Winfried Nachtwei, MdB, Bündnis 90/Die Grünen

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Besuch bei KFOR im Kosovo im Dezember 2002

Am 6./7.12.2002 besuchten die Obleute des Verteidigungsausschusses in Begleitung von Minister Struck das deutsche KFOR-Kontingent im Kosovo. Zum Auftakt fand ein Gespräch mit dem Kommandeur KFOR in Pristina, dem italienischen Generalleutnant Mini statt. In Prizren folgten Gespräche mit dem Kommandeur des dt. Kontingents, Brigadegeneral Skodowski, und seinen Kommandeuren, mit Soldaten aller Truppenteile und Dienstgrade, ein Rundgang durch das Feldlager Prizren und Besuch der Betreuungseinrichtungen, Begleitung einer Patrouille zu Fuß durch die Altstadt und Teilnahme an einer Patrouille mit Transportpanzer Fuchs nach Novake (Rüksiedlungsprojekt), Besuch des Logistikbataillons im Feldlager Airfield.

Gegenüber meinem letzten Besuch im Herbst 1999 ist das KFOR-Hauptquartier in „Film-City“ oberhalb von Pristina kaum wieder zu erkennen: ein regelrechtes kleines Städtchen mit massiven Gebäuden im Blockhausstil, Terrassen und Geschäften. Die Straßen- und Gebäudenamen spiegeln das europäische Kunterbunt von KFOR mit seinen insgesamt 37 beteiligten Nationen, davon 29 im HQ. Von den ca. 29.000 Soldaten stellen Frankreich 4.700, Italien 4.370, Deutschland 4.170 (Bundestagsmandat erlaubt bis 8.500), die USA 3.330, Großbritannien 1.500, Griechenland 1.300, Spanien 1.230, (..) Norwegen 860, Türkei 770, Polen 580, Tschechische Rep. 440, Ungarn 340 (…), Finnland und Schweden je ca. 750, Russland, 630, Marokko 570, Österreich 510, Ukraine 320, Rumänien 220, Schweiz 170 (…) Argentinien 50, Georgien und Aserbeidschan je 34, Litauen 30, Estland 24, Vereinigte Arabische Emirate 5 etc. Inzwischen soll die multinationale Verflechtung viel dichter und das KFOR-Gesamtkommando viel stärker sein als vor dem 11. September, als die damals fünf Sektoren kleine „Königreiche“ gewesen seien. Ein Beispiel des Grades an multinationaler Integration: die baltische Kompanie mit Soldaten aus Litauen, Estland und Lettland untersteht einem dänischen Bataillonskommandeur, dieser wiederum einem französischen Brigadekommandeur. Oder die

Der Gesamtumfang von KFOR kann wegen der insgesamt verbesserter Lage, des veränderten Einsatzprofils, durch Umstrukturierung und Flexibilisierung deutlich reduziert werden: von zzt. 29.000 auf 23.000 im April auf 15.-17.000 Ende 2003. Mit dem gegenwärtigen Wechsel vom 5. zum 6. Kontingent sinkt die deutsche Truppenstärke von 4.400 auf 3.650.

Die Multinationale Brigade (MNB) Südwest besteht seit dem 12.11. aus den bisher von IT geführten MNB West und der von D geführten Brigade Süd. Ihre Führung werden sich D und IT teilen. (Die Zusammenlegung der britisch geführten MNB Central und der französisch geführten MNB Nord ist bisher gescheitert.) Die MNB Südwest umfasst 10.600 Soldaten (2% Frauen) aus 11 Nationen mit sieben Einsatzverbänden (Task Forces), davon 3 italienisch, je 1 spanisch, österreichisch, türkisch und deutsch geführt. Die „dt.“ TF Prizren umfasst 2 deutsche und eine türkische Kompanie mit insgesamt 657 Soldaten. KFOR-SW demonstriert seine Multinationalität offensiv gegenüber einheimischem Nationalismus: „ Wir sind elf Nationen mit verschiedenen Hautfarben, Religionen und Sprachen.“

Sicherheitslage im Sektor SW: potentielle Bedrohungen seien eher lokal begrenzt; Serben können sich frei bewegen, gegen Autos mit serbischen Kennzeichen gebe es keine Übergriffe mehr. Hauptproblem sei inzwischen das subjektive Sicherheitsgefühl. Von den insgesamt 800.000 Einwohnern im Sektor waren 50.000 Serben, von denen 2.000 hier (wieder) leben. Es sind fast nur Ältere. Manche „antiserbischen“ Vorfälle seien wohl inszeniert. Ein Rückkehrerprojekt muss allerdings noch von 200 Soldaten bewacht werden. Eine generelle Bewertung der Gefährdungslage für Minderheiten im gesamten Kosovo ist nicht möglich. Die Situation für Rückkehrer muss immer im Einzelfall beurteilt werden.

Grenzüberschreitende organisierte Kriminalität und mit ihr oft eng verbundene extremistische und gewaltbereite Kreise gefährden die Stabilität. Eine besondere Rolle spielt der Drogen-, Waffen-, Menschen- und Zigarettenhandel. Prizren sei Drehscheibe des Frauenhandels nach Deutschland, hier würden sie auf den deutschen Markt „vorbereitet“.

Die Frage des künftigen Status des Kosovo sei äußerst sensibel. Jeder Anschein eines auch nur lockeren Wiederanschlusses an Serbien würde die Situation erheblich verschärfen.

Insgesamt sei die Lage ruhig, aber noch nicht stabil. Das Eis, „auf dem wir uns bewegen, hält wohl, ist aber noch dünn und brüchig.“

Hauptaufgaben im Sektor Südwest, der fast die Hälfte des Kosovo umfasst und zu einem Drittel aus Hochgebirge besteht:

- Grenzüberwachung vor allem im südlichen Zipfel, durch dessen sehr schwieriges Hochgebirgsgelände (2.000-2.500 m) Schmuggelrouten zwischen Albanien und Mazedonien verlaufen. Hier sind Gebirgsjäger jeweils für 72-Stunden im Einsatz. Hierbei kommt auch die Aufklärungsdrohne „Luna“ zum Einsatz, die kürzlich von den VN für die Irak-Inspektionen angefragt wurde;

- Raumüberwachung mit Patrouillen zu Fuß und motorisiert (1000 bzw. 400/Monat), temporären Checkpoints;

- Durchsuchungsaktionen nach Waffen, Munition und Sprengstoffen;

Eskorten von täglich 8-10 Gruppen über unterschiedlichste Entfernungen, z.T. mit Polizei;

- Bewachung von Objekten;

- Zivil-Militärische Zusammenarbeit und Unterstützung ziviler Aufbauprojekte im Rahmen von CIMIC (civil-military-cooperation);

- Zusammenarbeit mit UNMIK, UNHCR, OSZE, NGO`s;

- Ausbildungshilfe für das Kosovo Protection Corps (KPC) ausdrücklich nur beim Katastrophenschutz und keinerlei militärisches Training.

Insgesamt werden immer mehr Aufgaben an die UNMIK-Polizei bzw. Kosovo-Police abgetreten – so ein Teil der Grenzposten, Bewachung von Stätten des Kulturerbes und anderer Plätze, Begleitschutz.

Die Aufgabenverlagerung verändert das Fähigkeitsprofil von KFOR hin zu „leichteren“ Kräften.

Task Force Prizren

Ein Zug (ca. 30 Soldaten) ist zuständig für die Altstadt, einer für die Neustadt. Besuch der Moschee und des von KFOR bewachten orthodoxen Bischofssitzes. Der Checkpoint am Übergang zum serbischen Viertel am Hang („Fuchsbrücke“) wurde kürzlich von KFOR an die Stadtverwaltung übertragen. Der Zugang ist nur mit Sondererlaubnis möglich. Früher wohnten hier ca. 700 Serben, heute noch acht – und eine albanische Familie. Die Häuser sind z.T. zerstört, viele zerfallen und verrottet, manche wg. Minen gesperrt. Die Patrouille geht durch das ehemals idyllische Viertel vorbei an deutsch-türkischen Posten hinauf zum Beobachtungspunkt „Auge“ vor einer Kirche. Von dort freier Blick hinab auf Alt- und Neustadt, wo eine Moschee, katholische und orthodoxe Kirche in Sichtweite zueinander stehen. Ein Zug ist hier jeweils über 96 Stunden im Einsatz.

Logistiklager Airfield

Ca. 1000 Soldaten des Logistik-Bataillons arbeiten hier. Auf dem riesigen Areal türmen sich Massen an Fracht- und Unterkunftscontainern. In den Werkstatthallen werden Fahrzeuge des Kontingents instand gehalten und repariert. Das Feldlager vermittelt einen Eindruck davon, welcher enorme technische und logistische Aufwand notwendig ist, um die autarke Einsatzbereitschaft eines Bundeswehrkontingents von einigen tausend Soldaten, von 108 „Füchsen“,   12 Kampfpanzern Leopard und einem Vielfachen an Fahrzeugen zu gewährleisten. Hier sieht man plastisch die Kosten eines Militäreinsatzes.

 

Wiederaufbau

Die Stromversorgung durch ein Kraftwerk vor Ort ist mangelhaft. In Prizren fällt alle drei Stunden der Strom aus, während er im „Raumschiff“ des Feldlagers an bleibe. Deshalb habe man bei einem Kontingentwechsel alle Generatoren hier gelassen.

Man habe sehr fleißige und gewitzte Jugendliche kennen gelernt und an jeder Schule Schüler mit perfektem Deutsch getroffen. Nach der Schule heiße es: „nur weg!“

Niemand kümmere sich um den Aufbau eines Berufsschulwesens. Prizren könne da Modellprojekt werden.

Mit den NGO`s gibt es 14-tägige Besprechungen. 1999 habe es einige Distanz gegeben. Das habe sich inzwischen völlig gedreht. Die Zahl der Hilfsorganisationen sei inzwischen unter 300 gesunken, vor allem kleinere und besonders spendenabhängige seien gegangen. Größere seien durchhaltefähiger.

CIMIC wird von der CIMIC-Kompanie sowie einzelnen Verbänden mit unterschiedlichen Projekten praktiziert, z.B. Patenschaft einer Kompanie für einen multiethnischen Kindergarten, Organisation eines Jugendfußballturniers. CIMIC sei ein enormes Aushängeschild der Bundeswehr. Sie habe dadurch einen besseren Draht zur Bevölkerung. Für die Soldaten scheint CIMIC zugleich der Hoffnungsfunke für einen Entspannungs- und Friedensprozess zu sein. Bei dem italienischen und spanischen Kontingent sei die CIMIC-Komponente viel schmaler. Die US-Streitkräfte hätten von vorneherein ganz andere Schwerpunkte, halten auch hier ihre Kriegsführungsfähigkeit voll aufrecht, veranstalten Gefechtsschießen ... (Die US-Army schließt übrigens in 2003 ihr Paecekeeping-Zentrum.)

Rückkehrerprojekte

Im Sektor Südwest gibt es fünf größere Rückkehrerprojekte, darunter Novake 15 km nördlich von Prizren.

Mit dem schnellen (Rad-)Transportpanzer Fuchs (8 Plätze, MG-Bewaffnung, Zusatzschutz gegen Minen) in ca. 20 Minuten zu dem ehemaligen serbischen Dorf Novake. Als sich nach dem KFOR-Einmarsch das Gerücht verbreitete, die Albaner kämen, ergriffen die ca. 700 Einwohner die Flucht. Die Bewohner umliegender katholisch-albanischer Dörfer überfielen dann das Dorf, demolierten und plünderten es bis auf die Grundmauern. Ziegel und Elektroleitungen wurden herausgerissen, der Friedhof geschändet.

UNMIK, UNHCR entwickelten hier ein großes Rückkehrerprojekt, die Bundeswehr ist mit einem vom BMZ-finanzierten CIMIC-Projekt dabei. Vor wenigen Monaten gab es einen ersten Besuch ehemaliger Dorfbewohner. Zum vereinbarten Folgetermin erschien niemand. Es besteht der Verdacht, dass Belgrad gar kein Interesse an der Rückkehr hat – um das Thema am Kochen zu halten. Wenn sich bis Februar seitens der ursprünglichen Bewohner nichts tut, werden die eingeplanten Wiederaufbaugelder anderweitig verwandt. (Grundsatz ist, mit Aufbaumaßnahmen erst zu beginnen, wenn zumindest erste Männer zurückgekehrt sind.)

Unterwegs begegnen uns größere Hunderudel, die Menschen und sogar Fahrzeuge anfallen können.

Kosovo Protection Corps

Im KPC wächst das Selbstverständnis einer künftigen Kosovo-Armee. Dem leisten geringe Bezahlung, unzureichende Ausstattung und fehlende Ausbildung in der Kernaufgabe Katastrophenschutz Vorschub. Das THW könne Ausbildungshilfe für KPC-Führer leisten. Ein entsprechender Antrag des dt. KFOR-Kommandeurs vom 28.7.02 sei vom Bundesinnenministerium wg. Geldmangel abgelehnt worden. Die Türkei, skandinavische Länder, ja auch Südafrika verhielten sich da anders. Deutschland müsse hier mehr tun!

Arbeits- und Lebensbedingungen der KFOR-Angehörigen

Das Feldlager Prizren war länger ein Containerdorf und ist inzwischen ein regelrechtes  Stadtviertel mit vielen mehrstöckigen Unterkunftsgebäuden. Den 4-Personen-Stuben sind relativ wenige Duschen zugeordnet. (Wir Abgeordnete übernachten in Unterkunftscontainer mit jeweils vier Betten. So lässt sich die Enge ein wenig nachempfinden. Das Private reduziert sich auf Flächen über dem Bett oder Computer, CD-Player, Bilder auf einem Tisch.) Im großen Sportzelt stehen zig Fitnessgeräte.

Die Soldaten haben nur freitag- und sonntagabends gruppenweise in Begleitung eines Feldwebeldienstgrades Ausgang. Im Feldlager gibt es acht Kneipen der verschiedenen Nationen, z.T. mit Biergärten. Im „Grünen Husar“ des dt. Kontingents geht am heutigen Freitagabend bei Stimmungsmusik die Post ab. Viele Soldaten tragen ihre Waffe auf dem Rücken. Im dichten Gedränge tummeln sich auch wenige Soldatinnen. Hinterm Tresen bedienen einige charmante Kosovarinnen. Ein Hauptfeldwebel führt die Aufsicht. Die Atmosphäre ist ausgesprochen freundlich und bleibt ohne Betrunkenheitsausfälle. Mitten drin unter den Kneipenbesuchern mehrere deutsche Polizisten von der UNMIK-Polizeistation Prizren. Sie loben die Zusammenarbeit mit der Bundeswehr und vor allem mit den Feldjägern in hohen Tönen.

Hauptthemen in Gesprächen mit den Soldaten sind die Stehzeiten, wo die jetzigen sechs Monate einmütig für zu lange empfunden werden, die sehr unterschiedlich funktionierende Familienbetreuung an den Heimatstandorten, die Auslandsverwendungszulage, die vor allem auch Erschwerniszulage sein sollte, und die vermutliche weitere Dauer des Kosovo-Einsatzes, wozu ernüchternde Einschätzungen geäußert werden. In Einzelgesprächen kommt deutlich die Sprache auf Sexualität im Einsatz: Das Thema werde von der Führung völlig verdrängt. Man meine wohl, die Soldaten würden sich zu Einsatzbeginn das Geschlechtsteil ab- und nach sechs Monaten wieder anschnallen.

(Die Einzelgespräche sind aufschlussreich, aber noch zu zufällig, als dass ein Vergleich mit der jüngsten Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr über die Motivationslage beim KFOR-Einsatz möglich wäre. Die Untersuchung zum 2. KFOR-Kontingent hatte ergeben, dass im Laufe des Einsatzes das Vertrauen in Vorgesetzte und die Einsicht in den Sinn des Einsatzes deutlich nachgelassen hatte, dass das dichte Zusammenleben mehr Probleme brachte als den Zusammenhalt förderte, dass der KFOR-Einsatz die allgemeine Dienstmotivation eher minderte.)