Umzingelung von Kunduz: Warum die Taliban wieder so erfolgreich sind. Neueste AAN-Fallstudie zu Distrikten
Von: Nachtwei amDi, 02 September 2014 22:56:57 +02:00Vor einer Woche alarmierende Meldungen aus Kunduz, wo die Taliban in den letzten Wochen so dicht an der Provinzhauptstadt dran waren wie nie seit 2002. Hier meine Zusammenfassung der heute erschienenen Studie des Afghanistan Analysts Network zu den Konfliktverläufen in den Distrikten und den düsteren Aussichten.
Umzingelung von Kunduz: Warum die Taliban wieder so erfolgreich sind. Neueste Distrikt-Fall-Studie des AAN
(vgl. „Alarmierende Nachrichten jetzt auch aus Kunduz“ vom 28. August 2014, www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1309 )
Zusammenfassung von „Taleban Closing in on the City: The next round oft he tug-of-war over Kunduz“ der Afghanistan-Analysts-Network-Gastautorin Lola Cecchinel auf
www.afghanistan-analysts.org/the-next-round-of-the-tug-of-war-over-Kunduz/
Nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahl im April verschlechterte sich die Sicherheitslage in Kunduz dramatisch. Bis vor zwei Wochen, als die Afghanischen Sicherheitskräfte (ANSF) großräumige Clear-Operationen in der ganzen Provinz starteten, waren die traditionell umkämpften Distrikte Chahar Darreh und Dasht-e Archi fast vollständig unter Talibankontrolle, während sich die Lage in Imam Sahib und Aliabad deutlich verschlechterte. Die Provinzhauptstadt war zeitweilig umzingeln. Das letzte Mal, dass die Taliban der Provinzhauptstadt so nah kamen, war im Juni 1997. Nach ihrem Sieg beherrschten sie die Provinz über vier Jahre.
AAN-Autorin Lola Cecchinel nennt die Hauptgründe für die Gebietsgewinne der Taliban und schildert den Konfliktverlauf in den einzelnen Distrikten
Zwei zentrale Gründe trugen zum Erfolg der Taliban-Sommeroffensive in Kunduz bei:
- In Folge einer pakistanischen Militäroffensive im Juni/Juli kamen Aufständische aus Waziristan in die meist umkämpften Distrikte Chahar Darreh und Dasht-e Archi. Sie brachten vor allem Waffen und Geld mit. Umstritten ist, ob die Auswärtigen auch tatsächlich an Kämpfen beteiligt waren, wie offiziell behauptet wurde;
- Die Aufständischen profitierten indirekt von der Wahlkrise und der wachsenden Polarisierung zwischen den Lagern der Kandidaten, die sie leicht ausnutzen können. Dabei verbreiten sich Gerüchte, Regierungsvertreter wie der Gouverneur und der Bürgermeister von Kunduz würden die Taliban mit Munition und Lebensmitteln versorgen.
Die letzte Gegenoffensive der ANSF startete in der vorvorigen Woche. ANA feuerte mit Raketen und schwerer Artillerie aus dem Khak Kani Gebiet und vom Flughafen-Plateau. Die Kämpfe konzentrierten sich auf Qaria Yatim ca. fünf Kilometer westlich von Kunduz. Wie erfolgreich die ANSF-Operation war, ist umstritten. In der Vergangenheit waren sie regelmäßig nicht nachhaltig.
Die Afghan Local Police (ALP) ist seit ihrer Gründung 2011 in Kunduz das Hauptziel der Aufständischen: Die ALP stellt die letzte Frontlinie gegenüber den Taliban in den meisten Distrikten, sie ist schlecht ausgestattet, regelmäßig unterbesetzt und unterschiedlich loyal gegenüber der Regierung. Ihr Sold liegt unter 200 Dollar. Viele von ihnen rechtfertigen damit, „Steuern“ von der lokalen Bevölkerung zu erheben.
„A closer look at …“- Fallstudien zu den einzelnen Distrikten:
Chahar Darreh: ALP-Checkpoints entlang der Hauptstraße durch und nach Chahar Darreh wurden in den letzten Monaten immer wieder eingenommen: Ainul Majar Payin, Ainul Majar Bala, Haji Sharif Tepa, Sujani, Mang Tepa, Ghundai, Ay Khanum. Das „von der Regierung kontrollierte“ Distriktzentrum umfasse gerade das unmittelbare Umfeld des befestigten Gouverneurssitzes und des Polizeihauptquartiers. Darüber hinaus seien die Taliban zuhause. In von ihnen kontrollierten Gebieten betreiben sie eine Rechtskommission und Parallelgerichte, gewährleisten Bewegungsfreiheit und erheben Steuern.
Qaria Yatim liegt am Eingang des Distrikts und bildet den Zugang zur nur einen Kilometer entfernten Stadt Kunduz. Anfang August lief ein ALP-Kommendeur von einem der drei Checkpoints des Dorfes mit neun Mann zu den Taliban über. Der Checkpoint war bis zur Rückeroberung durch die ANSF am 22. August unter Kontrolle der Taliban. Im April berichteten internationale Beobachter, dass im Gebiet von Qaria Yatim 75% aller IED-Zwischenfälle des Distrikts ereignet hätten.
Gor Tepa Area und Kunduz City: Die Etablierung der ALP führe hier wie in anderen Distrikten der Provinz zu wachsenden Frustrationen gegenüber dem Staat. ALP und Aufständische kämpfen hier um Steuern auf Kosten einer Bevölkerung, die ärmer ist als der Provinzdurchschnitt.
Es sei schwer zu sagen, wen die örtliche Bevölkerung mehr fürchte: ihre „Verteidiger“ – ALP und andere Milizen – oder die Taliban. Kurz vor den Wahlen wurden viele Häuser im Gebiet von Mir Alam`s Milizen geplündert. Die räuberische Präsenz solcher Milizionäre gegen eine marginalisierte paschtunische Bevölkerung habe den Taliban geholfen, ihren Einfluss in den Vororten von Kunduz auszubreiten. Begonnen habe das in Kanem im September 2012, als die Kommandeure Qadirak und Faizak 12 Zivilisten massakrierten und acht verwundeten – alles Paschtunen.
Dasht-e Archi: Während des Ramadan besetzten die Taliban die meisten Dörfer rund um das Distriktzentrum. Anfang August fielen in Archi Checkpoints ohne Widerstand der ALP. Ihre Einheiten seien geflohen, die ANSF habe blind vom Distriktzentrum in die Nachbarschaft gefeuert und dabei Häuser zerstört und Zivilisten getötet. ALP wie Taliban hätten die Bewohner aus ihren Häuser vertrieben und diese zum Kampf genutzt.
Imam Sahib war bis vor kurzem einer der sichersten Distrikte der Provinz, die Talibanpräsenz war marginal. Die meisten Bedrohungen stammten aus der ungezügelten Kriminalität. Nachdem die Taliban strategische Punkte an der Grenze zu Dasht-e Archi überrannt hatten, attakierten sie inzwischen auch Checkpoints in bisher sicheren Gebieten.
Aliabad: In dem überwiegend von der Regierung kontrollierten Distrikt konzentrieren sich Aufständische hauptsächlich in zwei Gebieten. Hier stimmen viele Einwohner den Aufständischen bei ihrem Kampf gegen die ALP zu, die ungestraft Jagd auf die Bevölkerung mache, Ackerfrüchte und Vieh stehle und Geld von Baufirmen erpresse. Die Taliban demgegenüber ließen die Leute „ihre Pistazien in Frieden“ sammeln. Sie nähmen nur zehn Prozent Steuer im Tausch für die Sicherung des Gebiets.
„Eine kritische Schwelle“:
Der jüngste Vorstoß der Taliban sei ohne Beispiel in der jüngsten Geschichte der Provinz. Die gegenwärtige Situation unterstreiche das Versäumnis der Regierung, die Beschwerde der örtlichen Bevölkerung aufzunehmen, und die Schwäche einer Sicherheitsstrategie, die die ALP an die vorderste Front des Kampfes gegen die Aufständischen stellte. Eine kritische Schwelle sei erreicht: Die Taliban nutzen den Vorteil einer strukturellen Lücke (ALP) und eine günstige Konjunktur (politische Krise). Sie seien in der Lage die Kräfte, die zu ihrer Abwehr bestimmt seien, zu besiegen. Wegen der starken ANSF-Präsenz in Kunduz City sei eine Übernahme der Provinz unwahrscheinlich. Aber die Taliban hätten den Eindruck verstärkt, dass sie die Regierung überrennen könnten, wenn sie wollten.