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Meine Kunduz-Berichte III: 2008-2009

Veröffentlicht von: Nachtwei am 6. Oktober 2013 18:24:33 +01:00 (50419 Aufrufe)

Der 3. Teil meiner Kunduz-Reiseberichte - mit einer Einschätzung, warum die frühere Hoffnungsprovinz Kunduz so abstürzte. Diese Frage interessierte im politischen Berlin der Jahre 2009/10 nicht erkennbar. Viel wichtiger schien die Frage, wer was wann wußte ...

Vor der ISAF-Mandatsentscheidung

Jüngste Eindrücke aus Kabul, Mazar-e Sharif und Kunduz

Winfried Nachtwei, MdB (5.10.2008)

(Vollbericht www.nachtwei.de/index.php/articles/754 )

Ziel der Obleutereise vom 29.9.-2.10.2008 war, im unmittelbaren Vorfeld der Mandatsentscheidung die militärische und politische Lage zu erkunden, insbesondere

- im Norden nach den schweren Vorfällen in August und September sowie die bisherigen Einsatzerfahrungen der Quick Reaction Force

- die Entwicklung in Gesamt-AFG vor Beginn der Wählerregistrierung für die Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr

- die Entwicklung + Bekämpfung der Drogenwirtschaft

- mandatsspezifische Fragen wie die Obergrenze und die Einsatzmöglichkeiten von AWACS.

Im Unterschied zu meinen AFG-Reisen im Juli + August (vgl. Bericht  „Viele Lichtblicke bei wachsender Düsternis") standen jetzt militärische Fragen im Vordergrund.

Wegen des islamischen Feiertages Eid-al-Fitr zum Ende des Ramadan hatten wir nur internationale + deutsche GesprächspartnerInnen:

Kabul: (...)

Mazar:

  • Kommandeur des RC North, Brigadegeneral Weigt und der Kommandeur der dt. Quick Reaction Force.

Kunduz:

  • der neue PRT-Kommandeur,
  • der zivile Leiter und Offiziere des Stabes,
  • Soldaten der Fallschirmjägerzüge und Schutzkompanie,
  • Teilnahme an einer Patrouille

Mit uns fahren Christoph Grabenheinrich, Saarländischer Rundfunk/ARD, Paul Elmar Jöris, WDR, Dr. Peter Stuckhard, Neue Westfälische. (...)

3.3 Kunduz

Erstmalig ist in Kunduz ein Kommandeur im Einsatz vorzeitig abgelöst worden. Kurzfristig übernommen hat die Aufgabe Oberst Rainer Buske, stv. Kommandeur der Panzerbrigade 21 aus Augustdorf, der schon Kommandeur des vorigen Kontingents in Kunduz gewesen war, sich gut vor Ort auskennt und eine offene Sprache spricht.

Zzt. umfasst das PRT gut 600 SoldatInnen, davon 200 Soldaten der Schutzkompanie und 120 Soldaten in drei Fallschirmjäger-Zügen. Rausgegangen wird nur noch mit gepanzerten Fahrzeugen ab Wolf SSA aufwärts.

Kunduz ist seit einem Jahr das bei weitem gefährdetste PRT im ganzen Norden. Die Zäsur war der Selbstmordanschlag vom 19. Mai 2008, dem drei Bundeswehrsoldaten auf dem Markt von Kunduz zum Opfer fielen. Bis dahin konnten sich Fußpatrouillen relativ frei bewegen, Gespräche führen. Sie begegneten einer sehr positiven Erwartungshaltung.

Seit September 2007 gab es 80 Raketenabschüsse (BM-1, 8 km max. Reichweite, ungelenkt) im Nahbereich des PRT, davon 56 seit 1. Januar und 31 seit 1. Juli. 6 Raketen landeten auf dem PRT-Gelände, ohne größeren Schaden anzurichten. Am Vorabend flogen die letzten beiden Raketen.

Die größte Gefahr geht von Sprengfallen und Selbstmordattentätern zu Fuß, auf Motorrädern oder Autos aus. Sprengstoffanschläge drohen vor allem tagsüber, nachts sind Hinterhalte die Hauptbedrohung. Am 23.9. versuchte ein Selbstmordattentäter mit seinem Toyota Corolla auf der Hauptstraße nach Kunduz („Pluto") in einer Bundeswehrkolonne das schwächste Fahrzeug zu treffen. Die Explosion bildete eine Feuerwand, die über Sachschäden an den gepanzerten Fahrzeugen hinaus aber keine Personenschäden verursachte. Wenige Minuten vorher hatte ein junger Mann per Handy die Vorbeifahrt des Konvois weitergemeldet.

(Am 24.9. tauchten auf www.blogfa.com 4 Fotos von dem Anschlag - von einer Bundeswehrseite - zusammen mit 2 Fotos von der Demo „Truppen raus aus Afghanistan" am 20.9. in Berlin auf. Hierzu schrieben  „Heimatliebende": „Letzter Selbstmordanschlag gegen Besatzungstruppen in Kunduz. Nachdem die große Demonstration in Berlin forderte, dass die Bundeswehr zurück in die Heimat kommt, ist der letzte Selbstmordanschlag geschehen.")

Insgesamt vier Insurgentengruppen sind in Distrikten um Kunduz lokalisiert. Sie verfolgen eine Einschüchterungsstrategie: mit „nightletters" (Drohbriefe), demonstrativen bewaffneten Auftritten bei Tage, Erschießungen von bisher zwei Lehrern, zwei Polizisten und einem Landarbeiter. Weitere Gewaltakteure sind Drogen- und Waffenschmuggler, die sich in ihren Geschäften gestört fühlen, sowie ehemalige Mujahedin-Kommandeure, die enttäuscht sind und sich zunehmend radikalisieren. Mit der erheblichen Armut gebe es auch eine gewisse Käuflichkeit, Anschläge als Nebenerwerb sozusagen.

Mehr als 90% der Bevölkerung seien den Deutschen gegenüber nicht feindlich gesonnen. Autonome Kleinstgruppierungen agieren nach der klassischen Guerillataktik. Es gibt keine klaren Strukturen, sondern ständig wechselnde Koalitionen + Konflikte.

Im Rahmen des neuen ANP-Stellenplans (Tashkiel) wurde das Polizeipersonal um 40% (!) reduziert. In manchen Distrikten gibt es nur 25 bis 60 - zudem kaum ausgebildete - Polizisten. Es deutet sich eine Landflucht an, wo Polizisten aus Angst nach Kunduz ziehen. Die Forderung des Polizeichefs nach 400 zusätzlichen Polizisten wurde abgelehnt.

Vor diesem Hintergrund musste der Gouverneur kürzlich bei einem Sicherheitsmeeting mit allen relevanten Machtträgern der Provinz, darunter auch Ex-Mujahedin-Kommandeure mit Kriegsverbrecher-Vergangenheit, zugestehen, dass er die Sicherheit außerhalb der Stadt nicht mehr gewährleisten könne. Es erging die Verpflichtung an alle, ihrerseits für Sicherheit in ihrem Gebiet zu sorgen.

Von April bis Juni hätte ISAF in der Provinz Kunduz noch die Initiative gehabt. Die habe jetzt der Gegner, dem gegenüber man nur reagieren könne. Mit dem jetzigen Kräfteansatz könne die Initiative nicht zurück gewonnen werden.

(Eindeutig scheint der Zusammenhang zu sein zwischen Kräfteumfang und Anschlagshäufigkeit. Als zusätzlich eine ganze Fallschirmjäger-Kompanie (ca. 200 Mann) vor Ort war, gingen die Attacken zurück. Sie nahmen zu, als nur noch zwei Züge vor Ort waren. Diese Reduzierung war nicht durch eine Entspannung vor Ort begründet, sondern offenbar einzig + allein durch die Ministerentscheidung, ja nicht vor der Herbstentscheidung an der Obergrenze zu rühren. Inzwischen ist ein zusätzlicher Fallschirmjäger-Zug in Kunduz.)

Die Operationen des PRT sind darauf ausgerichtet, dass Vertrauen der Bevölkerung + Hilfsorganisationen zurückzugewinnen.

Bei der Patrouille in den offenen „Mungos" über die „Platte" ist die schnelle Totaleinstaubung eine neue Erfahrung. Als das Führungsjahrzeug nicht mehr die Auffahrt durch einen Hohlweg raus aus einem Wadi schafft, durchfahren wir ungeplant ein kleines Dorf. Vor den Lehmmauern sind die Dorfbewohner zusammengelaufen, sicher die Hälfte Kinder, viele freundliche Blicke, einiges Winken, fast „wie früher".

Innere Lage: Bei intensiven Rundgesprächen mit Offizieren verschiedener Dienstgrade, darunter Verantwortliche der Schutzkompanie und der Fallschirmjäger, wird eindringlich und einhellig nach besonderer Anerkennung ihres Einsatzes gefragt und die Sinnfrage gestellt.

Gesellschaftliche Anerkennung für den AFG-Einsatz sei nicht spürbar. Nach Rückkehr aus AFG habe sich niemand für seine AFG-Erfahrungen interessiert, so ein Offizier.

Warum gebe es angesichts der ständigen Einsätze unter Gefahr für Leib und Leben keine Tapferkeitsauszeichnung für solche, die sich dabei besonders bewähren, einen Kameraden retten? Warum werde bei Tod im Einsatz verharmlosend von „verunglückt" etc. und nicht von „gefallen" gesprochen?

Es fehle an Klarheit, „warum wir hier sind. Unsere Auftraggeber müssen das plausibel machen." „Wir nehmen nicht wahr, was wir schaffen. Wir sehen nicht, dass unsere Einsätze nachhaltig sind." „Wir haben ganz, ganz selten Erfolgserlebnisse." Einen Insurgenten habe man noch nie erwischt. Die Soldaten fühlten sich von den Mandatsgebern allein gelassen. Niemand könne den Soldaten überzeugend den Sinn des Einsatzes erklären. Gefragt wird auch nach einer Abzugsperspektive.

Als wir nach einigen Stunden auseinander gehen, hat es einiges an Verständigung und Klärung zwischen uns PolitikerInnen und den Soldaten gegeben. Es bleibt aber die alarmierende Erkenntnis, wie groß offenbar inzwischen die Kluft zwischen den Soldaten + Offizieren vor Ort und der politischen + militärischen Führung ist. Diese scheint „Gehorsam aus Einsicht", wie es die Innere Führung gebietet, ausgesprochen schwer zu machen. Man ist auf dem Weg, den Kampf um die Köpfe und Herzen in den eigenen Reihen zu verlieren.

(Anmerkung: Uns sitzen junge wache Offiziere gegenüber, die ausdrücklich für „ihre Jungs" sprechen, die z.T. 80-100 Patrouillen hinter sich haben, dabei ständig von Anschlägen bedroht sind und einen Kameraden verloren haben. Wer ständig solche Risiken auf sich nimmt, ist nicht mit der Benennung der sicherheitspolitischen Ziele des Einsatzes (Terrorismus-Eindämmung, Stabilisierung, internationale Mitverantwortung) zufrieden. Die sind so richtig wie abstrakt - und oft nur noch Worthülsen. Der Sinn des Einsatzes muss auch konkret erfahrbar sein: In Erfolgen bei der Eindämmung der Gewalt, in Aufbaufortschritten vor Ort und der Intensität von Aufbauanstrengungen, in den Perspektiven des Einsatzes. Stattdessen kommt man an die Gewalttäter nicht ran. Und wenn mutmaßliche Attentäter oder Drahtzieher doch mal gefasst werden, sind Verurteilungen die Ausnahme und baldige Freilassungen die Regel - weil nachrichtendienstliche Erkenntnisse nicht gerichtsverwertbar sind, wegen Korruption + Vetternwirtschaft. Da kann sich dann ein Sisyphos-Gefühl breit machen. Hinzu kommt, dass es viel zu wenig zivil-militärischen Austausch gibt. Was ich bei AFG-Reisen an hoffnungsvollen Projekten + MacherInnen erlebe - Umspannwerk, Trinkwassersystem, Lehrertrainingszentren, Gesundheitsstationen, Mikrokredite, lokales Peacebuilding etc. -, bekommen die aller meisten Soldaten nie zu sehen. Überfällig ist eine Abzugsperspektive mit realitätstüchtigen wie ehrlichen Zielmarken vor allem im Sicherheitssektor. Da ist ein Blick zu den Kanadiern und Niederländern hilfreich, die in 2011 bzw. 2010 ihre Führungsrollen in Kandahar bzw. Uruzgan abgegeben wollen, jetzt aber intensiv dafür powern, dass sie das dann guten Gewissens tun können.)

Beim Provincial Advisory Team (PAT) Taloqan ist die 2. Ausbaustufe blockiert, weil sie an die Besetzung der - seit 6 Monaten immer noch unbesetzten - BMZ-Stelle gebunden ist. Hier sei das Mindeste, das Junktim aufzuheben.

 

(Klein-)Krieg bei Kunduz -

Weizenrekordernte nebenan

Besuch in Kabul und Kunduz Mitte Juni 2009

Winfried Nachtwei, MdB

(Vollbericht www.nachtwei.de/index.php/articles/886 )

Vom 10.-13. Juni 2009 besuchte ich Kabul und Kunduz. Vor Ende der Legislaturperiode und den bevorstehenden Wahlkämpfen hatten Botschaft und Bundeswehr besonders viele offizielle Besuche zu bewältigen - in Kunduz in 10 Wochen über 20! Statt der beabsichtigten ausführlicheren Einzelreise konnte ich mich der Gruppe um den Parlamentarischen Staatssekretär Christian Schmidt, den innenpolitischen Sprecher der Unionsfraktion Dr. Hans-Peter Uhl (CSU) sowie den SPD-Kollegen Rainer Arnold, Uschi Mogg, Hans-Peter Bartels und SPD-Fraktionsreferent Axel Schneider anschließen. Mit dabei sind Die Reise soll Einblicke in die aktuelle Lageentwicklung zweieinhalb Monate vor der Präsidentschaftswahl geben, in den Stand des US-Strate-giewandels und die seit Ende April zugespitzte Situation im Raum Kunduz. Es ist mein 13. AFG-Besuch.

In Kabul führten wir Gespräche mit dem stellvertretenden Botschafter Dr. Christian Buch, im ISAF-Hauptquartier mit dem deutschen Generalmajor Erich-Hans Antoni und weiteren dt. Offizieren, im EUPOL-Compound mit Dr. Karin Müller, Head of Rule of Law, Axel Haas, Lt. des dt. EUPOL-Kontingents und Dr. Michael Mark, stv. Leiter des German Police Project Teams (GPPT), mit Innenminister Hamif Atmar, mit den Leitenden von Friedrich Ebert Stiftung, GTZ und DED (Tina Blohm, Andreas Clausing,Jan Rogge)  sowie anderen dt. Entwicklungsexperten, mit Schülerinnen und Lehrerinnen in der Durani-Schule.

In Kunduz Unterrichtungen durch den Kommandeur RC North, Brigadegeneral Vollmer, dem Kommandeur des PRT Kunduz, Oberst Klein und die AA-Vertreterin Frau Pürtinger, Gespräche mit den Kommandeuren der 2. ANA-Brigade und der Polizei Kunduz, dem Chef des Nachrichtendienstes NDS, mit Vertretern von EUPOL, GPPT, GTZ, Entwicklungsorientierter Not- und Übergangshilfe (ENÜH), USAID, mit Offizieren und Soldaten der Quick Reaction Force 3 sowie anderen.

Zusammenfassung: Der „Tradition" von AFG-Reisen entsprechend sind auch jetzt die Eindrücke und Erkenntnisse sehr gegensätzlich. Äußerst beunruhigend ist die kriegerische Entwicklung in einzelnen Distrikten der Provinz Kunduz, die der strategischer Angriffspunkt der Taliban im Norden zu sein scheint. Die Vorjahrsentscheidung der Zentralregierung, die Polizei der Provinz um 537 Stellen zu reduzieren, leistete dem Vorschub. Positiv soll die Entwicklung aber weiter im Großteil des Nordens sein, auch in Badakhshan. Eine große Chance bietet die Rekordgetreideernte und die weitgehende Einstellung des Mohnanbaus im Norden und Nordosten. Auf US-Seite ist die Lageeinschätzung viel kritischer und der Wille zu schnellen Wirkungen und Erfolgen viel deutlicher/konsequenter als z.B. auf deutscher Seite. Bei Aufbau und Entwicklung gibt es auch im Norden erhebliche Verstärkungsmöglichkeiten.

(...)

KUNDUZ (+ REGION NORD)

Aufbau und Entwicklung

(Die Gespräche unserer Kurzvisite in Kunduz konzentrieren sich stark auf die militärische Seite. Wir verbleiben im PRT - und bekommen deshalb nichts von dem zu sehen, was ich seit Anfang 2004 alljährlich als Aufbaufortschritte erlebte. Ein umfassenderes Bild der „Aufbaulage" ergibt sich deshalb nicht. Hierzu bringen aber insgesamt 20 Info-Blätter zur Aufbau- und Entwicklungsarbeit in Nordost-Afghanistan, von denen 12 bisher auf der Website des Auswärtigen Amtes veröffentlicht sind, viele Informationen: www.auswartiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/RegionaleSchwerpunkte/ AfghanistanZentralasien/Engagement-Kundus-FactSheets,navCtx=53336.)

Der Norden sei Vorbild für das übrige AFG. In allen Provinzen gehe es relativ gut voran. Nur noch 0,6% des afghanischen Mohns stamme aus dem Norden. Es gebe nur noch einige 100 Hektar Mohnfelder in Faryab und Badakhshan. Für ein Jahr „mohnfrei" gebe es eine Mio. $ Prämie für Provinzrat und Gouverneur. Vom Drogenschmuggel sei der Norden allerdings weiter betroffen. 15% gehen durch den Norden, 50% nach Iran, 35% nach Pakistan.

Nach den bisherigen Erfahrungen stehen die Chancen gut für einen  ruhigen Verlauf der Wahlen.

Nachdem es in den letzten Jahren für die Landbevölkerung angesichts der Dürre oft ums Überleben ging, habe die jetzige Rekordernte den Provinzen große Überschüsse erbracht.

Das von uns im letzten August besuchte Umspannwerk in Mazar läuft inzwischen voll. Beim Teacher Training Center in Mazar ist ein neues Lehrgebäude im Bau, wurde vor zwei Wochen der Grundstein für ein Wohnheim gelegt. Im Deutschen Haus arbeiten 10 Internationale mit 50-70 einheimischen MitarbeiterInnen.

In den Provinzen Kunduz und Takhar arbeiten die dt. EZ-Durchführungsorganisationen GTZ, KfW und DED mit 35 Internationalen und 150 einheimischen MitarbeiterInnen.

Schwerpunkte der deutschen Aufbau- und Entwicklungsarbeit in den beiden Provinzen (und Badakhshan) sind:

-       Grundbildungsprogramm (auch in Kabul und Paktia) Teacher Training Center in Mazar

-       städtische Wasserversorgung Kunduz, Imam Shahib, Taloqan und Feyzabad, Wiederherstellung des Wasserkraftwerks Khanabad (Fertigstellung 2011),

-       wirtschaftliche Infrastrukturentwicklung (Straßen, Brücken, marktbezogene Infrastruktur),

-       Wiederaufbau des Provinzkrankenhauses Balkh,

-       Dt. Polizei Projektteam (Police Training Centers Mazar und Kunduz).

-       Der Flughafen Mazar wird zu einem der modernsten in Zentralasien ausgebaut. Die 35 Mio. Euro Kosten werden von Deutschland und den Vereinigten Arabischen Emiraten erbracht.

Ein „Altfall" ist die alte Brücke über den Kunduz-Fluss bei Chahar Dara, deren Erneuerung schon seit drei Jahren im Gespräch ist. Begonnen wurde inzwischen mit dem Bau der „Mischa-Meier-Brücke", der zweiten Brücke über den Kunduz-Fluß zwischen den Distrikten Chahar Dara und Aliabad. Die 1,7 Mio. Euro werden aus dem Infrastrukturtopf der Bundeswehr bestritten. Vor Monaten wurde ein Chahar Dara Stabilitätsfonds mit zusätzlichen 500.000 Euro von AA und BMZ geschaffen. Ein sehr wichtiges Zeichen war nach unserem Besuch die vom AA-Vertreter Hermann Nicolai überbrachte deutsche Spende von Koranbänden und Teppichen für 40 Moscheen in diesem Krisendistrikt.

In Takhar wurde eine wichtige Brücke von der Flut zerstört. Zzt. suche man noch nach Mitteln für den Wiederaufbau.

Im Rahmen des Provincial Development Fonds (PDF) werde aus ressortgemeinsamen Mitteln durch ein afghanisch-deutsches Entscheidungsgremium verschiedenste dringliche Kleinprojekte finanziert. Zzt. liegen Anträge über ca. 2 Mio. $ pro Provinz vor. Zur Verfügung stehen aber nur 800.000 Euro/Provinz. „Wir könnten viel mehr gebrauchen." Notwendig seien größere Projekte, so in der Infrastruktur. Aber dafür stehe nicht genug Geld zur Verfügung.

Ein langjähriger dt. EZ-Mitarbeiter in Kunduz kritisiert den vorherrschenden „Sensationsjournalismus". Man biete Projektbesuche an. Aber oft fehle bei Journalisten das Interesse.

Polizeiaufbau

Die Provinz Kunduz erstreckt sich über eine Fläche von 220 x 200 km (Rheinland-Pfalz plus Saarland) und besteht aus 6 Distrikten. Um in den gebirgigen Nordosten oder Südosten der Provinz zu kommen, braucht man 8 Stunden. Kunduz war bekannt als Kornkammer AFG`s. Von den 1,2 Mio. Einwohnern sind 350.000 Schülerinnen und Schüler. Fast alle Ethnien sind hier vertreten. In Kunduz ist der Paschtunenanteil 25-30%. Ende 2001 war Kunduz eine der letzten Taliban-Hochburgen. Hekmatjar stammt aus dieser Provinz.

Lt. General Rasaq, ANP-Chef in der Provinz, sei Kunduz für die Islamisten ein strategischer Angriffspunkt, zumal der  ISAF-Nachschub vermehrt über den Norden, also durch Kunduz laufe.

Ein großes Problem sei der Polizei-Stellenplan (Tashkil). Im vorigen Jahr wurden durch Beschluss der Zentralregierung 537 Stellen gestrichen! Für ein Gebiet mit 450.000 Einwohnern gebe es ganze 96 Polizisten, davon 33 Offiziere. (Ein EUPOL-Beamter: Es gebe Distrikte von 30x30 km praktisch ohne Polizei.) Posten mussten von 8 auf 4 Mann reduziert werden. Polizisten müssen tagsüber kontrollieren und nachts kämpfen. Kürzlich wurden an einem Checkpoint 4 Polizisten erschossen. Viele entlassene Polizisten seien übergelaufen und kämpften nun gegen die eigenen Kräfte.

Der Polizeigeneral bezeichnet die Arbeitslosigkeit und damit tausende frustrierter junger Männer als Hauptgefahr. Ein wichtiger Machtfaktor seien die Mullahs. Der Gegner versuche diese durch Unterstützungen zu beeinflussen. Er schließt mit den Worten: „Bitte unterstützen Sie unser PRT!"

Im Rahmen des Focused District Development wird in diesem Jahr die Polizei von 10 Distrikten ausgebildet, im nächsten Jahr weitere 20. Anschließend werden die Polizisten über mehrere Monate von je 4 Polizisten und Feldjägern in ihren Distrikten begleitet.

Für die 10 Mio. Einwohner des Norden stehen 12.000 Polizisten zur Verfügung (1:600).

Militärische und Sicherheitslage

Nord

Zum Regional Command North gehören zzt. 5.500 Soldaten und 5 PRT`s.

Das 209. ANA-Korps bestand bis Anfang 2009 aus einer Brigade mit 3.500 Soldaten. Jetzt wird die 2. Brigade aufgebaut, in 2010 die 3. Brigade.

Die Sicherheitslage im Norden ist insgesamt viel besser als die im Süden und Osten. Kritisch sind Kunduz und Ghormach im Nordwesten. Nach einer erfolgreichen ANA-Operation werde in Ghormach jetzt erstmalig der Comprehensive Approach umgesetzt.

Kunduz und Takhar

Auch im PRT Kunduz sind die Hesko-Mauern weiter angewachsen. Das PRT ist mit zzt. über 1.000 Soldaten (davon ca. 650 PRT-Angehörige des 19. Kontingents und über 200 QRF) weit über die alle Planungen hinaus belegt. Knapp 50 deutsche und 70 belgische Soldaten sind im Rahmen der OMLT`s für das Logistik- bzw. Infanterie-Bataillon der 2. Brigade eingesetzt.

Im Provincial Advisory Team (PAQT) Taloqan sind um die 40 Soldaten. Ihr Einsatzgebiet reicht im Umkreis bis eine Stunde Fahrzeit. Der Großteil der Provinz Takhar ist für ISAF deshalb unbekannt.

Sehr hilfreich ist die Drohne Luna als Träger der schnellen Aufklärung. Seit Januar erfolgten 210 Luna-Flüge zwischen zwei bis 6 Stunden. Die Aufklärungsdrohne KZO kommt ab Sommer zum Einsatz.

Nach ISAF-Kriterien ist die Bedrohungslage nirgendwo hoch. Kritisch sind aber die Distrikte Chahar Darrah und Aqtash, identifiziert sind Rückzugsräume von Aufständischen und Selbstmordattentätern.

Raketenangriffe gab es 2009 bisher 15, 12 davon Richtung PRT (3 Einschläge im PRT, geringer Sachschaden). Seit fünfeinhalb Wochen gab es keinen Raketenangriff mehr.

IED`s gab es bisher 28, davon 6 gegen ISAF, 4 gegen ANSF, 16 entdeckt, 2 beim Verlegen explodiert. Die letzte IED-Attacke erfolgte am 7.6. auf Little Pluto, der Hauptverbindungsstrecke nach Chahar Darrah. Die Angriffe erfolgen in der Regel kombiniert mit Handwaffenbeschuss.

Hinterhalte gab es bisher 33, davon 12 gegen ISAF, 19 gegen ANSF.

Darüber hinaus versuchen die regierungsfeindlichen Kräfte mit „nightletters" und Morden eine Einschüchterung „von unten": gegen ANSF-Angehörige, gegen lokale Mitarbeiter von Entwicklungsorganisationen. Manche Projekte wurden inzwischen eingestellt. In der Nacht vom 5. zum 6.6. wurde der FAO-Compound am Stadtrand mit Panzerfäusten und Handwaffen angegriffen, wobei zwei Wachmänner verletzt wurden. Auch wenn der Hintergrund noch unklar ist, wirkt dieser erstmalige Angriff auf eine zivile Organisation doch verunsichernd.

Die regierungsfeindlichen Kräfte sind weiterhin ein Gemenge aus verschiedenen Gruppierungen bis zu kriminellen Kräften. Keine Belege gibt es für die Präsenz ausländischer Kämpfer. Auch Ausweichbewegungen aus Pakistan oder dem Süden sind bisher nicht feststellbar.

Schulschließungen: Hier ist die Lage unübersichtlich. Die meisten erfolgten im „Paschtunengürtel", z.T. tage- oder wochenweise. Wo schon 9-12-jährige Mädchen als heiratsfähig gelten, trifft ihre Unterrichtung durch Lehrer immer wieder auf Ablehnung. Es fehle noch an Lehrerinnen.

Die Absicht des PRT-Kommandeurs ist, die Sicherheitslage im Großraum Kunduz

-       durch konsequente Unterstützung aller ANSF-Operationen

-       (...)

zu verbessern, um die sich verstärkenden Aufständischen-Aktivitäten zu stören und das Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen.

Neue Intensität des bewaffneten Konflikts: Seit dem 29. April 2009 haben die Aufständischen-Angriffe und Zusammenstöße eine neue Intensität erreicht. Vorher erfolgten Überfälle nach der hit-and-run-Taktik, zielten Anschläge auf die Vernichtung einzelner Fahrzeuge, Soldaten und Polizisten. Damals beschränkten sich deutsche ISAF-Soldaten darauf, bei Beschuss zurückzuschießen, den Gegner „unten zu halten" und sich von ihm zu lösen bzw. durchzubrechen. Jetzt zeigen die komplexen Angriffe regelrecht militärische Ausbildung und Führung und zielen mit Mehrfachfallen auf die Vernichtung ganzer Einheiten. Bis zu unserem Besuch ereignen sich sieben solcher Gefechte. Erstmalig in der Geschichte der Bundeswehr fällt ein Soldat im Kampf (29.4.), erstmalig werden etliche Gegner im Kampf getötet (7.5. mindestens zwei, 4.6. mindestens zehn), erstmalig erhält Bundeswehr in AFG Luftnahunterstützung nicht nur mit „show of force" im Tiefflug und Flairs, sondern mit Bordwaffen (15.6.). Am 19.7. werden erstmalig ein Mörser (3 Granaten) und der Schützenpanzer Marder eingesetzt.

Beispiel Gefecht am 4. Juni: Vom 3.5. bis 14.6. lief die Operation „Sahda Ehlm" in einem 30-km-Radius um Kunduz. Nordwestlich Kunduz liegen einige Ortschaften mit mutmaßlichen Aufständischen. Mit Checkpoints sollten ihre Bewegungen gestört werden. Gegen 16.30 Uhr wird ein Spähtrupp bei Aq Shakh beschossen. Der anrückende Verstärkungszug wird aus vorbereiteten Stellungen über mehr als einen km ca. eine halbe Stunde lang beschossen. Obwohl mehrere Aufständische getroffen wurden, greifen die Gegner weiter an. In einer Feuerpause beginnen ISAF- und ANA-Soldaten den Rückmarsch. An einer Kreuzung befinden sich viele Zivilpersonen, die angeblich von Aufständischen aus den Häusern getrieben worden seien (als Deckung für den Abtransport von Verwundeten). Danach kommt es zu einem dritten Hinterhalt. Die Soldaten werden von beiden Seiten mit Panzerfäusten in hoher Zahl beschossen, z.T. mehrere auf ein Fahrzeug. Bis zu vier A-10 der US-Airforce leisten mit Tiefflug und Flairs (Täuschkörper) Luftnahunterstützung. Wegen mangelnder Unterscheidbarkeit am Boden kommt es nicht zum Waffeneinsatz. Insgesamt ziehen sich Feuerwechsel und Gefechte mit Unterbrechungen über fünf Stunden hin. Auf der Seite der mehr als 80 Aufständischen werden mindestens 10 Tote gezählt, keine Verluste auf Seiten ISAF (ca. 120 Soldaten) und ANA. Einige Soldaten sind aber psychisch nicht mehr einsatzfähig.

Es heißt: Wäre die Verstärkung nicht rechtzeitig gekommen, hätten die ISAF-Soldaten mit ihrer besseren Ausbildung und Bewaffnung nicht den Kampf aufgenommen - und auch einige Male schlicht Glück gehabt -, hätte es auf Seiten der Bundeswehr höchstwahrscheinlich Tote und Verwundete in hoher Zahl gegeben. Zugleich behielt man in dem relativ dicht besiedelten Gebiet die Umsicht, zivile Opfer strikt zu vermeiden.

Die Gruppen- und Zugführer, d.h. junge Männer in den Zwanzigern vom Hauptfeldwebel bis zum     Oberleutnant, tragen die Hauptverantwortung vor Ort.

In den Tagen danach machten die Soldaten ein Debriefing durch, erst im Rahmen ihrer Gruppe/Teil-einheit, dann mit dem Militärpsychologen.

Unter den Soldaten ist der Drang nach schweren Waffen, vor allem Hubschrauberunterstützung unüberhörbar. Zu spüren ist der soldatische Grundmechanismus von Kriegen „entweder wir oder die" und der kameradschaftliche Zusammenhalt als elementarer Antrieb.

Eigene Tote, Verwundete, Traumatisierte haben Bundeswehrsoldaten inzwischen schon etliche Male erlebt. Jetzt haben sie das getan, wofür sie militärisch ausgebildet sind, was sie bisher nie tun mussten - töten. Wie bewältigen sie das? Wie werden Staatsbürger in Uniform damit fertig - mit dem sich einbrennenden Film eines solchen Überlebenskampfes? Wie bewährt sich jetzt Innere Führung, die Bindung der Bundeswehr an die Werte des Grundgesetzes?

Ein Journalist, der schon einige Tage hier ist, beobachtet bei den Soldaten eine besondere Ernsthaftigkeit. Ein AFG-erfahrener dt. Diplomat in Kabul lobt die „entschlossene Besonnenheit" der Bundeswehrsoldaten.

Danach

Zwei Tage nach unserem Wegflug aus Kunduz am 15.6. mehrstündiges Gefecht: ca. 15 km  nordwestlich Kunduz, Beschuss einer ANA Kompanie mit belg. OMLT mit Handwaffen und RPG; die zur Hilfe gerufene QRF befreit die afghanischen und belgischen Soldaten  aus der Umzingelung,  Bei der  angeforderten US-Luftnahunterstützung kommt es erstmalig zum Waffeneinsatz einer A-10 (Bordkanone und Rakete) im Nordosten.  An dem ca. sechsstündigen Gefecht  sind etwa 200 afghanische, dt. und belgische Soldaten beteiligt. 2 ANA Soldaten und mindestens 5 Angreifer wurden getötet.

Zehn Tage nach unserem Kunduz-Besuch werden in Chahar Dara 6 km südwestlich des PRT Kunduz Kräfte der Schutzkompanie mit Handfeuerwaffen und RPG angegriffen. Bei Ausweichmanöver stürzt ein „Fuchs" in einen Wassergraben und überschlägt sich. Drei Soldaten sind eingeklemmt und ertrinken in dem 2 m tiefen Wasser, vier weitere können trotz Beschuss gerettet werden. Mehrere A-10 Thunderbolt leisten Luftnahunterstützung mit show of force.

Am selben Tag werden drei Zivilhelfer des „Development and Humanitarian Services for Afghanistan" in Aqcha/Jowzjan (Nordwest) durch IED getötet.

Am nächsten Tag bricht in Deutschland wieder eine der üblichen „Blitzdebatten" aus - Stimmen, die  schwerere Waffen, die „Klartext" („Deutschland führt Krieg") fordern.

Wo Soldaten in Kunduz zu Recht ihre Kriegssituation ehrlich beim Namen genannt und nicht beschönigt haben wollen, da höre und spüre ich im heißen Berlin zugleich Kriegstrommler aus entgegen gesetzten Richtungen:

-       solche, die endlich wieder „kriegsfähig" sein wollen;

-       solche, die schlichtweg die taktische Ebene (Kleinkrieg in einzelnen Distrikten) und die strategische Ebene (Auftrag Stabilisierungsunterstützung) durcheinander bringen;

-       solche, die sich endlich bestätigt fühlen, nachdem sie seit Jahren den friedenssichernden ISAF- und Bundeswehreinsatz als Kriegseinsatz verkannt bzw. verzerrt haben.

Hohe Bundeswehroffiziere nennen diese Debatte absurd: Wo sich die neue US-Regierung gerade von der Ideologie des „Krieg gegen den Terror" verabschiede, drängen hierzulande viele jetzt in diese Richtung.

Eine solche - in erster Linie von Befürwortern des AFG-Einsatzes verantwortete - Debatte wirkt wie „friendly fire": weiterer Akzeptanzverlust in Deutschland, Verunsicherung für die Soldaten und ihre Angehörigen, Abschreckung für die freiwilligen Entwicklungshelfer und Polizeiausbilder, die so dringend und mehr benötigt werden.

Die Spitzen der Bundesregierung agieren bei alledem überwiegend reaktiv und geduckt, eher beschönigend, nie ressortgemeinsam, insgesamt ohne ehrliche Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit - halbherzig. Angesichts der gefährlichen Abwärtsdynamik in AFG und der Chancen des US-Strategie-wandels ist das grob fahrlässig. Gegenüber den Millionen Afghaninnen und Afghanen, die immer noch besonders auf Deutschland setzen, gegenüber den tausenden Soldaten und hunderten Aufbauhelfern, Polizisten und Diplomaten, die in AFG Bewundernswertes leisten, ist das unverantwortlich.

 

Jenseits der Wagenburgen -

Endlich voll die Chancen nutzen!

Bericht von meiner letzten Abgeordnetenreise nach

Kabul, Mazar-e Sharif und Feyzabad

Winfried Nachtwei, MdB (Oktober 2009)

(Vollbericht www.nachtwei.de/index.php/articles/930?theme=print )

Vom 15.-19.9.2009 besuchte ich erneut Afghanistan - knapp zwei Wochen nach dem Luftangriff von Kunduz, in den Tagen der Verkündigung des Ergebnisses der Präsidentschaftswahl und vor der Bundestagswahl. In diesem hochkritischen Umfeld wollte ich direkt und authentisch in Deutschland berichten können.

Dabei wollte ich zugleich mehr den Blick auf die Aufbaubemühungen lenken. Diese gelten wohl als ausschlaggebend für Erfolg oder Misserfolg in Afghanistan, werden de facto aber kaum wahrgenommen. Zu 95% kreist alle Berichterstattung und Wahrnehmung um Gewaltereignisse und Militärfragen. Diese Militär- und Gewaltfixiertheit praktizieren Gegner des AFG-Einsatzes nicht weniger als seine Befürworter. Mein Interesse galt also neben der realistischen Lageeerkundung der CHANCEN-SUCHE. Wer wirksam Frieden fördern will, muss Chancen und Hoffnungsträger identifizieren und unterstützen.

Nach der Hauptstadt waren Mazar-e Sharif (Provinz Balkh) im Norden und Feyzabad (Provinz Badakhshan) im Nordosten Stationen der Reise. Kunduz besuchte ich nicht, weil dort die Soldaten Wichtigeres zu tun haben, als einen Politikerbesuch zu organisieren. Umgekehrt war ein Besuch in Feyzabad überfällig, das bei Besuchen aus Deutschland wegen seiner schwierigen Erreichbarkeit meist links liegengelassen wird. (...)

Kunduz

(1) Rückblick: Seit 2004 besuchte ich fast zehnmal Kunduz. Bis zum vorigen Jahr waren die Fortschritte mit Händen zu greifen. Im Frühjahr 2007 hatte es etliche Monate ohne Zwischenfälle gegeben. Seit Verhaftung einer Terrorzelle war Ruhe. Das änderte sich schlagartig mit dem Selbstmordanschlag auf dem Markt von Kunduz am 19. Mai 2007, dem drei Bundeswehrsoldaten zum Opfer fielen. Auch wenn es damals eine breite Solidarisierung aus der Bevölkerung gab („Wir brauchen das PRT so nötig wie das Wasser zum Leben"), verschlechterte sich danach die Sicherheitslage, verstärkt seit Sommer/Herbst 2008, extrem seit April 2009. Seitdem gab es immer wieder Gefechte über mehrere Stunden, fiel am 29.4. erstmalig ein Bundeswehrsoldat im Kampf, töteten Bundeswehrsoldaten erstmalig in der Geschichte der Bundeswehr etliche Gegner im Kampf. Inzwischen ist die Rede von vielen hundert Aufständischen.

Als Ursachen für die krasse Rückwärtsentwicklung in Kunduz werden genannt eine schwache Provinzregierung seit Jahren; der über Jahre vernachlässigte Polizei- und Armeeaufbau (Streichung von über 500 Polizeistellen im Vorjahr, wodurch ganze Distrikte praktisch ohne Polizei waren); im Vergleich zu Bedarf und Erwartungen zurückbleibende Aufbaubemühungen; wachsende Enttäuschungen über Zentral- und Provinzregierung; in die Paschtunengebiete zurückströmende und wenig integrierte Flüchtlinge aus Pakistan (250.000 im ganzen Norden); die jüngere Vergangenheit von Teilen der Provinz als letzte Talibanhochburg 2001; aus Pakistan einsickernde Kämpfer; unzureichende Präsenz von ISAF/Bundeswehr in der Fläche und Initiativverlust im vorigen Jahr; Kunduz als strategischer Angriffspunkt der Taliban im Norden, seitdem die dritte  ISAF-Nachschubroute über Kunduz geht.

Dieses Mal besuche ich Kunduz nicht, weil die Soldaten dort anderes zu tun haben, als einen Politiker, der dann sowie so nicht aus dem PRT rauskommt, zu betreuen.

(2) Luftangriff bei Kunduz am 4.9.: Er war eine menschliche und auch politische Katastrophe. Er ging einher mit einem gravierenden politischen Versagen des Verteidigungsministers im Umgang mit diesem Ereignis.

In Deutschland wurde kaum wahrgenommen, dass die Bundeswehr am 3.9. im nördlich gelegenen Distrikt Archi in einem schweren Gefecht stand. Auf 4 km wurde die zur Unterstützung herangezogene Schutzkompanie des PRT Feyzabad immer wieder von 40-60 Aufständischen beschossen, es gab 4 Verwundete und 7 beschädigte Fahrzeuge, ein Dingo brannte aus. Die zur Hilfe gerufene ANA-Einheit kam nicht. Sie verblieb in der Polizeistation von Archi.

Alle Seiten hätten sich jetzt anders verhalten als sonst: Die Bundeswehr, die bisher Zivilopfer weitgehend vermieden habe, verantwortet jetzt erstmalig eine hohe Zahl an Zivilopfern. Die US-Seite, deren Luftwaffeneinsätze in den zurückliegenden Jahren immer wieder viele Zivilopfer gefordert hatte, reagierte jetzt so schnell und verurteilend wie nie zuvor. Auf afghanischer Seite schließlich soll es - so mehrere zivile Gesprächspartner - viel weniger Empörung und Entschädigungsforderungen geben als früher bei solchen Fällen. Von offizieller Seite in Kunduz, aber auch in Kabul habe es sogar viel Zustimmung gegeben. Zu vermuten ist, dass die Reaktionen in den paschtunischen Siedlungsgebieten entgegengesetzt waren.

Bundeswehrsoldaten wehren sich gegen Vorverurteilungen des PRT-Kommandeurs und kritisieren die harsche US-Kritik: „Die Amis predigen Wasser und trinken Wein!"

Bundeswehroffiziere distanzieren sich zugleich von einer auf afghanischer Seite verbreiteten Haltung, die gerne viel häufiger Luftnahunterstützung hätte und den Eindruck erweckt, als lasse sich das Taliban-Problem mit einigen weiteren Luftangriffen lösen. Ich erinnere mich an eine Szene bei unserem Juni-Besuch in Kunduz, als der Geheimdienstchef den deutschen PRT-Kommandeur frozelnd anmachte wegen seiner militärischen Zurückhaltung. Dieser nahm das ganz gelassen.

(3) Lageentwicklung in Kunduz: Beschuss, Hinterhalte und Anschläge gibt es fast täglich, manchmal mehrfach am Tag. 6 Gebiete im Süden, Osten und Norden der Provinz sind für Regierung und Sicherheitskräfte no-go-areas. Rundum Kunduz tauchen vermehrt illegale Checkpoints auf. Drohungen erhalten inzwischen sogar Krankenhäuser. Bundeswehr nahm das Rote Kreuz von Sanitätsfahrzeugen weg, weil diese bevorzugt angegriffen wurden. Älteste äußerten, sie hätten den Einfluss auf die Militanten verloren. (Unter ihnen sollen inzwischen etliche internationale Kämpfer, u.a. aus Usbekistan und Tschetschenien,  als Ausbilder sein.) Deutsche EZ kann aus Kunduz nicht mehr raus. Berichtet wird von der Waffenausgabe an Zivilisten und ehemalige Kommandeure, die sich selbst gegen Aufständische/Taliban wehren wollen. Dies wird von Kennern der Region interpretiert als Wetterleuchten einer Bürgerkriegsentwicklung für  den Fall, dass ISAF und afg. Sicherheitskräfte ihre Puffer- und Schutzfunktion immer weniger realisieren. Fazit: ISAF/Bundeswehr und afg. Sicherheitskräfte sind hier an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit. Wenn die Schutzkompanie des PRT Feyzabad zur Verstärkung nach Kunduz muss, dann gibt es hier offenbar keine Reserven mehr. Mit dem gegenwärtigen Ansatz ist im nächsten Jahr Schluss mit Kunduz!

 

(4) Dringender Vorschlag von General Vollmer (Regionalkommandeur Nord): Bisherige Operationen zur Rückgewinnung der Kontrolle über Gebiete mit Aufständischen-Einfluss/Dominanz wirkten wie ein Scheibenwischer. Die Militanten wurden rausgedrängt und kehrten nach Abzug von ISAF und afg. Sicherheitskräften wieder schnell zurück. Um Gebiete auch halten zu können, seien mehr Polizeikräfte unabdingbar. Zzt. hat die Provinz mit ihren 770.000 Einwohnern knapp 1.200 Polizisten. Das Soll liegt 200 Polizisten höher. Im Vorjahr hatte die Zentralregierung schon 537 Polizisten von Kunduz abgezogen, gegen den Protest des Provinzpolizeichefs. Ergebnis: Es gab Distrikte praktisch ohne Polizei.

Ausgehend von der Bevölkerungsdichte und Bedrohungslage berechnete ISAF einen Mehrbedarf von 2.500 Polizisten. Weil Kabul aber keine Aufstockung im  Norden finanzieren will bzw. kann, schlägt Vollmer vor, Deutschland solle für zwei Jahre die Polizeigehälter direkt zahlen - bei 140 $ pro Polizist und Monat wären das 9 Mio. $. Großbritannien habe das in Helmand mit 3.500 Polizisten gemacht. Die ruhigeren Wintermonate müssten für die Rekrutierung und Ausbildung genutzt werden. Ausreichend Ausbildungskapazitäten habe man dafür. JETZT müsse damit begonnen werden.

Zugleich fehle es an kurzfristig wirksamen Programmen für Arbeitsplätze.

In der Bundespressekonferenz wischten die Pressesprecher des AA, BMVg, BMI und BMZ mit lakonischen Bemerkungen zur Seite: Deutschland zahle schon in den LOFTA-Fond ein. Außerdem sei eine Polizeiaufstockung Sache der afghanischen Regierung.

Anmerkung: Es ist der Gipfel der Ignoranz, den Vollmer-Vorschlag so abzutun. Das umso mehr, als die Bundesregierung bis zur Stunde keinerlei Aussagen macht, wie die äußerst bedrohliche Entwicklung in der Provinz gestoppt und gedreht werden kann.

(Nach mehreren erfolglosen Fragen dazu im Verteidigungsausschuss an die Bundesregierung habe ich deshalb noch die Kleine Anfrage „Zur aktuellen Lage in AFG", Drs. 16/14057 eingebracht. Die am 5.10. eingetroffene Antwort weicht den Schlüsselfragen aus und offenbart erneut eine Realitätsverleugnung sondergleichen. Wer so in der jetzigen Situation auf Parlamentarierfragen antwortet, verwirkt jedes politische Vertrauen.)

Meine Vorträge „AFG: wie weiter?" beendete ich immer mit dem Foto von lachenden, lebhaften Jungs, die wir im Oktober 2006 an einem Hügel bei Ali Abad südlich Kunduz trafen, verbunden mit dem Appell, alles zu tun, dass nicht auch sie perspektivlos - und dann auch zornig werden.

Ali Abad ist die Gegend, wo es inzwischen dauernd zu Anschlägen und Feuerwechsel kommt, wo der Luftangriff mit mehr als 100 Toten geschah. Wer weiß, welche dieser Jungs heute noch leben, das Lachen verlernt haben, zornig geworden sind, geschossen haben?

 

Kommentar zur Lageentwicklung in der

Provinz Kunduz von Anfang 2010

(veröffentlicht unter „Kommentar zur Entwicklung in Kunduz, www.nachtwei.de/downloads/bericht/2010-4_sicherheitslage-afgh.pdf )

Die Provinz Kunduz ist  inzwischen für die regierungsfeindlichen Kräfte der strategische Angriffspunkt  im Norden: Hier war eine Hochburg der Talibanherrschaft, von hier stammt Heckmatjar, hier bilden die paschtunischen Siedlungsgebiete (35% der 770.000 Provinzbevölkerung) einen Resonanzboden. Mit der Zunahme des US-/ISAF-Nachschubs aus Norden Richtung Kabul bekam Kunduz strategische Bedeutung. Die Reduzierung der Polizeistellen in der Provinz um 537 (ein Drittel!) und der Abzug eines ANA-Bataillons  in 2008 durch die Zentralregierung schwächte die sowieso schon schwachen Sicherheitskräfte.  Es gab danach Distrikte praktisch ohne Polizeipräsenz! Zum großen Teil eingesickerte Militante führen einen Terrorkrieg gegen afghanische Sicherheitskräfte und ISAF.  Die Lage in der Provinz Kunduz war nie stabil, aber noch September 2006 bis März 2007 relativ ruhig. Die Wende kam mit zwei Selbstmordanschlägen am 16. April 2007 (10 getötete Polizisten) und 19. Mai (3 dt. Soldaten 7 afg. Zivilisten getötet). Die Bundeswehr wurde immer mehr auf den Selbstschutz zurückgeworfen, die Distanz zwischen ISAF/Bundeswehr und Bevölkerung wuchs, die Attacken häuften sich. Nachdem es zunächst vor allem Raketenbeschüsse, IED-Anschläge und hit-and-run-Attacken waren, erreichte der Konflikt vom 29. April 2009 an eine neue Intensität: Seitdem führten die Aufständischen mit größeren Einheiten komplexe Hinterhalte und Angriffe durch, die militärische Führung und Ausbildung verraten und auf die Vernichtung ganzer Einheiten zielten. Wo ein bloßes Zurückschießen, Durchbrechen und Zurückziehen ins PRT nicht mehr möglich war, nahmen jetzt die deutschen Soldaten den Kampf auf. Das bedeutete einen faktischen Taktikwechsel.

(vgl. die präzise Darstellung von Marco Seliger: Kunduz - was läuft falsch? In LOYAL 1/2010; Erfahrungsbericht von Hans-Christoph-Grohmann/Thorsten Kasper/Jan Hecht:: Der Einsatz der QRF 3 in AFG vom 14.4. bis 18.10.2009, in: Der Panzergrenadier 26/Dez. 2009; Marc Lindemann: Unter Beschuss - Warum Deutschland am Hindukusch scheitert, Berlin 2010; Achim Wohlgethan: Operation Kundus - Mein zweiter Einsatz in Afghanistan, Berlin 2009; Einzelbeiträge in Ute Susanne Werner (Hrsg.): „Ich krieg mich nicht mehr unter Kontrolle" - Kriegsheimkehrer der Bundeswehr, Köln 2010)

Erstmalig standen dabei deutsche ISAF-Soldaten während des AFG-Einsatzes über Stunden in Gefechten und töteten dabei allein am 4. Juni mehr als zehn Gegner. (7 Gefechte zwischen 29.4. und 12.6.)

Erstmalig in der Geschichte der Bundesrepublik fiel am 29.4. ein Bundeswehrsoldat im Kampf.

Erstmalig kam es am 15.6. 2009 im Einsatzgebiet der Bundeswehr zu einem scharfen Luft-Bodeneinsatz mit Bordkanone und Raketen.  (Bis dahin blieb es maximal bei show of force.)

Erstmalig wurden am 19.7. in Chahar Darreh von Schützenpanzern „Marder" (3) Mörsersprenggranaten verschossen.  (Noch im Juni 2009 mussten die Mörsergranaten vom Regionalkomandeur Nord freigegeben werden.)

Vor Ort in Kunduz herrschte im Juni 2009 die Einschätzung, dass die Bundeswehr nur dank der guten Ausbildung und angemessenen Operationsweise  ihrer jungen Soldaten einer Katastrophe mit vielen eigenen Toten entkommen ist.  Zugleich behielt man lange in dem relativ dicht besiedelten Umfeld die Umsicht, zivile Opfer strikt zu vermeiden.

Der Luftangriff vom 4. September gegen zwei entführte Tanklaster südlich Kunduz mit lt. COM-ISAF-Bericht bis zu 142 Toten, darunter vielen Zivilisten, war eine menschliche und politische Katastrophe - auch wenn er in nichtpaschtunischen Teilen der Provinzbevölkerung sogar Zustimmung fand. Rund um Kunduz ist inzwischen ständig mit illegalen Checkpoints zu rechnen, ist Aufbauarbeit zzt. nicht mehr möglich. Im Oktober hieß es,  5 der 7 Distrikte der Provinz seien unter dem Einfluss der Taliban, in Chahar Darreh gibt es eine Parallelverwaltung, -justiz etc. der Taliban. In der südlich anschließenden Provinz Baghlan sollen zwei Distrikte unter Taliban Kontrolle stehen. (Dies sind zusammen mit Ghormach im Nordwesten die acht von insgesamt 123 Distrikten im Norden, die als Kriegsgebiet gelten.)

Der Vorschlag des RC North Brigadegeneral Vollmer im September, 2.500 zusätzliche Polizisten auszubilden und für zwei Jahre von Seiten der Bundesrepublik zu besolden (bei 140 US-$/Kopf ca. 9 Mio. US-$ insgesamt), ähnliches hatte Kanada in Kandahar getan), wurde von der Bundesregierung abgelehnt.  Die frühere Hoffnungsprovinz Kunduz ist weggerutscht!

Mehrere Ursachen kommen hier zusammen: Die Taliban als wichtigste Aufständischengruppe setzten zunehmend ihren Angriffschwerpunkt im Norden auf die Region Kunduz, begünstigt durch den Rückstrom paschtunischer Flüchtlinge aus Pakistan und damit einher gehende Konflikte um Land etc.; schlechte Regierungsführung seitens des Gouverneurs und jahrelange Vernachlässigung des Polizei- und Armeeaufbaus; Ignoranz der Politik in Berlin gegenüber der Lageverschärfung in Kunduz, wo Bundeswehr wohl als Puffer zwischen alten Warlords wirkte, gegenüber  der anwachsenden Aufstandsbewegung aber immer mehr in die Defensive geriet und den Auftrag „sicheres Umfeld", gar Schutz der Zivilbevölkerung immer weniger umsetzen konnte. Das ZEIT-Dossier „Das Kundus-Syndrom" von Anita Blasberg und Stefan Willeke schildert diese verzweifelte Situation umfassend und eindringlich. (ZEIT 4.3.2010)

Verstärkt führen seit 2009 US-OEF-Spezialkräfte und ANSF in der Provinz eigenständige Operationen durch, über die Bundeswehr/ISAF anfangs nicht einmal informiert wurden. (vgl. die Geheimoperation von Imam Shahib im März 2009, als lt. glaubwürdigen Quellen 5 Mitarbeiter des Bürgermeisters regelrecht exekutiert worden sein sollen.) Offen ist bisher, ob solche Operationen zur Konflikteskalation in der Provinz beigetragen haben.

Der bisherige Höhepunkt war in der ersten Novemberwoche 2009 eine fünftägige Großoperation im Distrikt Chahar Darreh mit massivem Luftwaffeneinsatz , bei der über 130 Taliban getötet worden sein sollen. Inzwischen haben auch ehemalige Mujahedin-Kommandeure die Initiative übernommen haben.

Im Unterschied zu diesen kriegerischen Paralleloperationen blieb bei ISAF/Bundeswehr im Norden lange die Grundlinie, sich nicht in eine Gewalteskalation hineinziehen zu lassen, den Guerillakrieg wohl mit militärischer Gewalt, aber nicht generell mit Krieg zu beantworten.

Auch wenn das Regional Command North unter deutscher Führung bleibt, ist mit dem massiven US-Aufwuchs (allein 40 Hubschrauber) eine Verschiebung von Gewichten und Einfluss bei ISAF absehbar. Auch wenn sich inzwischen die US-Streitkräfte dem Primat des Schutzes der Zivilbevölkerung verpflichtet haben, bleiben Dissense: Im Rahmen der Counterinsurgency-Strategie (COIN) von US-/ISAF werden in den Shape- und Clear-Phasen offensive Kampfeinsätze und Targeting-Operationen gegen Aufständische und vor allem ihre Führungspersonen praktiziert. Beim Partnering mit den ANSF sind die ISAF-Ausbildungs-Teams „draußen", mehr im Kampf und unter höherem Risiko. Wieweit kann, soll und darf Bundeswehr hier mitgehen?

Intime Afghanistan-Kenner wie Conrad Schetter bezweifeln grundsätzlich die Erfolgsaussichten einer COIN-Strategie, die bestimmte Gebiete in den Schritten shape, clear, hold, build stabilisieren will: Wo Gesellschaft in Netzwerken strukturiert sei, laufe eine territorial fixierte Strategie ins Leere.

Die öffentliche Diskussion in Deutschland wird durch mehrere Schräglagen beeinträchtigt: Statt einer Wahrnehmung der Gesamtlageentwicklung im Norden, in Afghanistan mit Pakistan herrscht ein Tunnelblick auf Bundeswehr in Kunduz; schon lange vor dem 4. September 2009 verweigerte die Bundesregierung jede Antwort auf wiederholten Fragen nach den Gründen des Abdriftens von Kunduz  und den notwendigen Schlussfolgerungen. Seit dem 4. September dominieren Fragen nach dem politischen Umgang (wer wusste wann was) mit dem Luftangriff, hierum kreist der Untersuchungsausschuss, nach dem 2. April 2010 dominierte wieder reflexhaft die Ausrüstungsfrage. Unübersehbar ist die zunehmende rhetorische Aufrüstung, die weit über den richtigen Anspruch von Klartext hinausschießt. Demgegenüber bleibt die Zentralfrage nach Lage und Wendenotwendigkeiten in Kunduz, wie ein offener Guerillakrieg eingedämmt werden kann, weitgehend ausgeklammert.

Seit längerem geraten bei der „Kriegs-Debatte" Lage und Auftrag, taktische Ebene (offener Guerillakrieg  in einem Teil der  Distrikte) und strategische Ebene (Stabilisierungsunterstützung)  ständig durcheinander.  Krass beschönigend war das Jung-Mantra vom Stabilisierungseinsatz. Umgekehrt vereinfacht  derjenige die sehr verschiedenen afghanischen Realitäten, der pauschal „den Krieg erklärt". Das wischt die Grunderkenntnis, dass mit Krieg die Konflikte in Afghanistan nicht zu lösen sind, beiseite, begünstigt eine Radikalisierung der Operationsführung und nimmt dem Afghanistaneinsatz  die letzte Legitimität und Perspektive. Wer kann es da noch verantworten und wagen, als Polizist, Entwicklungshelfer, Diplomat in ein solches Kriegsgebiet zu gehen?  Die Ironie ist: Während sich die USA vom unterschiedslosen und militärfixierten  „war on terror" wegbewegen, marschieren Kriegsrhetoriker hierzulande in diese Sackgasse hinein.  (Vgl. meine Stellungnahme „Krieg in Afghanistan - Bundeswehr im Krieg!?" 10/2008, aktualisiert 11/2009)