Ein weiterer Blick zurück auf den Bosnieneinsatz: Der erste Kanzlerbesuch in Bosnien am Tag vor Heiligabend 1997 in Sarajevo. Mein Kurzbericht hier erstmalig veröffentlicht.
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Reisebericht
Kurzvisite von Bundeskanzler Kohl am
23. Dezember 1997 in Sarajevo
Winni Nachtwei
(Hinweis: Bericht über die von mir initiierte Studienreise „Friedensarbeit auf dem Balkan" im Frühjahr 2002 unter www.nachtwei.de/druck/druck Friedensarbeit auf dem Balkan.htm )
Mit Minister Rühe, den MdB Duve (SPD), Irmer (FDP), Jawurek (CSU) Nachtwei (Bündnisgrüne), Schlee (CDU), Schwarz-Schilling (CDU) und Doris Pack (MdEP), Bärbel Bohley, General Bagger, 39 MedienvertreterInnen.
Der erste (!) Besuch des Kanzlers in Bosnien und bei der Bundeswehr im Auslandseinsatz überhaupt
dauert ganze acht Stunden netto!
(1) Programmpunkte
- Besuch des Deutschen Kontingents SFOR im Feldlager Rajlovac bei Sarajewo, wo ca. 2.000
Deutsche, 550 französische, 150 italienische und 34 albanische Soldaten stationiert sind (Briefing,
Besichtigung des Feldlazaretts und der „Stationen" Patrouille und Heeresflieger, Erbseneintopfessen)
- Gespräch des Kanzlers mit Präsident Izetbegovic und den anderen Präsidiumsmitgliedern (Kleinst-
Kreis, mit den vier religiösen Oberhäuptern und dem Hohen Repräsentanten Westendorp (incl.
Abgeordnete) im Landesmuseum.
- Treffen mit NGO´s (nur ich).
Besuchszwecke:
Der Besuch ist in allererster Linie eine Demonstration:
Der joviale Kanzler „zum Anfassen" bzw. zum extensiven Fotografieren mit den SoldatInnen,
Lob der Leistungen der „Armee unserer Söhne" für die deutsche Öffentlichkeit,
Stärke und Leistungsschau der BW (und Rühes) Richtung Kanzler,
Solidaritätsbekundung für „Freund Volker Rühe",
politische Aussagen Richtung bosnische Politik.
Der Besuch dient am wenigsten der Information des Kanzlers, der selbst einen wenig vorinformierten Eindruck macht:
Vermittelt werden Gesamteindrücke (Zerstörungen, BW-Leistungen militärischer und zunehmend
ziviler Art, schwerfällige EU), die verschiedenen „Detail"-Teufel (beginnend bei der katastrophalen
Minenlage - vgl. Bericht des BMVg vom 5.12.97 - über Konflikte bei der Flüchtlingsrückkehr bis
Zum Wegzug der letzten Serben aus Sarajevo) werden lieber nicht erwähnt. Völlig im Schatten der strahlenden BW-Sonne bleiben die Leistungen der vielen - meist freiwilligen - zivilen Kräfte von
Polizeibeamten über humanitäre Helfer bis zu Friedensfachkräften.
(2) Kernaussagen Kohls, in Gesprächen und ggb. der Presse mehrfach wiederholt:
- ´Weiterbauen am europäischen Haus, damit nie mehr die Enkel in den Krieg ziehen müssen!
Allerdings muß jedes Volk selbst seine Wohnung beziehen - und sich dabei selbstverständlich an die
demokratischen Hausregeln halten.´ (Diese Grundbotschaft bringt er besonders eindringlich und
glaubwürdig über)
- Zur SFOR-Verlängerung: „Wir werden so lange hier bleiben wie nötig. Es wäre töricht, das
begonnene Friedenswerk abzubrechen."
- Flüchtlinge: ´Es ist viel sinnvoller, hier Geld für die rückkehrenden Flüchtlinge auszugeben als in
Deutschland. Aber sie werden nur zurückkehren, wenn sie an Frieden in Freiheit glauben können.´
Durch deutliches Nicken bestätigt Kohl die Feststellung des Kardinal Puljic, es sei feste Auffassung
der Katholischen Kirche, dass die Flüchtlinge in ihre Häuser zurückkehren können müssen.
- Rechtsradikale Vorfälle in der BW: ´Wir dulden auf keinen Fall, dass Verrückte, Idioten und Ideologen in der BW Fuß fassen. Solche gibt´s wohl in der ganzen Gesellschaft. Sie gehören aber am
Allerwenigsten in die BW. Geduldet werden können aber auch nicht Verallgemeinerungen durch
Teile der Presse. Mein Freund Volker Rühe tut das richtige, wenn er durchgreift.
(Gegenüber der Presse tritt K. eher unwirsch auf, ansonsten signalisiert er Bodenständigkeit  mit
Humorigen Einsprengseln, Familiensinn und Zugewandtheit. Mit Fragen wie „was kann ich konkret tun?" überfordert er aber manche Gesprächspartner.)
(3) Das 4. Kontingent der Bundeswehr ist in den letzten vier Wochen angekommen und bleibt bis zum Frühjahr. Über 40% der Soldaten kommen aus in Ostdeutschland stationierten Verbänden. Aus meiner Region sind Heeresflieger aus Rheine und Sanitätssoldaten aus Hamm hier, mit einigen spreche ich über ihre bisherigen Erfahrungen. Dem neuen „Nationalen Befehlshaber im Einsatzland", General Sammet, übergebe ich als Neujahrspräsent für den „langen Marsch zum Frieden"
„Friedenssocken" aus meiner Heimatstadt Münster, wo 1998 350 Jahre Westfälischer Frieden begangen wird. Im Hinblick auf die rechtsradikalen Vorfälle in der Bundeswehr und eine Verklärung
der Wehrmacht im Alltag der Traditionspflege stelle ich klar, dass sich der SFOR-Einsatz der Bundes
wehr um 180 Grad vom Einsatz der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg unterscheide, dass es keine Kontinuität zwischen BW und Wehrmacht geben könne.
(4) Nichtregierungsorganisationen: Auf eigene Initiative treffe ich mit Vertretern von „Versöhungs-NGO´s" und Absolventen des NRW-Ausbildungsprojektes „Zivile Konfliktbearbeitung" im nüchternen Büro von „Wings of Hope" in der Dervisha Numica 1 a, ca. 5 Fahrminuten vom Landesmuseum, zusammen (auf dem Weg dorthin an jeder größeren Straßenkreuzung deutsche Schützenpanzer, dazwischen auch gefechtsmäßige Fußpatroullien):
Christiane Kellner und Prof. Filip Semie von „Wings of Hope" (Arbeit mit kriegstraumatisierten
Kindern und Jugendlichen, dt. Partner „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste", vgl. Prospekt),
Michael Schmitt von „Schüler Helfen Leben" (mit der materiellen und personellen Unterstützung
Aus Deutschland erstellen ca. 30 bosnische Jugendliche die Zeitschrift „nepitani", „Die Nichtgefragten"; an Jugendcamps nahmen bisher hundert Jugendliche teil; Kontakte bestehen inzwischen auch in kleinere Orte),
Nenad Vukosavljevic vom internationalen Multikulturellen und Interreligiösen Zentrum Sarajewo/IMIC (Absolvent des NRW-Ausbildungsprojektes, dt. Partner „KURVE Wustrow"): Mit seinem „Center for Education and Networking in Nonviolent Action" (vgl. Prospekt) arbeitet er an der Vernetzung gewaltfreier Gruppen. Um die Jahreswende findet im Rahmen des Wintercamps von „Schüler Helfen Leben" in Ungarn ein erstes Training in gewaltfreier Aktion statt, DasNenad zusammen mit Marija Saric durchführen wird. (Marija von „Wings...", ebenfalls NRW-Ausbildungs-projekt, treffe ich wg. Stau nur noch zum Abschied). In seiner Trainings- und vor allem Vernetzungs-arbeit wird Nenad durch Unsicherheiten seines staatsbürgerlichen Status erheblich eingeschränkt. Hierbei braucht er dringend unsere Unterstützung! (Martina Fischer kennt seine Situation am genauesten).
(5) Allgemeine Gesprächsthemen:
- Während der Bundesbeauftragte für Flüchtlingsrückführung Schlee beim Briefing die Zusammenar-beit mit den NGO´s als problemlos bezeichnet (auf der BW-Folie zur zivil-militärischen Zusammen-arbeit stehen die Logos von ASB, DRK, GTZ, THW, Pax Christi etc. und Bundeswehr ganz
bescheiden-gleichberechtigt nebeneinander), sehen Christiane, Nenad und Michael das erheblich anders. Beim letzten NGO-Treffen in der Botschaft hatte man eher den Eindruck, als würden die Lageeinschätzungen der NGO´s kaum interessieren. Die BW übernehme zunehmend Aufgaben, die NGO´s und Hilfsorganisationen eigentlich besser leisten könnten. Die BW habe offenbar einen Über-fluß an Ressourcen, bei den NGO´s sei es umgekehrt. Gegenüber der Bundesregierung und dem Arbeitsstab Schlee habe man den Verdacht, dass diese trotz aller Informationen doch nur eine bestimmte Politik der Flüchtlingsrückführung durchsetzen wollen. Der „Plan", 1998 allein 150.000 serbische Flüchtlinge in Sarajewo anzusiedeln, sei völlig unrealistisch.
- Die MitarbeiterInnen der einheimischen NGO´s seien recht jung, vielleicht passe man sich sehr den Anforderungen der ausländischen Geldgeber an. Die eigenständige Basis der NGO-Arbeit sei noch relativ schwach. In NGO´s seien vor allem Minderheiten aktiv. Wichtig sei aber, vor allem auch die Mehrheiten anzusprechen.
Das Gespräch ist offen, selbstverständlich, herzlich. Dass es nur etwas mehr als eine Stunde dauern kann, ist nicht so schlimm. Hauptsache ist, dass wenigstens ein Abgeordneter der Bündnisgrünen die Ignoranz des auf Militär und „hohe Politik" fixierten Kanzlerbesuches ein wenig durchbricht und dass persönliche Kontakte aufgefrischt bzw. geknüpft wurden.
Als kleines Dankeszeichen hinterlasse ich münsteraner Friedenssocken und CD´s von U 2, Genesis.
(Der Bonner Korrespondent der „Stuttgarter Zeitung", dem ich anschließend von dem Besuch berichte, will sich im Neuen Jahr um das Thema kümmern.)
(6) Anmerkung: Angesichts der enormen Übermacht des Militärischen in Politik, Gesellschaft, Medien und Denken, angesichts des enormen Nachholbedarfs der Instrumente Ziviler Konfliktbearbeitung hinsichtlich Ausstattung, Qualifizierung, Koordination und Sichtbarmachung
ist der Notruf des Forums Ziviler Friedensdienst umso alarmierender. Hierzu folgt ein gesondertes Schreiben.
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Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: