ZEIT online: Herr Nachtwei, Sie waren gerade wieder in Afghanistan. Wie beurteilen Sie die Lage nach dem tödlichen Anschlag auf die Bundeswehr?

Winfried Nachtwei: Die Eindrücke sind sehr unterschiedlich. Im Norden, im Raum Kundus, ist sie insgesamt positiv, hoffnungsvoll. Man sieht, dass es vorwärts geht. Was man auch in den Gesprächen mit den Leuten auf der Straße merkt. Zugleich aber ist klar, dass es keine harmlose Gegend ist, auch wenn sie verglichen mit dem Süden viel ruhiger ist. Doch ist das immer noch sehr riskant. Es hat immer wieder Anschläge gegeben, bis hin zu diesem fürchterlichen Attentat, dem ein schwerer Anschlag auf eine Polizeistation in Kundus am 16. April mit neun Toten vorausging. In Kabul aber und im Süden der Provinz Herat zeigt sich, wie sehr die "Operation Enduring Freedom" (OEF) auf eigene Rechnung operiert, teilweise ohne Abstimmung mit der Isaf und auch immer wieder mit zivilen Opfern. Die OEF entwickelt sich zunehmend kontraproduktiv. Und wenn etwas danebengeht, muss die Internationale Gemeinschaft haften. Ausbaden müssen es alle. Das hat sich zu einem erheblichen politischen Problem ausgewachsen.

ZEIT online: Außenminister Steinmeier sagte, man müsse den Einsatz der Bundeswehr eventuell nachjustieren.

Nachtwei: Im nördlichen Verantwortungsbereich muss noch mehr in die Fläche gegangen werden. Die strategische Ausrichtung aber ist richtig. Zu justieren gäbe es vor allem einiges an den zivilen Beiträgen. Wir haben dort gute Einzelbeiträge von verschiedenen Ressorts und Organisationen. Doch zwischen den Ressorts in Deutschland besteht längst nicht die Zusammenarbeit, die notwendig wäre. Da müsste kräftig nachgebessert werden. Die Hilfe kommt nicht aus einer Hand, das ist ein Kernproblem. Das zweite Problem ist die polizeiliche Aufbauhilfe. Die Qualität ist in Ordnung, nur die Quantität stimmt nicht.

ZEIT online: Ist die Bundeswehr zum Ziel geworden?

Nachtwei: Die Bundeswehr ist ein Ziel. Das war sie auch im Raum Kundus im Norden schon seit 2004. Das Schwarz-Rot-Gold, das früher zumindest ein bisschen eine Lebensversicherung darstellte, hilft nun weitaus weniger.

ZEIT online: Könnten die Soldaten durch bessere Ausrüstung besser geschützt werden, oder ist das eine Illusion?

Nachtwei: Auftrag der Bundeswehr ist eine Unterstützungsmission. Dazu ist es notwendig, mit den Leuten zu sprechen. Das geht nicht durch die gepanzerte Scheibe des Dingo. Da muss man Gesicht zeigen. Natürlich muss man die Gefahren abwägen. Aber wer 99,9 Prozent Sicherheit will, der darf nicht mehr aus dem Camp gehen, beziehungsweise sollte Deutschland gar nicht erst verlassen.

ZEIT online: Sind die Toten letztlich Kosten, die eine Gesellschaft tragen muss, wenn sie sich zu einem solchen Einsatz entschließt?

Nachtwei: Das fällt einem schwer zu sagen, angesichts einer solchen Tragödie und angesichts der Angehörigen, die um ihre Männer trauern. Aber es ist vergleichbar mit anderen Sicherheitsaufgaben – zur Durchsetzung von grundlegenden Sicherheitsinteressen der Gemeinschaft müssen höhere Risiken in Kauf genommen werden. Zum Beispiel bei der Polizei oder der Feuerwehr. Umso mehr müssen sich jedoch die auftraggebenden Politiker bewusst sein, wohin sie die Menschen schicken.

ZEIT online: Wäre es eine adäquate Antwort der Gesellschaft, diese Opfer als Gefallene zu betrachten, sie entsprechend zu ehren, ihnen mit Orden und Denkmalen gesellschaftlichen Dank auszusprechen?

Nachtwei: Die Menschen, die dort umgekommen sind, sind im Rahmen des Friedensauftrages des Grundgesetzes umgekommen. Sie verdienen daher eine gesellschaftliche, eine politische, eine allgemeine Erinnerung. Es ist richtig, sich über einen Erinnerungsort Gedanken zu machen. Das Umfeld des Bundestages wäre dazu der geeignete Platz. Und man sollte ihn nicht nur Soldaten widmen, sondern auch Polizisten und zivilen Helfern.