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Vor 20 Jahren: Rückkehr des Krieges nach Europa - Denkstöße zum Krieg in Bosnien-Herzegowina

Veröffentlicht von: Nachtwei am 8. Oktober 2012 09:24:21 +01:00 (20405 Aufrufe)

Als Aktiver der Friedensbewegung verfasste ich Ende 1992 die folgenden Denkstöße zum Krieg vor unserer Haustür und der dominierenden Passivität ihm gegenüber.

Vor 20 Jahren

Rückkehr des Krieges nach Europa: Was tun?

Denkstöße zum KRIEG IN BOSNIEN-HERZEGOWINA

Seit April 1992 belagern und beschießen serbische Kräfte Sarajevo, die Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina. Am 24. Dezember 1992 schrieb ich an die Mitglieder der Münsteraner Grünen die folgenden „Denkstöße". (Es waren die Monate und Jahre, in denen ich in Münster einen Prozess gegen einen mutmaßlichen NS-Kriegsverbrecher beobachtete und begleitete und viele Vorträge zum Judenmord in Lettland („Rigaer Blutsonntag", „Reichsjudenghetto") hielt.)

„Schrecken, Mitleid, Kopfschütteln, Gewöhnung, Ratlosigkeit, Durcheinander, Hilflosigkeit - wer schwankt nicht zwischen diesen Reaktionen angesichts der täglichen Kriegsberichte aus Bosnien-Herzegowina!

Doch "unsere" Schwierigkeiten mit diesem Krieg entlassen uns nicht aus der menschlichen und politischen Verantwortung, gegen diesen Krieg, gegen den laufenden Völkermord aktiv zu werden. Seit 18 Monaten geht schon das Gemetzel - und weiterhin sind es nur kleine Gruppen, die wirklich gegen den Krieg arbeiten, humanitäre Hilfe organisieren, Flüchtlingen helfen, Friedensgruppen - in Bosnien, Kroatien, Serbien unterstützen. In Münster ist es die "Initiative gegen den Krieg in Bosnien-Herzegowina"(vormals Kroatien), die unermütlich mit wenigen Leuten (darunter einigen Aktiven aus der früheren Friedensbewegung) arbeitet. Die große Mehrheit derjenigen, die sich als friedensbewegt, alternativ oder links verstehen, hielt sich raus. Die spärliche Teilnahme an Veranstaltungen (zuletzt bei unserem Workshop "Friedensbewegung auf dem Kriegspfad?" mit Andreas Zumach und Rainer Mutz), Demos, wöchentlicher Mahnwache vorm Rathaus zeigt das überdeutlich. Die akute Lage in Bosnien und intensive Diskussionen brachten vor kurzem eine Reihe von "alten" Friedensbewegten dazu, in einer öffentlichen Erklärung für die militärische Absicherung humanitärer Aktionen einzutreten. Andere Friedensbewegte, darunter die DFG-VK, widersprechen dieser Position vehement.

GAL/GRÜNE, gewachsen, nicht zuletzt aus der Friedensbewegung, können dieser Auseinandersetzung nicht länger ausweichen. BESSER STREIT, ALS WEITER DIESE TOTENSTILLE! Zugleich sind wir begründeter Hoffnung, dass diese Auseinandersetzung nicht als ideologischer Grabenkrieg der alten Art, sondern scharf sachlich verläuft.

Mit den folgenden DENKSTÖSSEN habe ich versucht, vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen (zwischen Antimilitarismus und Erinnerungsarbeit) im andauernden politischen und moralischen Durcheinander Klarheit zu gewinnen. Es sind Positionen in Entwicklung, nicht aus Beton.

Wer bis zum Ende schweigt, wird mitschuldig: Farbe bekennen!

Es gibt sehr viel Hilfsbereitschaft in der Gesellschaft gegenüber den Kriegsopfern. Doch Friedensgruppen, friedensbewegte Menschen und Organisationen sind über die humanitäre Hilfe hinaus zur politischen Stellungnahme verpflichtet, zur politischen Einmischung für Menschenrechte.

Ernüchternde Rückblicke

Kriegszeiten sind immer Hoch-Zeiten von Desinformation und Feindbildpropaganda; nackte Interessen und Unfähigkeit zur friedlichen Konfliktlösung werden regelmäßig zum Engagement für hehre Werte umgeschminkt: zur "Notwehr gegen Aggression", zum "Kampf für Menschen- und Völkerrecht". Die Beispiele effektiver Kriegspropaganda sind Legion: Juli 1914, Sommer 1939; 1964 Tongking-Zwischenfall, Sommer 1990 Kuwait (auf beiden Seiten). Da ist der Reflex, keiner Seite mehr zu glauben, nicht der unklügste.

Zugleich gab und gibt es immer wieder Fälle realer Aggressionen und massenmörderischer Politik - die seitens Nazi-Deutschlands ab Mitte der 30er Jahre ist heute die bekannteste und unstrittigste. Damals keineswegs! Lange wurden Berichte über Judenverfolgung und -Vernichtung nicht zur Kenntnis genommen oder abgetan als "jüdische Greuelpropaganda".

Immer wieder hatten andere dem Ausbruch der Aggressionen Vorschub geleistet: durch Waffenexporte, durch Negieren von Menschenrechtsverletzungen, durch falsche Zugeständnisse, durch bornierte nationale Machtpolitik. "Hervorragende" Beispiele hierfür die Behandlung des Irak vor Sommer 1990, die Appeasement-Politik der 30er Jahre.

Immer wieder wurde von der "internationalen Staatengemeinschaft" Völkermorde ignoriert, wurden die Verfolgten und Opfer kalt im Stich gelassen: Die Armenier in der Türkei, die Juden, viele andere. Mir ist nicht bekannt, welchen Beitrag pazifistische Gruppen zur Befreiung vom Faschismus geleistet haben, ob die damaligen Kriegsanstrengungen der USA z.B. als imperialistisch abgelehnt, ob vielleicht gar "Feindbildabbau" gegenüber Nazi-Deutschland gefordert wurde.

Eine einheitliche Haltung gegenüber politischer Gewalt und Menschenrechten hat es in den Antikriegs- und Friedensbewegungen nie gegeben, auch nicht in den 13, 14 Jahren der neueren deutschen Friedensbewegung: Für die allermeisten Friedensbewegten war der bewaffnete Widerstand gegen die Nazi-Aggression selbstverständlich legitim gewesen; für viele auch die antiimperialistischen Befreiungskämpfe in Indochina, im Südlichen Afrika, in Mittelamerika ("Waffen für El Salvador"). Zugleich gab es sehr viel Wegsehen, ja Arrangement gegenüber der Gewalttätigkeit des real existierenden .Sozialismus. Die jüngere Friedensbewegung war überwiegend eine Antiraketenbewegung aus der Haltung eines "Atompazifismus" heraus. Selbstverständlich galten beim Ostermarsch mitlaufende Soldaten, das "Darmstädter Signal" als Teile der Friedensbewegung.

Ein prinzipieller Pazifismus war am breitesten auf der Ebene der individuellen KDV-Anträge vertreten, erheblich weniger auf der politischen Ebene. Gruppen, die - oft mit religiösem Hintergrund - sich für Gewaltlosigkeit stark machten, sie „weiter zu entwickeln versuchten (z.B. im Rahmen der Sozialen Verteidigung), wurden oft belächelt.

Die systematische Entwicklung gewaltloser bzw. nichtmilitärischer Methoden der Konfliktbearbeitung (über Forderungen zum Feindbildabbau und gegen Rüstungsexporte hinaus) blieb weitgehend ein weißer Fleck; die Fragen von Notwehrrecht und Gewaltmonopol, gar von 1938/39, wurden nie systematisch angegangen.

Beim aktuellen Streit geht es also nicht um "Verrat an der Friedensbewegung" oder ein "Scheitern des Pazifismus", sondern um Klärung lange verdrängter Widersprüche.

Lage + Perspektiven in Bosnien, Kosovo, Makedonien ... in Europa

Kriegsverbrechen werden von allen Seiten begangen; auf kroatischer Seite kämpfen offen faschistische Kräfte mit. Nichtsdestoweniger ist Serbien der Hauptaggressor, der eine völkermörderische Strategie "ethnischer Säuberungen" verfolgt - und Massenvergewaltigungen als ein Mittel dabei. Trotz aller Kriegspropaganda ist das inzwischen völlig offenkundig.

Die serbische Seite steht kurz vor Erreichung ihrer Eroberungsziele. Am 1.Weihnachtstag sollen deshalb die Kampfhandlungen "einseitig eingestellt" werden.

Die Lage der Menschen heute und in den nächsten Wochen ist absolut verzweifelt: Nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissariats werden mindestens 500.000 Menschen den Winter in Bosnien-Herzegowina nicht überleben, wenn keine wirksame Hilfe kommt. Die KZ's und Vergewaltigungslager existieren weiter.

Ausweitungen, Eskalationen: Die Pulverfässer stehen, die Lunten brennen Richtung Kosovo, Makedonien, andere Nachbarregionen. Islamischen Staaten drohen, sich für die verfolgten bosnischen Muslime militärisch einzusetzen, (der Graben zwischen westlicher und islamischer Welt wächst, die wechselseitigen Feindbilder wachsen noch schneller)

Der "Erfolg" der bisherigen "ethnischen Säuberungen" ist eine Ermutigung für die vielen anderen durchgeknallten Nationalisten in Osteuropa, in der GUS: Nachahmungstäter in Hülle und Fülle.

Auswirkungen auf Mittel- und Westeuropa: Wem ist eigentlich bewusst, dass der Krieg in Ex-Jugoslawien der tiefste Einschnitt in der europäischen Geschichte seit dem 2. Weltkrieg ist? Der von den schlimmsten Kriegsorgien erschütterte Kontinent schien doch in den letzten Jahrzehnten klüger geworden zu sein, eine Insel relativer Stabilität in einer konfliktzerrissenen Welt (wenn auch auf Kosten dieser Welt lebend).

Das Verhalten staatlicher und gesellschaftlicher Akteure:

Lange herrschte auf allen Ebenen schlichtweg Ignoranz. Mir war der Konflikt als "Rückfall" zunächst einfach "zu dumm" - eine verbreitete .dumme Abwehrreaktion. Unterschiedliche bis gegensätzliche Einschätzungen und Interessen, halbherzige Reaktionen - bei humanitären Aktionen wie bei politischen Lösungsversuchen. Geradezu beispielhaft, wie hier nicht rechtzeitig und nicht geschlossen einer Aggression entgegengetreten wurde, wie hier nichtmilitärische Mittel ganz und gar nicht ausgeschöpft wurden.

Ein Exempel, wie schnell man bei der "ultima ratio" landet, wenn vorher die ratio klemmt! Soldaten sollen das Versagen der Politik "ausbügeln", "Prügelknaben" in doppelter Hinsicht.

Das Versagen der "Staatengemeinschaft" wurde von vielen (Ex-)Friedensbewegten aktiv mitgetragen: durch Ignoranz, Relativierung der serbischen Expansion, Ablehnung nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen, Ablehnung von Blauhelmeinsätzen, z.T. auch Diffamierung von in der Antikriegsarbeit Aktiven ...

Was tun, wo "das Kind in den Brunnen gefallen ist", wo "das Haus brennt"?

Das Versagen der letzten Monate und Jahre zu analysieren und anzuprangern, ist richtig, ist    unerlässlich im Hinblick auf künftige Friedenspolitik. Es bringt aber nichts für die Menschen hier und heute.

- Retten, helfen, wiederaufbauen, Konfliktausweitung verhindern, Voraussetzungen für politische Lösungen schaffen: Welche Sofortmaßnahmen, mittel- und längerfristig wirkenden. Maßnahmen .sind nötig? Wie lassen sich kontraproduktive Wirkungen verhindern?

- Humanitäre Hilfen, Flüchtlingshilfen, Hilfen für vergewaltigte Frauen, Unterstützung von Friedensgruppen, Gewaltfreie Interventionen (wie die 500 in Sarajewo)

- Konsequentes Embargo: z.Zt. trifft das Waffenembargo vor allem Bosnien; wann wirken Versuche, den Krieg "auszutrocknen"?

- Kriegsverbrechererfassung und -prozess

- Soforthilfe in die umkämpften Gebiete: Ist sie ohne militärische Absicherung aussichtslos?

- Bestehen Chancen, solche Kriege zu "ersticken"? Oder erlöschen sie nur durch den Sieg der einen oder Erschöpfung beider Seiten? Gibt es also - wie manche Kommentatoren meinen - gar keine realistische Möglichkeit, das Feuer des Krieges von außen einzudämmen? Ende der Politik?

- Schließlich Stufen militärischer Einsätze: militärisch passive Blauhelmen; Durchsetzung des Flugverbots; militärischer Schutz humanitärer Aktionen (mit begrenztem Kampfauftrag), Schutzkorridore und -zonen; UNO-Protektorat; offensive Bekämpfung der Aggressoren ("begrenzt", punktuell; allgemein; "nur" aus der Luft oder auch mit Bodentruppen)

Kriterien eines Militäreinsatzes als "ultima ratio" wären: Schwere des Verbrechens, der Bedrohung (Verhältnismäßigkeit); Versagen aller nichtmilitärischen Mittel; Erfolgschancen in Relation zu Eskalationsgefahren; politische Konsequenzen über die Konfliktregion hinaus (Renaissance des Krieges als Mittel der Politik: gefördert eher durch den ungebremsten Krieg in Bosnien oder eher durch eine militärische Intervention - z.B. von NATO-Staaten im UNO-Auftrag?)

- Vergleich mit Golfkrise und -krieg nach o.a. Kriterien: Dort ging es um nationale Integrität und Öl, jetzt "nur um Menschen"?

 

Stimmendurcheinander

Die NATO-Militärs warnten noch am 17.12. eindringlich vor einer Militärintervention in Bosnien, "es sei denn, der Auftrag laute uneingeschränkt, mit massiven Bodenstreitkräften den serbischen Aggressor zurückzuschlagen; ein geringeres Engagement würde in einen endlosen Guerilla-Krieg einmünden. Luftangriffe wiederum könnten zu unerträglich vielen Opfern unter der Zivilbevölkerung führen. Außerdem müssten dann zuvor die UNO-Versorgungstruppen zurückgezogen werden, da sie sonst als Geiseln genommen werden könnten." (SZ 18.12.92)

Personen und Gruppen, die sich seit langem konsequent, praktisch und glaubwürdig für die Rettung bedrohter Menschen und Völker einsetzen, sowie die allermeisten Friedensgruppen im Kriegsgebiet fordern militärisches Eingreifen, ebenso der Lutherische und der Reformierte Weltbund.

Unausweichliches Dilemma? Kein "sauberer" Ausweg in Sicht?

Wer jetzt Militäreinsatz als letztes Mittel zur Absicherung von Schutzzonen, zur Befreiung von Lagern befürwortet, befürwortet zugleich, dass Soldaten töten und sterben, riskiert eine Eskalation des Krieges in Bosnien, riskiert darüber hinaus eine Aufwertung des Militärs, der Bundeswehr auf ihrem Weg zu einer weltweit agierenden Interventionsstreitmacht für die Interessen der westlichen Industriestaaten, riskiert die zunehmende Militarisierung der Außenpolitik. Ein Votum, das einerseits der überwiegenden Meinung der Friedensgruppen in Ex-Jugoslawien folgt, andererseits auch gut ins Kalkül der Bundesregierung passt, die skrupellos die Kriegskatastrophen in Bosnien und Somalia für ihre eigene Politik instrumentalisiert. Wer das tut, riskiert die eigene friedensbewegte Identität (incl. KDV-Argumentation), riskiert, als "Bellizist" etc. abgestempelt und "ausgeschlossen" zu werden.

Die Eintreffwahrscheinlichkeit dieser Risiken ist keineswegs hundertprozentig und immer noch beeinflussbar.

Wer jetzt wegen dieser Risiken einen Militäreinsatz kategorisch ablehnt, nimmt den Fortgang des Völkermordes und der Vergewaltigungsstrategie in Bosnien, die Militarisierung der Politik "von unten" und die anderen Risiken (s. 3.) in Kauf. Die Eintreffwahrscheinlichkeit dieser Risiken ist hundertprozentig.

Wer das tut, kann eher traditionelle friedensbewegte Identität und Kontinuität wahren (vgl. die Tabus Afghanistan, Polen Anfang 80er Jahre - "Sekundärwert" Menschenrechte), riskiert aber auch, den eigenen absolut gesetzten Prinzipien Menschen zu opfern und als "zynisch" angegriffen zu werden.

Wer Militäreinsätze "nur" wegen der Eskalationsgefahren ablehnt, hat damit zugleich die Legitimität eines Militäreinsatzes anerkannt. Wer die "sofortige Einrichtung von international gesicherten Schutzzonen für Frauen und Kinder" fordert (Aufruf verschiedener Frauenorganisationen und der Grünen Bundespartei), votiert unausgesprochen für einen Militäreinsatz; denn anders sind Schutzzonen nicht zu realisieren.

Auch verstärkte humanitäre Hilfe, Unterstützung für Friedensgruppen erlöst nicht aus diesem Dilemma: "Nie wieder Auschwitz" und "Nie wieder Krieg" stehen nun gegeneinander.

Wer nicht wählt, hat längst gewählt - nämlich das sich mit Macht durchsetzende größere Übel! Und auch wenn in Bosnien schon alles "zu spät" sein sollte: Die Entscheidung für oder gegen den Einsatz militärischer Gewalt - beginnend mit Blauhelmen - stellt sich sofort an anderen Stellen wieder. Vor den Fragen WAS IST NÖTIG? WAS IST MÖGLICH? WEM NUTZT ES? gibt es kein Entweichen. Doch am allerwichtigsten ist: WAS TUN! Denn Stunde für Stunde wird weiter krepiert, vergewaltigt, "gesäubert"."