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20 Jahre nach den Giftgasangriffen auf Halabja: Rüstungsexporte und deutsche Verantwortung

Veröffentlicht von: Webmaster am 13. März 2008 08:31:38 +01:00 (136211 Aufrufe)
Auf der Halabja-Gedenkveranstaltung der Fraktion hielt Winfried Nachtwei folgenden Vortrag:
20 Jahre nach den Giftgasangriffen auf Halabja:

Rüstungsexporte und deutsche Verantwortung

Winfried Nachtwei, MdB

Vor 20 Jahren, am 16. März 1988, fielen im irakisch-kurdischen Halabja nahe der iranischen Grenze während des Iran-Irak-Krieges mehr als 5.000 Menschen einem Giftgasangriff der irakischen Luftwaffe zum Opfer, mehr als 10.000 wurden schwerst geschädigt. Zum Jahrestag des größten Giftgaseinsatzes gegen Zivilbevölkerung seit dem 1. Weltkrieg lud Claudia Roth, MdB und Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen zu einer Gedenkveranstaltung der grünen Bundestagsfraktion in Berlin ein, die von Karin Mlodoch (HAUKARI e.V.) moderiert wurde.

Nach Grußworten des irakischen Botschafters Alaa Al-Hashimy und des Vertreters der kurdischen Regionalregierung, Ahmad Berwari, berichten drei Überlebende von dem Giftgasangriff und dem Schicksal der Überlebenden, die bis heute weder von der irakischen noch von anderen Regierungen irgendwelche Hilfe erhalten hatten. Der plastische Chirurg Prof. Gerhard Freilinger aus Österreich schilderte die medizinischen Folgen des Angriffs: Im März 1984 bekam er erste Patienten aus dem Irak - und dann bis 1988 jährlich acht bis zehn:

Die angeblichen „Verbrennungsopfer" waren in Wirklichkeit Senfgas und anderen Chemiekampfstoffen ausgesetzt gewesen. Diese wirkten auf der Haut wie die inneren Organe zerstörerisch „wie ein wütender Hund". Die Hälfte seiner Halabja-Patienten starb. Die Überlebenden sind dauerhaft geschädigt. Im Irak fristen sie ein trauriges Leben.

Im Sommer 2007 hatten Claudia Roth und W. Nachtwei als erste Delegation deutscher Bundespolitiker Halabja besucht. Auf der Gedenkveranstaltung sprach der Obmann der Grünen im Unterausschuss Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung im Bundestag über „Rüstungsexporte und deutsche Verantwortung":

Vor 20 Jahren machten wir uns mit unserer grünen Friedens-AG von Münster nach Weißrussland auf, um dort den Spuren des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion nachzugehen. Dort erfuhren wir von einer Kriegführung der systematischen Dorfvernichtung und bekamen Kontakt zu ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlingen. Ich stieß auf eine Art des Umgangs der deutschen Politik und Gesellschaft mit dem Vernichtungskrieg, die gekennzeichnet war von Großzügigkeit gegen Täter und Gleichgültigkeit gegenüber Opfern.

An diese „zweite" Schuld muss ich angesichts von Halabja denken.

Für den Giftgasangriff von Halabja trägt das Terrorregime von Saddam Hussein die Hauptverantwortung. Der größte Giftgasangriff auf Zivilbevölkerung seit dem 1. Weltkrieg war nur möglich, weil ausländische Firmen die Voraussetzungen lieferten, weil viele Regierungen das zuließen, ja begünstigten.

Beihilfen

Zur Entwicklung der Chemiekampfstoffe kamen Materialien und Know-how aus den USA, der Bundesrepublik, Großbritannien, Frankreich, China, Vorstoffe aus Singapur, Niederlanden, Ägypten, Indien, Bundesrepublik. Nach einer Liste von Medico International von 1998 sollen 56 deutsche Firmen an der irakischen Giftgasproduktion beteiligt gewesen sein. In einem Rüstungsbericht des irakischen Regimes an den UN-Sicherheitsrat von 2002 standen die Namen von mehr als 80 deutschen Firmen, mehreren privaten und öffentlichen Forschungslabors und zahlreichen Einzelpersonen, die seit 1975 ganze Anlagen, Bauteile, Grundsubstanzen und Know-how für die Entwicklung atomarer, biologischer und chemischer Massenvernichtungswaffen an den Irak geliefert hatten. In dem Bericht gab es Hinweise, dass solche Lieferungen von deutschen Behörden und Regierungsstellen geduldet und z.T. gefördert worden seien. Zum Teil gab es für die Exporte in den Irak Hermes-Bürgschaften.

Anfang der 80er Jahre begann die deutsch-irakische Zusammenarbeit in Sachen Giftgasproduktion. In dem großen Chemiewerk von Samara sollten angeblich „Pestizide zum Schutz der Dattelernte" entwickelt werden. Bemerkenswerterweise lag das Werk inmitten einer Schutzzone von 160 qkm. Aus der Bundesrepublik trug die Preussag AG zur Wasseraufbereitung bei, von „Rhein-Bayern" kamen Labors und Spezial-LKWs. Eine zentrale Rolle spielten die Karl Kolb GmbH und Pilot Plant aus Hessen. Water Engeneering Trading/WET aus Hamburg fungierte als Konsortium. Ab 1985 wurde in Falluda die zweitgrößte Giftgasfabrik errichtet. Hier wie bei der dritten Fabrik in Salman Pak soll WET beteiligt gewesen sein. (Weitere Ausrüstungs- und Know-how-Hilfen gab es auf dem Feld der Raketentechnologie, von Artilleriegeschützen.)

Großzügigkeit gegen Täter

Vom Anspruch des Grundgesetzes, des Kriegswaffenkontrollgesetzes, des Außenwirtschaftsgesetzes und der Rüstungsexportrichtlinien der Bundesregierung von 1971 und 1982 her waren Beiträge zur Spannungs- und Konfliktverschärfung untersagt.

Erste Hinweise auf deutsche Beteiligungen an einer irakischen Giftgasproduktion gingen 1982/83 aus den USA an die Bundesregierung. 1984 berichtete die New York Times: Zwei deutsche Firmen - Karl Kolb und die Pilot Plant - hätten Laboranlagen zur Entwicklung von Schädlingsbekämpfungsmitteln geliefert, die im Irak zur Produktion von Giftgas dienten.

1984 richtete Petra Kelly für die Grüne Fraktion eine Anfrage an die Bundesregierung hinsichtlich der Beteiligung deutscher Firmen am Aufbau irakischer Kapazitäten für Tabun und Senfgas in Samara. Die Bundesregierung antwortete: Für die „katalogmäßig angebotenen Labor- und Produktionsanlagen" sei eine keine besondere Ausfuhrgenehmigung erforderlich. Auf spätere Anfragen wurde ähnlich pauschal und verharmlosend geantwortet. (vgl. Dokumentation „Grüne Initiativen gegen Rüstungsexporte in den Nahen Osten", Schwerpunkt Irak, Bonn 1991)

Im April 1987 erhob die Gesellschaft für bedrohte Völker öffentlich den Vorwurf gegen die Karl Kolb GmbH und Pilot Plant, dass unter ihrer Führung mehr als 40 deutsche und europäische Firmen am Bau der Giftgasanlagen in Samara beteiligt seien. Das Bonner Landgericht untersagte der GfbV die Wiederholung dieser Behauptung unter Androhung von zweimal 500.000 DM. Im Folgejahr hob das Oberlandesgericht Köln dieses Urteil auf, nachdem für den Vorwurf auch eine israelische Quelle aufgetaucht war.

Ende 1988 legte die Bundesregierung einen Zwischenbericht über den Stand staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen wegen des Verdachts illegaler Ausfuhren von Ausrüstungsteilen zur Produktion chemischer Kampfstoffe im Irak vor. Er umfasste ganze anderthalb Seiten. Erst am 9. Mai 1991 berichtete die Bundesregierung ausführlicher. Inzwischen war mit dem Irak-Kuwait-Krieg der politische Druck gestiegen. Zwei Anläufe der Grünen Fraktion seit 1989 zur Einrichtung eines Untersuchungsausschusses zu deutschen Beteiligungen an Produktionsstätten für B- und C-Waffen im Irak, Iran, Libyen und Syrien scheiterten an der fehlenden Bereitschaft der SPD-Opposition, das dafür notwendige Drittel an Stimmen zusammenzubringen. Damit wurde die Chance vertan, zeitnah das wohl schmutzigste Kapitel bundesdeutscher Rüstungsexportpolitik aufzuklären. Die erstverantwortlichen Bundeswirtschaftsminister wurden damals von der FDP gestellt.

Die juristische Aufarbeitung endete in zwei kurzen Haftstrafen, wenigen Bußgeldern und vielen Verfahrenseinstellungen. Zugleich wurde Medico International zu einer Geldstrafe verurteilt, weil die Hilfsorganisation Anti-Dot-Medikamente gegen chemische Kampfstoffe nach Kurdistan geschickt hatte - diese Lieferungen wären ausfuhrgenehmigungspflichtig gewesen!

Konsequenzen: Was wurde daraus gelernt, was hat sich getan?

In Sachen Rüstungsexportkontrolle hat sich inzwischen einiges getan:

  • Gerade auch dank des Engagements von Claudia Roth wurden die Rüstungsexportrichtlinien der Bundesregierung im Jahr 2000 verschärft. Eingeführt wurde der alljährliche Rüstungsexportbericht. Ein Fortschritt an Transparenz. Der Haken: Es ist nur eine Kontrolle im Nachhinein. Jahrelang haben wir den ständigen Kampf um die Auslegung der Richtlinien erlebt, wo sich immer wieder Vertreter einer weitsichtigen Sicherheits- und Friedenspolitik und Sachwalter von kurzsichtigen Interessen gegenüberstanden.
  • Verdächtige Dual-Use-Exporte und -Geschäfte werden vom BND sehr genau beobachtet und immer wieder im Unterausschuss „Nichtverbreitung" berichtet.
  • Seit dem Chemiewaffenübereinkommen ist weltweit die Vernichtung von Chemiekampfstoffen und -waffen angelaufen. Mehrfach hatte ich Gelegenheit, Chemiewaffenvernichtungsanlagen in Russland zu besuchen, die wesentlich mit deutscher Hilfe errichtet wurden. Das sind endlich mal Beispiele einer gut funktionierenden Abrüstungszusammenarbeit.

Halabja und die Anfal-Kampagne waren Krieg gegen die kurdische Bevölkerung im Irak von völkermörderischem Ausmaß. Zu den Giftgas-Massenmorden des Saddam-Hussein-Regimes kam maßgebliche Beihilfe aus der Bundesrepublik. Die damalige Bundesregierung hat das über Strecken zumindest geduldet. Nachfolgende Bundesregierungen waren sich einig in der Verurteilung dieser Aufrüstungszusammenarbeit. Damit ist das alles aber ganz und gar nicht erledigt.

Umso mehr ist Deutschland heute in der moralisch-politischen Pflicht, den Überlebenden von Halabja zu helfen. Wo Großzügigkeit gegen Täter und Helfershelfer nicht mehr rückgängig zu machen ist, muss umso mehr Schluss sein mit der Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern.

Die Reden der anderen Fraktionen bei der Einbringung des Grünen Antrags zu Halabja am 6. März im Bundestag machen Mut. Eine gemeinsame Initiative aller Fraktionen ist möglich.

Anmerkung: In der Diskussion meldete sich der Sohn eines Unternehmers zu Wort, der in den 80er Jahren für Preussag AG und andere unwissentlich mobile Wasser- und Giftgascontainer gefertigt hatte und der, als er von dem Verwendungszweck erfuhr, daran zerbrach. Der Unternehmersohn verlas eine Erklärung an das kurdische Volk, in der er seine Trauer und Scham ausdrückte.

Antrag

der Abgeordneten Claudia Roth, Winfried Nachtwei, Marieluise Beck (...) und der Fraktion BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN

„20 Jahre nach Halabja - Unterstützung für die Opfer der Giftgasangriffe"

(Drs. 16/8197 vom 20.2.2008)