Tritz, ich und Andreas Körner) zu den kritischen Punkten in Prizren geführt - ein Jahr nach den Märzunruhen. Jetzt ist er Senior Mentor beim 209th ANA Corps. Es sei seine bisher größte Herausforderung.
Gesprächsfetzen
Ein Stabsoffizier: Verderblich sei der Einfluss des Wahabismus und saudischer Gelder. In Taloqan wird zzt. eine große Moschee gebaut.
- Der Einfluss der Mullahs sei schlimm. Bei einer Versammlung des Gouverneur von Kunduz mit ca. 200 Ältesten und anderen Funktionsträgern nach der Friedens-Jirga habe ein Mullah gepredigt: Alle Übel kämen daher, dass nicht mehr gesteinigt, Hände abgehackt werden dürften. Es habe keinen Widerspruch gegeben. Auch bei den ca. 30 Frauen gab es nur ein leichtes Zucken. Ansonsten wurde einhellig auf die Regierung, ISAF und vor allem auf die USA geschimpft. Diese haben ein riesiges Glaubwürdigkeitsproblem: Keiner glaube ihnen, dass sie helfen wollen. Sehr verbreitet sei die Sicht, dass sie bleiben wollen und andere Ziele verfolgen. Auch kursieren Gerüchte, dass hochrangige Talibanführer ins ISAF-HQ kämen, dass Taliban von Hubschraubern abgesetzt würden.
- Übergabe an wen? Ausbildung von Sicherheitskräften - für welche Partikularinteressen?
- Der ganze AFG-Einsatz sei der Versuch, ein leckes Boot mit der Konservendose vor dem Kentern zu bewahren.
Militärischer und ziviler PRT-Leiter schätzen das Erreichbare recht unterschiedlich ein. Ein Stabsoffizier: Man könne nur schaffen, dass von hier keine Bedrohung mehr ausgehe. Alles andere nicht.
Unterwegs
Vor dem Rückflug nach Mazar noch zu den Standplätzen für schweres Gerät: die zweite Panzerhaubitze, mehrere der inzwischen sieben Marder. Tarnnetze „senken" die Temperatur im Innenraum beim Tageseinsatz um 10° auf noch immer > 60°. Ganze fünf US-Hubschrauber zur medizinischen Evakuierung. Sie fliegen sogar ins Gefecht. Diese neue Fähigkeit schafft für Bundeswehr im Norden ganz andere Operationsmöglichkeiten.
Von der Haltestelle „Lummerland" geht`s im offenen Mungo mit einem anderen rückreisenden Soldaten die kurze Strecke zum Flugplatz. Mit der Transall kommen ca. 20 deutsche Soldaten. Mit ihrer unüblichen persönlichen Ausstattung und besonders drahtigen Gestalten kommen sie mir ziemlich „spezial" vor. Ich spreche einen an.
Nach dem Start mit ISAF 62 wird deutlich, was sich inzwischen auf dem Plateau getan hat. Ca. fünf neue Lager sind hier für ANA, ANP, US-Kräfte gebaut worden. Hier sind die aktuellen Anstrengungen plastisch zu sehen.
Neuere Entwicklung in Kunduz
Am 31. Oktober begann im Südteil von Chahar Darreh mit der Operation „Halmazag" von ISAF und ANSF (ca. 500 Soldaten) die schon länger angekündigte Offensive gegen Taliban in Qatliam und Isa Khel. Nach mehrtägigen Gefechten, in denen auch die Panzerhaubitze und US-Kampfflugzeuge zum Einsatz kamen, zogen sich die Aufständischen nach Imam Shahib im Norden und nach Baghlan im Süden zurück. Die Bundeswehr errichtet einen neuen Außenposten zwischen den beiden Ortschaften. Eine in den Dörfern rekrutierte Dorfmiliz soll die Orte kontrollieren. Schnelle Aufbaumaßnahmen wurden vereinbart. (FAZ 15.11.2010)
Eine weitere Operation lief zwischen Weihnachten und Neujahr um die Ortschaft Gor Tapa im Nordteil von Chahar Darreh. Der Raum von Gor Tapa war seit Jahren unter Kontrolle von Taliban und ausländischen Kämpfern der Islamischen Bewegung Usbekistans (IBU).
Auch hier bleiben ISAF und ANSF präsent.
Am 15. Januar 2011 wird gemeldet: Die seit Frühjahr 2010 von den Taliban erzwungene Abschaltung des Mobilfunknetzes zwischen Abenddämmerung und Tagesanbruch sei rückgängig gemacht.
Schwarze Bilanz
Nach Auskunft der afghanischen Regierung wurden im Jahr 2010 im Kontext des bewaffneten Konflikts 2.043 Zivilpersonen getötet und 3.570 verwundet. (UNAMA meldet 2.412 getötete und 3.803 verwundete Zivilpersonen allein für Januar bis Oktober 2010.)
Laut Innenministerium wurden 1.292 Polizisten getötet und 2.447 verwundet. Das Ministerium meldet 5.225 getötete und 949 verwundete Aufständische.
Laut Verteidigungsministerium wurden 821 ANA-Soldaten getötet.
Die Zahl der getöteten ausländischen Soldaten stieg von 521 in 2009 auf 711 in 2010, zwei Drittel davon US-Soldaten. (Reuters 3.1.2011)
USA TODAY berichtet, die Aufständischen hätten den US-Surge mit einem Surge an IED`s beantwortet. Allein in 2010 seien 3.366 US-Soldaten durch IED`s verwundet worden und 268 getötet.
Danksagungen
An die FraktionskollegInnen: Nach Rückkehr nach Mazar höre ich aus der QRF wie von anderen ein hohes Lob auf unsere Delegation. Sie habe ein ungewöhnliches Interesse gezeigt. Bei vielen anderen Delegationen sei das nicht zu spüren, gäbe es eher Interesse an Bestätigung der eigenen Positionen.
Ich danke der Fraktion für die im politischen Gewerbe ungewöhnliche Kollegialität einer Einladung zu einer Delegationsreise. Spezieller Dank an Michael Kellner, wissenschaftlicher Mitarbeiter von Frithjof Schmidt, für seine vorzügliche Organisations- und Nachbereitungsarbeit!
An das Einsatzführungskommando und die MitarbeiterInnen der AFG-Ressorts vor Ort, insbesondere des Joint Visitors Bureau in Mazar, für die entgegenkommende und unkomplizierte Unterstützung meiner Einzelreise!
An die BKA-Beamten beim ersten Reiseteil: Es waren hochprofessionelle, aufgeschlossene und muntere junge Männer. Unser gemeinsames Team funktioniert prächtig.
Vor allem an die nach AFG Entsandten, denen ich über die Schulter schauen konnte: Unabhängig vom Streit um die Sinnhaftigkeit des AFG-Einsatzes - Ihr verdient hohen Respekt, Aufmerksamkeit, Unterstützung. DANKE!
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[1] Seine Reportage „Vom Kriege" in LOYAL 1/2010
[2] Sascha Brinkmann/Joachim Hoppe (Hrg.): Generation Einsatz - Fallschirmjäger berichten ihre Erfahrungen aus Afghanistan, Berlin 2010, über Einsätze von 2002 bis 2007
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